Elftes Kapitel.
Die Strandräuber.

[131] Ein Dutzend Mann waren sie zur Stelle, Kongre und Carcante mit ihnen, alle angelockt durch die Aussicht auf einen erfolgreichen Raubzug.

Am Abend des vergangenen Tages, als die Sonne eben unter dem Horizonte verschwinden sollte, hatte Carcante von der Galerie des Leuchtturmes aus den von Osten heransegelnden Dreimaster beobachtet. Kongre, dem er das Auftauchen des Schiffes gemeldet hatte, glaubte, dieses wolle auf der Flucht vor dem Sturme die Le Mairestraße zu erreichen und an der Westküste der Insel Schutz suchen. Soweit es das Tageslicht gestattete, folgte er seinen Bewegungen, und als es finster geworden war, konnte er noch die Positionslichter des Fahrzeuges sehen. Er erkannte auch, daß seine Bemastung und Takelage arg beschädigt waren, und hoffte, daß es hier an dem ihm unsichtbaren Lande stranden werde. Hätte Kongre die Lampen des Leuchtturmes anzünden lassen, so wäre jede Gefahr ausgeschlossen gewesen. Das zu tun hütete er sich aber wohlweislich, und als die Bordlaternen der ›Century‹ erloschen, war er überzeugt, daß diese zwischen dem Kap Sankt-Johann und der Severalspitze mit Mann und Maus zugrunde gegangen sei.

Auch am folgenden Morgen tobte der Sturm noch mit ungebrochner Kraft. Es wäre ganz unmöglich gewesen, sich mit der Goelette hinauszuwagen. Eine Verzögerung war nicht zu vermeiden, eine Verzögerung, die recht gut mehrere Tage dauern konnte, und das machte bei dem nun drohenden Eintreffen der Ablösung die Lage immer ernster. So sehr Kongre und seine Leute auch darüber murrten, es blieb ihnen nichts übrig als zu warten, zu warten um jeden Preis. Übrigens war heute erst der 19. Februar. Bis zum Ende des Monats mußte sich das Unwetter doch wohl ausgetobt haben, und beim ersten Zeichen der Besserung sollte die ›Carcante‹ die Anker lichten und in See gehen.

Da jetzt aber noch ein Fahrzeug auf die Küstenklippen geworfen worden war, bot sich eine zu gute Gelegenheit, aus dem Schiffbruche Nutzen zu ziehen, von den Trümmern zusammenzuraffen, was irgend wertvoll erschien, und damit[131] den Wert der Ladung zu erhöhen, die die Goelette mitnehmen sollte. Die Vermehrung der Beute konnte doch einigermaßen als Ausgleich für die durch die Verzögerung erhöhte Gefahr angesehen werden.

Die betreffende Frage wurde gar nicht weiter erörtert. Man hätte sagen können, daß dieser Schwarm von Raubvögeln wie mit einem einzigen Flügelpaare aufflatterte. Die Schaluppe wurde unverzüglich zur Abfahrt klar gemacht, und ein Dutzend der Leute mit ihrem Führer nahmen darin Platz. Freilich mußte mit aller Kraft gegen den Wind angerudert werden, der mit außerordentlicher Gewalt wehte und das Wasser von außen in die Bucht hineinwälzte. Anderthalb Stunden genügten jedoch, das äußerste Ufer zu erreichen, und später mußte die Rückfahrt mit Hilfe des Segels desto schneller von statten gehen.

Der Höhle gegenüber stieß die Schaluppe im Norden der Bucht ans Land. Alle stiegen aus und eilten dem Schauplatze des Schiffbruchs zu.

In diesem Augenblick war es, wo verschiedene Rufe das Gespräch zwischen Vasquez und John Davis jäh unterbrochen hatten.

Sofort kroch der Turmwärter mehr als er ging nach dem Eingange der Höhle, natürlich immer mit der Vorsicht, sich nicht sehen zu lassen.

Einen Augenblick später stand auch John Davis neben ihm.

»Wie... ihr? sagte Vasquez. Nein, laßt mich allein hier; ihr bedürft noch der Ruhe.

– O nein, erwiderte John Davis, ich bin jetzt wieder völlig wohl... nein, ich muß diese Bande von Räubern auch einmal sehen.«

Ein energischer Mann war es entschieden, dieser Obersteuermann von der ›Century‹, von nicht wenigerschnellem Entschlusse als Vasquez, ein Sohn Amerikas mit eisernem Temperamente, der, wie man im Volke zu sagen pflegte, »eine mit dem Leibe verbolzte Seele« haben mußte, so daß sich auch nach dem Schiffbruche die eine nicht von dem andern trennen konnte.

Gleichzeitig war er ein vortrefflicher Seemann. Vor seinem Übertritte zur Handelsflotte hatte er als Oberbootsmann in der Flotte der Vereinigten Staaten gedient, und jetzt, wo Harry Steward, der Kapitän der ›Century‹, sich nach der Rückkehr nach Mobile zur Ruhe zu setzen gedachte, wollten die Reeder des Schiffes ihm dessen Führung anvertrauen.

Dieses Zusammentreffen war für ihn ein weiterer Grund gerechtfertigten Zornes. Von dem Schiffe, das er bald hätte als Kapitän übernehmen sollen, sah er nur noch formlose Trümmer, und diese obendrein in der Gewalt einer[132] Räuberbande. Wenn Vasquez einer Anfeuerung seines Mutes bedurfte... Davis war dazu der geeignete Mann.

Doch so entschlossen, so mutig und tüchtig auch beide waren, was hätten sie gegen Kongre und seine Rotte von Spießgesellen ausrichten können?

Hinter Felsblöcken versteckt, behielten Vasquez und John Davis das Ufer bis zum Ausläufer des Kaps Sankt-Johann scharf im Auge.

Kongre, Carcante und die Übrigen waren zuerst an dem Küstenwinkel stehen geblieben, wohin der Orkan die eine Rumpfhälfte der ›Century‹ geworfen hatte, die jetzt zu Stücken zerschmettert nahe dem Fuße des Steilufers lag.

Die Raubgesellen befanden sich weniger als zweihundert Schritt weit von der Höhle, so daß man ihre Gesichter recht gut erkennen konnte. Sie waren mit Röcken aus Wachsleinwand bekleidet, die an der Taille fest anschlossen, um dem Winde weniger Angriffsfläche zu bieten, und auf dem Kopfe trugen sie Südwester, die am Kinn mit einer starken Lasche befestigt waren. Es war deutlich zu sehen, daß sie sich gegen die wütenden Windstöße nur mit Mühe aufrecht erhalten konnten, denn wiederholt mußten sie sich hinter einem Trümmerstück oder einem Felsblocke niederbeugen, um nicht umgeworfen zu werden.

Vasquez bezeichnete John Davis die darunter, die er von ihrem ersten Besuche der Höhle her kannte.

»Der Große dort, sagte er, der neben dem Vordersteven der ›Century‹, den nannten sie Kongre.

– Ist das ihr Anführer?

– Ohne Zweifel.

– Und der Mann, mit dem er spricht?

– Das ist Carcante, wie es scheint, sein Obersteuermann, und, wie ich vom Turme aus sehen konnte, einer von denen, die meine Kameraden ermordet haben.

– Und ihr... ihr würdet ihm gern den Schädel einschlagen, meinte John Davis.

– Ihm und seinem Vorgesetzten... wie einem Paare tollwütiger Hunde!« antwortete Vasquez.

Fast eine Stunde ging darüber hin, ehe die Räuber diesen Teil des Rumpfes vollständig durchsucht hatten, worin sie keinen Winkel unbeachtet ließen. Das Nickelerz, die Hauptladung der ›Century‹, womit sie nichts anzufangen wußten, sollte auf dem Strande liegen gelassen werden. Das andre auf dem Dreimaster[133] verstreute Stückgut enthielt aber vielleicht Gegenstände, die ihnen willkommen waren. In der Tat sah man sie bald zwei oder drei größere Kisten und verschiedene Ballen herausschaffen, die Kongre auf die Schaluppe bringen ließ.

»Wenn die Schandbuben nach Gold, Silber, nach sonstigen Wertstücken oder nach Piastern suchen, werden sie sich gründlich täuschen, sagte John Davis.

– Ja, und gerade dergleichen würden sie am liebsten finden, antwortete Vasquez. Davon hatten sie nicht wenig in der Höhle versteckt, und die Schiffe, die hier gescheitert sind, müssen eine ziemliche Menge von Kostbarkeiten aller Art mitgeführt haben. Ihr könnt mir glauben, Davis, daß die Goelette in ihrer Fracht recht ansehnliche Schätze birgt.

– Und ich begreife, erwiderte dieser, daß sie es jetzt eilig haben, ihren Raub in Sicherheit zu bringen. Vielleicht gelingt ihnen das aber doch nicht!

– Dann müßte das schlechte Wetter freilich noch vierzehn Tage anhalten, bemerkte dazu Vasquez.

– Wenn es uns nicht auf andre Weise gelingt...«

John Davis sprach seinen Gedanken nicht weiter aus. Und doch, wie sollte es möglich sein, die Goelette am Auslaufen zu hindern, wenn der Sturm seine Kraft erschöpft, das Wetter sich wieder gebessert hätte und wenn das Meer wieder ruhig geworden wäre?

Die Räuber wendeten sich eben von der einen Rumpfhälfte des Fahrzeugs der andern auf der eigentlichen Stelle des Schiffbruchs zu, die vorn an der Spitze des Kaps lag.

Von ihrem Verstecke aus konnten Vasquez und John Davis sie noch, wenn auch in etwas größerer Entfernung, beobachten.

Die Ebbe fiel weiter. Obgleich das Wasser vom Sturme zurückgedrängt wurde, trat doch schon eine große Strecke des Klippengürtels zutage; dadurch wurde es wesentlich erleichtert, zum Rumpfe des Wracks vorzudringen.

Kongre und zwei oder drei andre verschwanden bald in dessen Innerm, und zwar an der Rückseite des Fahrzeugs, wo sich – wie John Davis dem Turmwärter sagte – die Kambüse befand.

Jedenfalls war diese Kambüse von den überschlagenden Wellen ziemlich weit zerstört worden; immer hin konnte sich darin noch eine gewisse Menge Proviant in unbeschädigtem Zustande vorfinden.

Wirklich brachten einige der Männer daraus Kisten mit Konserven und auch Fässer und Tönnchen heraus, die sie dann über den Sand hinwegrollten und[134] in die Schaluppe schafften. Auch Pakete mit Kleidungsstücken wurden aus dem halbzerstörten Deckhause getragen und ebendahin befördert.

Die Nachsuchungen dauerten gegen zwei Stunden, dann schlugen Carcante und zwei von den andern Leuten mit Äxten auf das Hackbord los, das infolge der Neigung des Schiffes nur zwei bis drei Fuß über dem Erdboden lag.

»Was machen denn die Drei da? fragte Vasquez. Ist denn das Fahrzeug nicht schon genug zerstört? Warum, zum Teufel, es damit noch weiter treiben?

– O, mir ahnt, was sie beabsichtigen, antwortete John Davis, jedenfalls soll davon nichts mehr von seinem Namen und seiner Nationalität erkennbar bleiben, damit niemand erfahren könne, daß die ›Century‹ in dieser Gegend des Atlantischen Ozeans zugrunde gegangen ist.«

John Davis täuschte sich hierin nicht. Nur wenige Minuten später trat Kongre aus dem Deckhause mit der amerikanischen Flagge in der Hand, die er in der Kabine des Kapitäns gefunden hatte und die er in tausend Fetzen zerriß.

»Ah, der Schurke! rief John Davis, die Flagge... die Flagge meines Vaterlandes!«

Vasquez gelang es kaum noch, ihn am Arme zurückzuhalten, als Davis auf den Strand hinausstürzen wollte.

Nach vollendeter Plünderung – die Schaluppe mußte eine schwere Last zu tragen haben – wendeten sich Kongre und Carcante dem Fuße des Steilufers zu. Hin und her gehend, kamen sie zwei- oder dreimal vor den zwei Felsensäulen vorüber, hinter denen die Grotte lag. Vasquez und John Davis konnten dabei verstehen, was sie sprachen.

»Es wird immer noch unmöglich sein, morgen auszulaufen.

– Ja freilich; ich fürchte sogar, daß das Unwetter noch mehrere Tage anhält.

– Nun, wir haben ja durch die Verzögerung nichts verloren...

– Das wohl, doch ich hoffte, in einem Amerikaner von diesem Tonnengehalte noch mehr zu finden. Der letzte, den wir auf die Klippen verlockt haben, brachte uns fünfzigtausend Dollars ein.

– Ja, Schiffbrüche folgen einer auf den andern, sie gleichen einander aber nicht, entgegnete Carcante mit philosophischem Gleichmute. Hier haben wir's mit armen Teufeln zu tun gehabt... das ist alles!«

John Davis hatte in seiner Wut einen Revolver erhoben und hätte in überschäumendem Zorne dem Anführer der Bande den Schädel zerschmettert,[135] wenn es Vasquez nicht gelungen wäre, ihn im letzten Augenblicke noch einmal zurückzuhalten.

»Ja, ihr habt recht, sagte John Davis etwas beruhigter. Ich kann aber den Gedanken nicht los werden, daß diese elenden Schurken unbestraft bleiben sollten. Und doch... wenn ihre Goelette die Insel einmal verlassen hat, wo könnte man sie wiederfinden, wo die Räuberrotte verfolgen?

– Der Sturm scheint sich noch nicht zu legen, bemerkte Vasquez. Selbst wenn der Wind stiege (d. h. von Süden nach Norden umschlüge), bliebe das Meer noch tagelang stark aufgewühlt. Nein, glaubt mir nur, sie sind vorläufig noch nicht fort von hier.

– Gewiß, Vasquez; doch eurer Rede nach wird der Aviso vor Anfang nächsten Monats nicht hier eintreffen.

– Vielleicht auch etwas eher, Davis, wer kann das wissen?

– Gott geb' es, Vasquez, Gott geb' es!«

Augenscheinlich nahm die Gewalt des Sturmes jetzt noch nicht im geringsten ab, und unter dieser Breite dauern derartige atmosphärische Störungen selbst in der guten Jahreszeit zuweilen volle vierzehn Tage an. Blies der Wind von Süden, so führte er die Dünste des antarktischen Eismeers herauf, und dann trat auch sehr bald eine winterliche Witterung ein. Schon mußten die Walfänger daran denken, die Polargegenden zu verlassen, denn vom März an bildet sich vor der Packeiswand bereits das neue Eis.

Trotzdem war zu befürchten, daß in der Atmosphäre binnen vier bis fünf Tagen Ruhe eintreten würde, die die Goelette dann jedenfalls zum Auslaufen benutzte.

Es war vier Uhr geworden, als Kongre und seine Leute sich wieder einschifften. Das Segel gehißt, verschwand die Schaluppe, die dem nördlichen Ufer folgte, schon nach sehr kurzer Zeit.

Gegen Abend verschlimmerten sich noch die Windstöße. Ein kalter, schneidender Regen strömte von den aus Südwesten herausgezogenen Wolken hernieder.

Vasquez und John Davis konnten ihre Höhle nicht verlassen. Die Kälte wurde so empfindlich, daß sie Feuer anzünden mußten, sich zu erwärmen; das taten sie tief im Hintergrunde der engen Grotte. Da das Ufergelände leer und es schon sehr dunkel war, hatten sie dabei nichts zu fürchten.

Eine schreckliche Nacht! Das Meer schlug bis an den Fuß des Steilufers heran. Man hätte glauben mögen, daß sich ein Mascaret (eine riesige Welle, die[136] in manche Flüsse urplötzlich eindringt) oder ein mächtiger Springflutstrom über die Küste der Insel hinwälzte.


Man sah sie verschiedene Kisten und Ballen herausschaffen. (S. 134.)
Man sah sie verschiedene Kisten und Ballen herausschaffen. (S. 134.)

Dabei brauste der Sturm heulend bis zum Hintergrunde der Bucht hinein, so daß Kongre die größte Mühe hatte, die ›Carcante‹ an ihrem Ankerplatz zu halten.

»Wenn sie dabei doch in Stücke ginge, rief John Davis wiederholt, damit ihre Trümmer mit der nächsten Ebbe ins Meer hinausgespült würden!«

Vom Rumpfe der ›Century‹ waren am nächsten Morgen nur noch Trümmer übrig, die zwischen den Felsen eingekeilt oder auf dem Strande zerstreut umherlagen.[137]

Vasquez und sein Gefährte beeilten sich, beim ersten Morgengrauen zu entdecken, ob der Sturm nun wohl den Gipfel seiner Heftigkeit erreicht hätte.

Nein, das war noch nicht der Fall. Es erschien fast unmöglich, sich einen solchen Aufruhr der Elemente vorzustellen. Das Wasser vom Himmel vereinigte sich tatsächlich mit dem vom Meere. Auch den ganzen Tag und die darauffolgende Nacht trat hierin keine Änderung ein. Im Laufe dieser achtundvierzig Stunden zeigte sich kein Schiff in der Nähe der Insel, denn selbstverständlich hielten sich alle Seefahrer um jeden Preis fern von diesen gefährlichen Küsten des Magellanslandes, die den Sturm sozusagen aus erster Hand bekamen. Weder in der Magellans- noch in der Le Mairestraße hätten sie vor der Wut eines solchen Orkans genügenden Schutz gefunden. Ihr Heil lag einzig in der Flucht und sie mußten die freie Meeresfläche vor ihrem Steven zu behalten suchen.

Wie John Davis und Vasquez es vorausgesehen hatten, war der Rumpf der ›Century‹ vollständig zerschlagen, und zahllose Trümmer davon bedeckten den Strand bis zum Grunde des Steilufers.

Glücklicherweise brauchte die Frage nach ihrer Ernährung Vasquez und seinem Gefährten keine Sorge zu machen. Mit den aus der ›Century‹ herrührenden Konserven hätten sie sich auch einen Monat lang bequem sättigen können. Bis dahin, vielleicht schon in zehn bis zwölf Tagen, mußte die ›Santa-Fé‹ aber in Sicht der Insel aufgetaucht sein. Das schreckliche Unwetter war dann jedenfalls vorüber, und dem Aviso konnte es keine Schwierigkeit bereiten, das Kap Sankt-Johann zu erkennen.

Von dem so sehnsüchtig erwarteten Fahrzeuge sprachen die Beiden sehr häufig.

»Möchte nur der Sturm andauern, um die Goelette am Auslaufen zu verhindern, nur so lange, bis die ›Santa-Fé‹ hier eingetroffen ist, das ist mein einzigster Wunsch! rief Vasquez seinem Genossen zu.

– O, erwiderte John Davis, wenn wir über Wind und Wasser zu gebieten hätten, wäre das eine leichte Sache.

– Leider liegt das aber allein in Gottes Hand.

– Er wird jedoch nicht wollen, daß diese Elenden der Strafe für ihre Schandtaten entgehen!« versicherte John Davis, der sich annähernd derselben Worte bediente, die Vasquez früher gebraucht hatte.

Beide waren erfüllt von demselben Hasse, demselben Durst nach Vergeltung, beide nährten nur den einen Gedanken: Rache![138]

Am 21. und 22. änderte sich die Lage der Dinge nicht, wenigstens nicht merkbar. Höchstens verriet der Wind Neigung, nach Nordosten umzuschlagen. Nach einer Stunde zeitweiligen Wechselns ging er aber wieder zurück und überschüttete die Insel aufs neue mit seinem Gefolge von Regenströmen und Windstößen.

Natürlich war von Kongre oder einem der Seinigen unter diesen Umständen noch nichts wieder zu sehen gewesen. Diese waren jedenfalls in Anspruch genommen, die Goelette in dem Landeinschnitte, den die vom Sturme noch mehr angeschwellte Flutwoge bis zum Uferrande füllte, vor neuen Havarien zu bewahren.

Am Morgen des 23. besserten sich die Witterungsverhältnisse ein wenig. Nach einigem Schwanken schien der Wind aus Nordnordost stetiger zu werden. Erst seltnere und kleinere, später ausgedehntere helle Stellen legten den südlichen Horizont mehr frei. Der Regen hörte allmählich auf, und wenn auch der heftige Wind fortbestand, so klärte er doch nach und nach den Himmel. Das Meer freilich war noch furchtbar aufgewühlt, und donnernd brachen sich noch immer die Wogenberge am Ufer. Auch der Eingang zur Bucht war kaum befahrbar, und jedenfalls konnte die Goelette weder an diesem noch am nächsten Tage abfahren.

Sollten nun Kongre und Carcante die etwas ruhigere Zeit benutzen, sich nach dem Kap Sankt-Johann zu begeben, um das Meer zu besichtigen? Das war möglich, sogar wahrscheinlich, und deshalb durfte keine Vorsicht vernachlässigt werden.

Gar so früh am Morgen war ihr Erscheinen aber kaum zu erwarten. John Davis und Vasquez wagten sich daraufhin auch aus ihrer Höhle, die sie seit achtundvierzig Stunden nicht verlassen hatten.

»Wird sich der Wind, wie er jetzt ist, halten? fragte Vasquez.

– Das fürchte ich, antwortete John Davis, den sein seemännischer Instinkt kaum jemals täuschte. Wir hätten aber noch zehn Tage schlechtes Wetter behalten müssen... zehn Tage... und nun wird das nicht der Fall sein.«

Mit gekreuzten Armen dastehend, betrachtete er den Himmel und das Meer.

Da sich Vasquez aber einige Schritte weit entfernt hatte, ging er ihm längs der Uferwand nach.

Plötzlich stieß er mit dem Fuße nahe an einem Felsblocke an einen halb im Sande begrabenen Gegenstand, der dabei einen metallischen Klang hören[139] ließ. Er bückte sich und erkannte sofort einen Behälter von seinem Schiffe, der sowohl Pulver für Gewehre, als auch solches für die vier Karonaden enthielt, die die ›Century‹ zu Signalschüssen gebraucht hatte.

»Wir können leider nichts damit anfangen, sagte er. Ach, wenn es möglich wäre, das im Rumpfe der Goelette zu entzünden, die jene Raubgesellen trägt!

– Daran ist nicht zu denken, antwortete Vasquez mit Kopfschütteln. Doch gleichviel, ich nehme die Eisenkiste auf dem Rückwege mit und bringe sie in Schutz in der Höhle.«

Beide gingen auf dem Strande weiter und wandten sich dann dem Kap zu, bis zu dessen Ende sie aber nicht vordringen konnten, so wütend stürmten, jetzt zur Zeit der Flut, die Wogen daran heraus. Da bemerkte Vasquez in einer Felsenspalte eins der kleinen Feuerrohre, das nach dem Schiffbruche der ›Century‹ samt seiner Lafette bis hierher gerollt worden war.

»Da... das gehört euch, sagte er zu John Davis, ebenso wie die Kugeln, die die Wellen dorthin gewälzt haben.«

Und wie das erste Mal äußerte John Davis darauf nur:

»Wir können leider nichts damit anfangen!

– Wer weiß das? entgegnete Vasquez. Da wir nun die Möglichkeit haben, diese Karonade zu laden, bietet sich ja vielleicht Gelegenheit, uns ihrer zu bedienen.

– Das möcht' ich doch bezweifeln, meinte sein Gefährte.

– Ja, warum denn nicht, Davis? Da das Leuchtturmfeuer nicht angezündet wird, könnten wir, wenn ein Schiff in der Nacht der Küste zu nahe käme und sich in derselben Notlage wie die ›Century‹ befände, doch durch einen Kanonenschuß ein Warnungssignal geben.«

John Davis sah seinem Gefährten auffallend fest ins Gesicht. Vielleicht war ihm eben ein ganz andrer Gedanke aufgestiegen. Er antwortete aber nur:

»Also dieser Gedanke ist euch gekommen, Vasquez?

– Jawohl, Davis, und ich meine, daß er nicht schlecht ist. Gewiß würde der Krach auch tief drinnen in der Bucht vernommen werden und würde unsre Anwesenheit auf der Insel verraten. Die Raubgesellen suchten uns dann jedenfalls aufzufinden, sie würden uns schließlich wohl auch entdecken, und damit wäre unser Leben verspielt. Doch wie viele Leben hätten wir mit dem Opfer des unsrigen gerettet, und am Ende hätten wir damit doch nur unsre Pflicht getan![140]

– Es gibt aber vielleicht noch eine andre Art und Weise, unsre Pflicht zu erfüllen«, murmelte John Davis, ohne sich weiter zu erklären. Er erhob jedoch keine weitern Einwendungen, und in Übereinstimmung mit Vasquez wurde das kleine Geschützrohr nach der Höhle geschleppt und dann die Lafette, sowie endlich der Pulverkasten nebst einer Anzahl Kugeln dahin gebracht. Das machte immerhin ziem lich große Mühe und erforderte recht lange Zeit. Als John Davis und Vasquez dann zum letzten Male zurückgekehrt waren, um nun zu frühstücken, erkannten sie an der Höhe der Sonne über dem Horizonte. daß es etwa zehn Uhr sein mochte.

Kaum waren aber beide außer Sicht, als Kongre, Carcante und der Zimmermann Vargas um die Ecke des Steilufers gebogen kamen. Die Schaluppe hätte gegen den Wind und die Flut, die in die Bucht einzuströmen begann, zu schwer anzukämpfen gehabt. So waren die Drei am Ufer hingewandert... diesmal freilich nicht, um zu plündern.

Wie Vasquez es vermutet hatte, hatte sie angesichts des besseren Wetters das Verlangen getrieben, sich über den Zustand des Himmels und des Meeres zu unterrichten. Jedenfalls mußten sie sich dabei überzeugen, daß es für die ›Carcante‹ mit größter Gefahr verknüpft gewesen wäre, schon aus der Bucht auslaufen zu wollen, und daß diese gegen die mächtigen, aus der offenen See heranrollenden Wasserberge nicht hätte ankämpfen können. Ehe sie nach der Meerenge kam oder nur um nach Westen hin zu wenden, wo sie später Rückenwind bekommen hätten, mußte sie um das Kap Sankt-Johann segeln, doch auf die Gefahr hin, dabei zu kentern oder mindestens die schlimmsten Sturzseen überzunehmen.

Das sahen Kongre und Carcante auch ohne weitres ein. An der Strandungsstelle stehend, wo nur noch einzelne Überreste von dem hintern Teile der ›Century‹ umherlagen, konnten sie sich kaum gegen den Wind aufrecht halten.

Die Räuber sprachen lebhaft miteinander, gestikulierten heftig, wiesen mit der Hand nach dem Horizonte und sprangen zuweilen ein Stück zurück, wenn eine zu große schaumgekrönte Welle an der Spitze anbrandete.

Weder Vasquez noch sein Gefährte ließ sie die halbe Stunde, in der sie den Eingang zur Bucht beobachteten, aus den Augen. Endlich brachen sie auf, wandten sich aber noch vielmals um, bis sie an der Ecke des Steilufers verschwanden und den Weg auf den Leuchtturm zu einschlugen.[141]

»Da sind ja die Schurken weg, rief Vasquez. Tausend Millionen Donnerwetter, müßten sie doch noch nach mehreren Tagen wiederkehren, sich das Meer draußen vor der Insel anzusehen!«

John Davis schüttelte dazu mit dem Kopfe. Er erkannte zu gut, daß der Sturm binnen weitern achtundvierzig Stunden ausgetobt haben würde. Dann hatte sich der Wogenschlag, wenn auch noch nicht gänzlich, doch mindestens hinreichend gelegt, der Goelette die Umschiffung des Kaps Sankt-Johann zu gestatten.

Diesen Tag verweilten Vasquez und John Davis größtenteils auf dem Strande. Die Besserung der atmosphärischen Verhältnisse machte weitere Fortschritte. Der Wind hielt sich von Nordnordosten, und ein Schiff würde nicht mehr gezögert haben, die Reffe aus dem Focksegel losbinden und ein Marssegel hissen zu lassen, um auf die Le Mairestraße zuzusteuern.

Als der Abend herankam, zogen sich Vasquez und John Davis in ihre Höhle zurück, wo sie ihren Hunger mit Schiffszwieback nebst Corned-beef und ihren Durst mit Wasser stillten, dem etwas Brandy zugesetzt war. Dann wollte sich Vasquez schon in seine Decke hüllen, als ihn sein Gefährte noch einmal unterbrach.

»Ehe wir schlafen gehen, Vasquez, hört noch einen Vorschlag an, den ich euch zu machen habe.

– So sprecht euch aus, Davis.

– Euch, Vasqurz, verdanke ich mein Leben, und ich möchte nichts unternehmen ohne eure ausdrückliche Zustimmung. Nun möchte ich euch jetzt noch einen Gedanken unterbreiten. Prüft ihn und antwortet mir darauf ohne jede Besorgnis, mich dadurch etwa zu kränken.

– Nun, ich bin ganz Ohr, lieber Davis.

– Das Wetter schlägt um, der Sturm ist vorüber und das Meer wird sich bald beruhigen. Ich erwarte deshalb, daß die Goelette höchstens binnen achtundvierzig Stunden zur Abfahrt bereit sein wird.

– Das ist leider nur zu wahrscheinlich«, erwiderte Vasquez, der seine Worte mit einer Handbewegung begleitete, die seine Ansicht »Leider können wir nichts dagegen tun« ausdrücken sollte.

John Davis nahm wieder das Wort.

»Ja, nach zwei Tagen wird sie hinten in der Bucht erscheinen, wird auslaufen, das Kap umschiffen, wird im Westen verschwinden, in die Meerenge[142] hineinsteuern, und niemand wird sie wieder zu sehen bekommen, eure Kameraden aber, Freund Vasquez, und mein Kapitän, meine Kameraden von der ›Century‹ werden ungerächt sein und bleiben!«...

Vasquez hatte den Kopf gesenkt; als er ihn wieder erhob, sah er John Davis an, dessen Gesicht die letzten flackernden Flammen des Feuers beleuchteten.

Dieser fuhr fort:

»Ein einziger Umstand könnte die Abfahrt der Goelette verhindern oder wenigstens verzögern, bis der Aviso eintrifft: sie müßte durch eine Havarie genötigt werden, tief in die Bucht zurückzukehren. Nun seht, wir haben ja eine Kanone, haben auch Pulver und Geschosse. Da wollen wir doch an der Ecke des Steilufers das Rohr auf seine Lafette legen, wollen es laden, und wenn die Goelette vorübersegelt, jagen wir ihr eine Kugel in die Seite. Wahrscheinlich wird sie deshalb nicht gleich untergehen, auf eine längere Fahrt, die sie jedenfalls vorhat, wird sich ihre Besatzung mit der neuen Havarie aber nicht hinauswagen. Die Schurken werden gezwungen sein, nach der Ankerstelle umzukehren, um den Schaden auszubessern. Sie müssen dazu die Fracht nochmals löschen... das beansprucht vielleicht eine volle Woche, und bis dahin könnte die ›Santa-Fé‹...«

John Davis schwieg; er ergriff die Hand seines Gefährten und drückte sie warm.

Ohne zu zögern, antwortete Vasquez nur:

»So geschehe, was ihr wollt!«

Quelle:
Jules Verne: Der Leuchtturm am Ende der Welt. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1906, S. 131-143.
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