[143] Wie das oft nach starken Stürmen zu beobachten ist, war der Himmel am Morgen des 25. Februar durch Dunstmassen verschleiert. Mit dem Umschlagen des Windes war dieser jedoch abgeflaut und die Zeichen einer weitern Änderung des Wetters traten immer deutlicher hervor.[143]
Am nämlichen Tage war beschlossen worden, daß die Goelette ihren Ankerplatz verlassen sollte, und Kongre ließ alles klar machen, um am Nachmittage auslaufen zu können, da anzunehmen war, daß die Sonne bis dahin den Nebeldunst zerstreut haben würde. Die Ebbe, die gegen sechs Uhr abends einsetzen mußte, erleichterte dann die Ausfahrt aus der Bucht. Gegen sieben Uhr konnte die Goelette auf der Höhe des Kaps Sankt-Johann angelangt sein, und die lange Dämmerung dieser hohen Breiten würde es ihr ermöglichen, das Kap noch hinter sich zu bringen.
Sie hätte auch schon mit der Ebbe am Morgen abfahren können, wenn es da nicht so neblig gewesen wäre. In der Tat war an Bord dazu alles bereit gewesen, die Ladung verstaut und Nahrungsmittel in Überfluß vorhanden, da ja die von der ›Century‹ genommenen ebenso mit eingeschifft waren, wie die, die man aus dem Lagerhause des Leuchtturms herangebracht hatte. In den Nebengebäuden des Leuchtturms waren nur die Möbelstücke und die Werkzeuge zurückgelassen worden, da Kongre seinen fast ohnehin überfüllten Frachtraum damit nicht belasten wollte. Obwohl von einem Teile des frühern Ballastes befreit, tauchte die Goelette jetzt doch um mehrere Zoll über ihre normale Schwimmlinie, und es wäre nicht ratsam gewesen, diese noch weiter zu überschreiten.
Als Carcante kurz nach Mittag innerhalb der Einfriedigung ein wenig auf und ab ging, sagte er zu Kongre:
»Der Nebel beginnt zu steigen, und wir werden draußen auf dem Meere einen klaren Fernblick haben. Mit solchen Dünsten legt sich der Wind gewöhnlich und das Meer beruhigt sich dann sehr schnell.
– Ich glaube auch, daß wir jetzt endlich fortkommen, antwortete Kongre, und daß nichts unsre Fahrt bis zur Meerenge hindert.
– Und darüber hinaus auch nicht, setzte Carcante hinzu. Die Nacht wird freilich recht finster werden, Kongre. Wir haben kaum das erste Mondviertel, und die dünne Sichel wird fast gleichzeitig mit der Sonne untergehen.
– Das tut nichts, Carcante, ich brauche weder Mond noch Sterne, den Weg an der Insel hin zu finden. Die ganze Nordküste ist mir gut bekannt, und ich denke, die kleinen Neujahrsinseln und das Kap Calnett in sichrer Entfernung von ihren Klippen zu umschiffen.
– Morgen, Kongre, sind wir mit dem Rückenwinde und vollen Segeln dann schon weit weg.
– Morgen werden wir bereits das Kap Saint-Bar thelemy aus dem Gesicht verloren haben, und ich hoffe stark darauf, daß am Abend die ganze Stateninsel wenigstens zwanzig Seemeilen hinter uns liegt.
– Das ist auch nicht zu zeitig, Kongre, wenn man die lange Zeit bedenkt, die wir darauf zugebracht haben.
– Bedauerst du's etwa, Carcante?
– Nein, jetzt, wo es vorüber ist, gewiß nicht, denn hier haben wir uns ein Vermögen gemacht, wie man zu sagen pflegt, nun möge ein gutes Schiff uns mit unsern Schätzen davon wegtragen! Alle Teufel, ich hatte aber doch geglaubt, daß alles verloren wäre, als die ›Maule‹... nein, die ›Carcante‹ mit einem Leck in die Bucht einlief. Wenn wir das nicht hätten ausbessern können, wer weiß, wie lange wir dann auf der Insel noch hätten aushalten müssen! Sobald der Aviso eintraf, wären wir da wieder genötigt gewesen, nach dem Kap Saint-Barthelemy zurückzuweichen, und das... wahrlich, das hatte ich schon früher gründlich satt.
– Jawohl, antwortete Kongre, dessen wilde Gesichtszüge sich noch mehr verdüsterten, und unsre Lage wäre auch in andrer Hinsicht eine bedrohtere geworden. Sobald der Kommandant der ›Santa-Fé‹ sah, daß die Turmwärter fehlten, würde er seine Maßregeln getroffen und Nachforschungen veranlaßt haben. Dann wäre die ganze Insel abgesucht und unser Zufluchtsort doch vielleicht entdeckt worden. Außerdem konnte sich ihm ja auch der dritte Wärter, der uns entwischt ist, zugesellen.
– Das war wohl kaum zu befürchten, Kongre; wir haben zwar niemals eine Spur von ihm gefunden, doch wie hätte er, von allen Hilfsmitteln entblößt, die letzten zwei Monate sein Leben fristen können? Es sind ja ziemlich zwei Monate verstrichen, seit die ›Carcante‹ – o, diesmal hab' ich ihren neuen Namen nicht vergessen – in der Elgorbucht vor Anker gegangen war, und wenn dieser wackre Wärter die ganze Zeit über nicht von rohen Fischen und Wurzeln gelebt hat...
– Na, alles in allem, unterbrach ihn Kongre, wir werden vor der Ankunft des Avisos abgefahren sein, das steht fest.
– Nach den Angaben des Leuchtturmjournals kann der vor Verlauf von acht Tagen nicht hier eintreffen, erklärte Carcante.
– Und in acht Tagen. fuhr Kongre fort, sind wir schon weit über das Kap-Horn hinaus und auf dem Wege nach den Salomonsinseln oder den Neuen Hebriden.[147]
– Das hoffe ich auch, Kongre. Ich will nur noch ein letztes Mal nach der Turmgalerie hinausgehen, um Umschau über das Meer zu halten. Wenn gerade ein Schiff in Sicht wäre...
– O, was ficht das uns an? erwiderte Kongre. Der Atlantische und der Stille Ozean gehören jedermann. Die ›Carcante‹ hat ihre Papiere in Ordnung, in dieser Hinsicht, du kannst dich darauf verlassen, ist das Erforderliche geschehen. Selbst wenn die ›Santa-Fé‹ ihr noch an der Einfahrt zur Bucht begegnete, würden wir vor dieser salutieren, denn eine Höflichkeit ist der andern wert!«
Wie sich hieraus ergibt, zweifelte Kongre nicht im geringsten am Gelingen seiner Pläne; es schien vielmehr, als gestaltete sich alles zu seinen Gunsten.
Während sein Kapitän nun nach dem Landeinschnitt hinunterging, erstieg Carcante die Treppe des Turmes und blieb auf dessen Galerie eine Stunde lang auf Ausguck.
Der Himmel war jetzt völlig dunstfrei, und die etwa zwölf Seemeilen zurückliegende Linie des Horizontes zeigte sich in voller Schärfe. Das allerdings noch erregte Meer hatte doch keine sich überstürzenden Wogen mehr, und wenn auch noch eine starke Dünung herrschte, konnte diese der Goelette doch nicht gefährlich werden. Sobald dann die Meerenge erreicht war, kam sie in stilleres Wasser, worauf sie unter dem Schutze des Landes und mit dem Winde im Rücken wie auf einem Strome hinsegeln konnte.
Draußen auf dem offnen Meere war kein Schiff sichtbar, außer einem Dreimaster, der gegen zwei Uhr auf kurze Zeit auftauchte, sich aber in so großer Entfernung hielt, daß Carcante seine Takelung selbst mit dem Fernrohre nicht erkennen konnte. Er steuerte übrigens in nördlicher Richtung, hielt also seinen Kurs nach dem Stillen Ozean ein und verschwand bald auch gänzlich.
Eine Stunde später bemächtigte sich Carcantes jedoch eine gewisse Unruhe und er fragte sich, ob er über deren Ursache Kongre nicht gleich Mitteilung machen sollte.
Im Nordnordosten zeigte sich, wenn auch in weiter Ferne, ein Rauchstreifen; dort befand sich also ein Dampfer, der nach der Stateninsel oder der Küste des Feuerlandes steuerte.
Ein schlechtes Gewissen ist leicht beunruhigt: hier genügte schon die Rauchfahne, Carcante mit peinlicher Angst zu erfüllen.
»Sollte das der Aviso sein?« murmelte er für sich.[148]
Heute schrieb man ja erst den 25. Februar, und die ›Santa-Fé‹ sollte vor den ersten Tagen des März nicht eintreffen. Wenn sie nun aber früher abgefahren war?... Und wenn es sich hier um die ›Santa-Fé‹ handelte, würde sie binnen zwei Stunden vor dem Kap Sankt-Johann liegen... dann war alles verloren... sollten sie auf die Freiheit verzichten, die sie eben zu erlangen hofften, und wieder nach dem Kap Saint-Barthelemy flüchten, dort ein erbärmliches Leben weiterzuführen?
Zu seinen Füßen sah Carcante die Goelette, die graziös hin und her schaukelte, gerade als ob sie seiner spotten wollte. Alles war ja fertig; sie brauchte nur den Anker einzuholen, um abzusegeln. Und doch hätte sie das nicht gekonnt wegen des widrigen Windes und entgegen der ansteigenden Flut, die ihren höchsten Stand erst nach zweiundeinhalb Stunden erreichte.
Es war also unmöglich, vor dem Dampfer die offne See zu gewinnen, und wenn das der Aviso war...
Carcante entrang sich ein halberstickter Fluch. Er wollte jedoch Kongre, der mit den letzten Vorbereitungen beschäftigt war, auf keinen Fall eher stören, als bis er seiner Sache ganz sicher wäre, und so blieb er allein auf der Galerie des Leuchtturms, um den fernern Verlauf der Dinge zu beobachten.
Von der Strömung und dem Winde unterstützt, kam das unbekannte Fahrzeug schnell näher. Sein Kapitän ließ offenbar ein scharfes Feuer unterhalten, denn aus dem Schornstein, den Carcante wegen des dichten Segelwerks noch nicht sehen konnte, wirbelten dicke Rauchwolken hervor. Das Schiff lag ziemlich stark über Steuerbord geneigt. Wenn es dieselbe Geschwindigkeit weiter einhielt, mußte es sich in kurzer Zeit vor dem Kap Sankt-Johann befinden.
Carcante legte das Fernrohr gar nicht mehr aus der Hand, und seine Unruhe wuchs im gleichen Verhältnis mit der Annäherung des Dampfers. Diese verringerte sich bald bis auf wenige Seemeilen, so daß der Rumpf des Fahrzeugs allmählich sichtbar wurde.
Doch gerade als die Befürchtungen Carcantes am schlimmsten waren, sollten sie plötzlich zerstreut werden.
Der Dampfer machte eine Schwenkung, ein Beweis, daß er der Meerenge zusteuern wollte, und damit bot sich Carcante ein Überblick über seine gesamte Takelung.
Es war ein Dampfschiff von zwölf- bis fünfzehnhundert Tonnen, das mit der ›Santa-Fé‹ gar nicht zu verwechseln war.[149]
Carcante kannte, ebenso wie Kongre und dessen Leute, den Aviso gut genug, hatten ihn doch alle während seines längern Verweilens in der Elgorbucht wiederholt gesehen. Er (Carcante) wußte, daß dieser als Goelette getakelt war, der sich nähernde Dampfer war dagegen ein Dreimaster.
Wie erleichtert fühlte sich jetzt Carcante, und wie beglückwünschte er sich, die ganze Räuberbande aus ihrer Ruhe nicht unnütz aufgescheucht zu haben. Noch eine weitre Stunde blieb er auf der Galerie und sah den Dampfer im Norden von der Insel, doch drei bis vier Meilen von ihr entfernt, vorübergleiten, d. h. zu weit von ihm, als daß das Schiff seinen Namen und seinen Heimathafen hätte signalisieren können, ein Signal, das übrigens aus begreiflichem Grunde unbeantwortet geblieben wäre.
Vierzig Minuten später verschwand der Dampfer, der in der Stunde mindestens zwölf Knoten zu laufen schien, hinter der Calnettspitze.
Carcante stieg nun hinab, nachdem er sich überzeugt hatte, daß bis zum Horizonte kein andres Schiff zu sehen war.
Inzwischen kam die Stunde des Gezeitenwechsels heran, und mit ihm sollte die Abfahrt der Goelette erfolgen. Alle Vorarbeiten dazu waren vollendet und die Segel bereit, gehißt zu werden. Einmal in die richtige Lage gebracht, mußten sie den jetzt nach Ostsüdost umgeschlagenen Wind von der Seite bekommen, und die ›Carcante‹ konnte damit bequem zum hohen Meere hinaussteuern.
Um sechs Uhr waren Kongre und die meisten der Leute an Bord. Das Boot brachte noch die, die sich an der Turmeinfriedigung aufgehalten hatten, und dann wurde auch dieses auf seine Ausholer hinausgewunden.
Die Flut begann nun langsam abzulaufen. Schon lag die Stelle trocken, nach der man die Goelette wegen der nötigen Ausbesserungen geschleppt hatte. Auf der andern Seite des Landeinschnittes traten die spitzen obern Teile von Felsblöcken hervor. Der Wind pfiff durch Spalten des Steilufers herein und am Ufer zeigte sich eine leichte Brandung.
Der Augenblick der Abfahrt war gekommen, und Kongre gab Befehl, das Ankerspill zu drehen. Die Kette spannte sich an, knarrte in den Klüsen, und als sie senkrecht lag, wurde der Anker aus dem Grunde gebrochen und auf seine Kranbalken gehoben, wo man ihn für eine bevorstehende längre Fahrt sorgsam festlegte. Danach wurden die Segel eingestellt, und unter ihrem Focksegel, dem Großsegel, dem Mars-, einem Top- und den Klüversegeln begann die[150] Goelette sich mit Backbordhalfen zu wenden und damit dem Meere zuzusteuern.
Da der Wind aus Ostsüdosten kam, mußte die ›Carcante‹ das Kap Sankt-Johann ohne Schwierigkeiten umschiffen können. Übrigens lag auch keine Gefahr darin, daß sie vorläufig sehr nahe am Steilufer hinsegelte.
Kongre wußte das. Er kannte die Bucht vollständig. Am Steuer stehend, ließ er die Goelette ohne Bedenken noch ein Stück beidrehen, um ihre Fahrschnelligkeit so viel wie möglich zu erhöhen.
Die ›Carcante‹ kam im allgemeinen doch nur etwas unregelmäßig vorwärts: langsamer, wenn der Wind zeitweise nachließ, schneller, wenn er ihre Segel straffer aufblähte. Sie überholte jedoch immer den Ebbestrom und ließ einen Kielwasserstreifen hinter sich zurück, ein gutes Zeichen für ihre Schwimmlinie und auch ein günstiges Vorzeichen für die weitere Reise.
Halb sieben Uhr befand sich Kongre nur noch eine Seemeile hinter dem Ende der Bucht und vor ihm breitete sich schon das Meer bis zum Horizont hin aus. Die Sonne sank auf der entgegengesetzten Seite, und bald mußten die Sterne im Zenit aufleuchten, der sich unter dem Schleier der Dämmerung verdunkelte.
Da trat Carcante an Kongre heran.
»Endlich sind wir nun bald aus der Bucht heraus, sagte er mit deutlicher Befriedigung.
– In zwanzig Minuten, antwortete Kongre, werde ich die Schoten nachschießen lassen und das Ruder nach Steuerbord legen, um das Kap Sankt-Johann zu umschiffen.
– Werden wir, in der Meerenge angelangt, vielleicht noch kreuzen müssen?
– Das glaube ich nicht, meinte Kongre. Gleich hinter dem Kap Sankt-Johann wechseln wir die Halsen, und dabei wird es bis zum Kap Horn bleiben können. Wir sind schon ein Stück in das neue Jahr hinein, und deshalb erwarte ich, daß der Wind im allgemeinen eine östliche Richtung behalten wird. In der Meerenge selbst tun wir, was die Umstände erfordern, ich fürchte jedoch nicht, daß wir eine so widrige Brise bekommen, uns gar schleppen lassen zu müssen.«
Wenn Kongre es, wie er hoffte, vermeiden konnte, die Halsen nochmals zu wechseln, gewann er entschieden nicht wenig Zeit. War er dazu gezwungen,[151] so sollten die viereckigen Segel eingebunden, und nur die lateinischen, die Brigantine, die Stag- und die Klüversegel, beibehalten werden.
In diesem Augenblicke rief ein am Kranbalken stehender Mann:
»Achtung... nach vorn!
– Was gibt es denn?« fragte Kongre.
Carcante lief zu dem Manne hin und beugte sich über die Reling hinaus.
»Stopp!... Stopp!... Vorsichtig!« rief er Kongre zu.
Die Goelette schwamm jetzt gegenüber der Höhle, die der Bande so lange als Zufluchtsort gedient hatte.
Nahe bei ihr trieb, von der Strömung dem Meere zu getragen, ein Bruchstück des Kiels von der ›Century‹ hin. Ein Zusammenprall damit hätte üble Folgen haben können, und es war schon hohe Zeit, von dieser Trift klar zu kommen.
Kongre legte das Steuerruder dazu ein wenig nach Backbord um. Die Goelette drehte bei und glitt so längs des Kielstückes hin, das ihren Rumpf nur ganz schwach streifte.
Das kurze Manöver hatte zur Folge, daß die ›Carcante‹ sich dem nördlichen Ufer noch etwas mehr näherte, doch wurde sie baldigst wieder in die frühere Richtung gebracht. Etwa noch zwanzig Toisen, dann war die Ecke des Steilufers passiert und Kongre konnte das Steuerruder nachlassen und einen Kurs nach Norden einschlagen.
In diesem Augenblicke zerriß die Luft ein scharfes Pfeifen und der Rumpf der Goelette erzitterte unter einem Stoße, dem ein donnernder Knall folgte.
Gleichzeitig stieg vom Ufergelände ein weißlicher Rauch auf, der, vom Winde getrieben, nach dem Innern der Bucht abzog.
»Was war das? rief Kongre bestürzt.
– Man hat auf uns geschossen, antwortete Carcante.
– Hier... nimm du das Ruder!« befahl Kongre.
Damit stürmte er schon nach Backbord, und über die Reling hinunterblickend, bemerkte er, kaum einen halben Fuß über der Schwimmlinie, ein Loch in der Schiffswand.
Die ganze Mannschaft war ebenfalls nach derselben Seite am Vorderteil der Goelette geeilt.
Ein Angriff, der von dieser Seite des Ufers erfolgt war!... Eine Kanonenkugel, die im Augenblicke der Abfahrt in die Flanke der ›Carcante‹ eingeschlagen war, und die, wenn sie das Schiff nur etwas tiefer unten getroffen hätte, es unausweichlich hätte zum Sinken bringen müssen. So wie jedermann auf der Goelette über einen solchen Angriff erschrocken war, empfand jeder fast noch mehr die ganz unerwartete Überraschung.
Was konnten aber Kongre und seine Gefährten dagegen tun? Die Seisinge des Bootes schießen lassen, sich einschiffen und vielleicht an das Land eilen, dahin wo der Pulverdampf aufgestiegen war, dort sich derer zu bemächtigen suchen, die den Schuß abgefeuert hatten, oder sie wenigstens von dieser Stelle vertreiben? Doch wußten sie denn, ob die Angreifer ihnen gegenüber nicht in der Mehrzahl wären, und erschien es nicht ratsamer, jetzt nicht vom Schiffe wegzugehen und zuerst den Umfang der Beschädigung zu untersuchen?
Das erwies sich um so dringender, als die Karonade kurz darauf noch einmal Feuer gab. Wieder erhob sich eine Rauchwolke an derselben Stelle. Die Goelette erhielt einen zweiten Stoß... wiederum war sie von einem Geschosse dicht hinter dem ersten getroffen worden.
»Das Ruder in den Wind legen!... Die Segel umstellen!... Fertig zum Wenden!« schrie Kongre, während er nach dem Hinterteile auf Carcante zustürmte, der seinen Befehlen schleunigst nachzukommen bemüht war.
Sobald das Steuer umgelegt war, luvte die Goelette an und neigte sich über Steuerbord. Nach kaum fünf Minuten entfernte sie sich schon von dem gefährlichen Ufer und befand sich bald außer Schußweite von dem Geschütz, das auf sie gerichtet war.
Von einem weitern Schuß war übrigens nichts zu hören. Der Strand lag bis zur Spitze des Kaps öde und verlassen da, man durfte also annehmen, daß sich der Angriff nicht erneuern werde.
Jetzt galt es vor allem, den Zustand des Rumpfes zu untersuchen. Von innen her wäre das kaum ausführbar gewesen, weil dann erst die Fracht umgeladen werden mußte. Nur über eines herrschte von vornherein kein Zweifel: daß die beiden Kugeln die Seitenwand durchschlagen und sich im Frachtraume irgendwo verloren hatten.
Das Boot wurde also klar gemacht, während die ›Carcante‹ gegenbraßte und nur von dem sinkenden Wasser etwas weiter geführt wurde.
Kongre und der Zimmermann stiegen ins Boot hinunter und besichtigten den Rumpf, um zu erkennen, ob die Havarie an Ort und Stelle ausgebessert werden könnte.[155]
Dabei sahen sie, daß zwei etwa vierpfündige Geschosse die Goelette getroffen und die Bordwand durchbohrt und teilweise zerschmettert hatten. Zum Glück waren die lebenswichtigsten Teile des Schiffes verschont geblieben. Die beiden Löcher befanden sich oberhalb des kupfernen Bodenbeschlags und sehr nahe an der Schwimmlinie. Nur wenige Zentimeter weiter unten, und durch die Geschosse wäre ein Leck entstanden, das zu schließen die Besatzung kaum Zeit gefunden hätte. Der Laderaum wäre bald voll Wasser gelaufen und die ›Carcante‹ am Eingange der Bai rettungslos untergegangen.
Ohne Zweifel hätten Kongre und seine Spießgesellen das Ufer noch im Boote erreichen können, die Goelette aber wäre vollständig verloren gewesen.
Gewiß war die Havarie nicht besonders schwer, sie verhinderte die ›Carcante‹ aber immerhin, sich aufs offne Meer zu wagen. Lag sie nach Backbord nur ein wenig geneigt, so mußte das Wasser ins Innere eindringen. Es war also unumgänglich, die zwei durch die Geschosse entstandenen Löcher zu schließen, ehe an eine Fortsetzung der Fahrt zu denken war.
»Wer ist aber der Schurke, der uns diesen Streich gespielt hat? fragte Carcante wiederholt.
– Vielleicht der Turmwärter, der uns entwischt ist! anwortete Vargas. Und vielleicht auch noch ein Überlebender von der ›Century‹, den dieser Wärter gerettet haben mochte. Um Geschosse hinauszuschleudern, muß man aber allemal eine Kanone haben, und die Kanone hier ist doch nicht vom Monde heruntergefallen!
– Natürlich nicht, stimmte ihm Carcante zu. Kein Zweifel, sie rührt vom Dreimaster her. Es ist recht ärgerlich, daß wir sie nicht unter den Trümmern gefunden haben!
– Das kommt hier alles nicht in Betracht, fiel Kongre kurz angebunden ein. Jetzt heißt's nur, so schnell wie möglich reparieren, was zu reparieren ist!«
Tatsächlich konnte es sich im Augenblicke nicht darum handeln, die nähern Umstände bei dem Angriffe auf die Goelette zu erörtern, sondern nur darum, die Ausbesserungen sofort vorzunehmen. Im Notfalle konnte man ja das Schiff nahe an das andre Ufer der Bucht nach der Diegospitze überführen. Dazu hätte eine Stunde genügt. An dieser Stelle wäre es aber den Winden von der Seeseite zu sehr ausgesetzt gewesen, und bis zur Severalspitze fand sich an der Küste sonst kein geschützter Punkt. Beim ersten schlechten Wetter wäre die Goelette auf den Klippen zertrümmert worden. Kongre entschloß sich deshalb, noch denselben[156] Abend nach dem Hintergrund der Elgorbai zurückzukehren, wo die Arbeit in Ruhe und mit größter Beschleunigung ausgeführt werden konnte.
Augenblicklich herrschte jedoch der Ebbestrom, und die Goelette wäre gegen diesen schwerlich aufgekommen. Es mußte also die nächste Flut abgewartet werden, die noch vor Verlauf von drei Stunden einsetzen sollte.
Bei der noch vorhandnen Dünung rollte die ›Carcante‹ jedoch recht bedenklich und kam, von der Strömung fortgetragen, in Gefahr, bis zur Severalspitze getrieben zu werden und sich inzwischen mit Wasser zu füllen. Schon hörte man zuweilen das Gurgeln des Wassers, das bei jeder stärkeren Rollbewegung durch die Schußöffnungen an der Seite eindrang. Kongre mußte sich damit begnügen, einige Kabellängen vor der Diegospitze den Anker hinabsenken zu lassen.
Die Lage gestaltete sich alles in allem recht beunruhigend. Schon kam die Nacht, und bald mußte alles in tiefer Finsternis liegen. Es bedurfte der ganzen gründlichen Kenntnis, die Kongre von der hiesigen Gegend hatte, um eine Strandung auf einem der zahlreichen, der Küste vorgelagerten Risse zu vermeiden.
Gegen zehn Uhr machte sich die Flut endlich bemerkbar. Der Anker wurde wieder an Bord geholt, und noch vor Mitternacht lag die ›Carcante‹, nachdem sie tausend Gefahren glücklich entgangen war, wieder an ihrem alten Ankerplatze tief im Hintergrunde der Elgorbucht.
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