Zehntes Kapitel.
Vogelfrei.

[101] So lautete der an die Regierung der Vereinigten Staaten gerichtete Brief, der ohne Vermittlung der Post im General-Polizeiamt abgeliefert worden war. Die Person, die ihn in der Nacht vom 14. zum 15. Juli dahin gebracht hatte, war von niemand bemerkt worden.

Und doch bewegte sich nach dem Untergange bis zum Wiederaufgange der Sonne eine große Menge ungeduldiger Leute vor dem Polizeiamte hin und her. Wie hätte jemand aber den Überbringer – vielleicht gar den Absender – des Briefes sehen können, wenn dieser in der stockfinsteren Neumondnacht, mit anderen auf dem Trottoir hingedrängt, den Brief in den von außen zugänglichen Kasten steckte? Man konnte ja kaum drei Schritte weit noch etwas erkennen.

Ich habe schon gesagt, daß dieser Brief als Faksimile in den Zeitungen erschien, denen die Behörden ihn schleunigst übermittelt hatten. Man darf aber nicht glauben, daß der davon gemachte Eindruck etwa darauf hinausgelaufen wäre, daß der Brief von jemand herrühre, der sich einen schlechten Spaß erlaubte.

Nein, der Eindruck entsprach völlig dem, den ich empfunden hatte, als mir vor fünf Wochen der Brief vom Great-Eyry zuging. Jetzt hatte mich dieser zwar weniger als früher beschäftigt, und doch veränderte sich allmählich mein Urteil darüber, kurz, ich wußte bald nicht mehr recht, was ich von der Sache denken sollte.

Weder in Washington, noch in sonst einem Teil der Union nahm man, das erscheint ja sehr natürlich, die Angelegenheit – wie man sagt – auf die leichte Achsel, und wenn auch einzelne behauptet hätten, man dürfe den Brief nicht ernst nehmen, so würde doch die große Mehrheit geantwortet haben: »Nein, er rührt nicht von der Hand eines spöttischen Witzboldes her. Der ihn geschrieben hat. ist ohne Zweifel der Erfinder des unangreifbaren Apparates.«

Infolge der leicht begreiflichen Neugier, die alle Geister beherrschte, erschien die Frage überhaupt nicht mehr zweifelhaft: für die vielen seltsamen Tatsachen, zu denen bisher jeder Schlüssel fehlte, hatte man jetzt eine bestimmte Erklärung.

Diese Erklärung lautete wie folgt:[101]

War der Erfinder auch eine Zeitlang verschwunden, so bringt er sich jetzt doch durch eine neue Handlung in Erinnerung. Weit davon entfernt, bei einem Unfalle umgekommen zu sein, hat er sich vielmehr nach einem Orte zurückgezogen, wo ihn die Polizei nicht entdecken konnte. Dort hat er den Brief als Antwort auf die Vorschläge der Regierung geschrieben. Statt ihn aber irgendwo aufzugeben, von wo aus er an seine Adresse gelangt wäre, ist er selbst nach der Hauptstadt der Vereinigten Staaten gekommen, um den Brief persönlich, und wie aus der offiziellen Mitteilung hervorging, im Polizeiamt selbst einzuliefern.

Hatte der Mann darauf gerechnet, daß dieser neue Beweis seiner Existenz in beiden Welten einiges Aufsehen machen werde, so sollte er sich wirklich nicht getäuscht haben. Am genannten Tage »wollten« – wie der landläufige Ausdruck lautet – Millionen von Lesern, die ihre Zeitung aufmerksam durchstudierten, bezüglich dessen, was sie lasen, »ihren Augen gar nicht trauen«.

Die Schrift des Briefes, die ich wiederholt prüfte, bestand aus Wörtern, die von einer etwas schwerfällig geführten Feder herrührten. Jeder Grapholog hätte aus den Zeilen ein ungezügeltes Temperament und einen verschlossenen Charakter erkannt.

Da entfuhr mir unwillkürlich ein Schrei, den zum Glück niemand gehört haben konnte. Wie kam es, daß ich nicht weit eher die große Ähnlichkeit der Handschrift in diesem Briefe mit der in dem Schreiben erkannt hatte. das mir von Morganton aus zugegangen war?

Und waren dann – ein noch mehr entscheidendes Zusammentreffen – die Anfangsbuchstaben, deren der Schreiber sich hier als Unterschrift bediente, diese großen Buchstaben nicht die ersten der drei Wörter »Herr der Welt«? Und wo war dieser Brief geschrieben?... An Bord der »Epouvante«... das war offenbar der Name des dreifältigen Apparates, der von dem rätselhaften Kapitän geführt und gesteuert wurde.

Auch die Zeilen rührten von seiner Hand her, wie die des ersten Briefes, die Zeilen mit der an mich gerichteten Drohung, wenn ich es wagte, mein Unternehmen bezüglich des Great-Eyry zu wiederholen.

Ich erhob mich, entnahm meinem Schreibtische den Brief vom 13. Juni und verglich ihn mit dem Faksimile in den Zeitungen. Da blieb kein Zweifel übrig: dieselben eigentümlichen Schriftzüge von derselben Hand!

Da begann es in meinem Gehirn zu arbeiten; ich sachte die Bedeutung der nur mir bekannten Übereinstimmung zu durchschauen, die Übereinstimmung[102] in der Handschrift der beiden Briefe, deren Verfasser nur der Befehlshaber jener »Epouvante« (Schreckens) – ein all zu passender Name – sein konnte.

Dann fragte ich mich, ob es, gestützt auf diese Übereinstimmung, nicht möglich wäre, weitere Nachforschungen unter weniger ungewissen Umständen anzustellen, und ob wir unsere Polizisten nicht auf eine deutlichere Spur weisen könnten, die schließlich doch vielleicht zum Ziele führte. Welcher Zusammenhang bestand aber zwischen der »Epouvante« und dem Great-Eyry? Welche Beziehung zwischen den Erscheinungen in den Blauen Bergen und dem nicht minder erstaunlichen Auftauchen des phantastischen Apparates?

Ich tat nun, was Einsicht und Pflicht mir geboten, und begab mich mit dem Briefe in der Tasche nach dem Polizeiamte.

Als meine Frage, ob sich Herr Ward in seinem Kabinett befinde, bejaht wurde, stürmte ich dahin, klopfte an die Tür wohl etwas kräftiger, als das hier Sitte war, und stürzte auf den Ruf »Herein!« halb außer Atem in das Zimmer.

Herr Ward hatte gerade den von den Zeitungen getreu wiedergegebenen Brief vor sich liegen, doch nicht das Faksimile, sondern die im Briefkasten des Polizeiamtes vorgefundene Urschrift selbst.

»Nun, haben Sie etwas Neues zu melden, Strock?

– Urteilen Sie selbst, Herr Direktor!«

Ich hatte den Brief mit der Unterschrift in Anfangsbuchstaben aus der Tasche gezogen.

Herr Ward nahm ihn in die Hand, warf einen Blick auf dessen Vorderseite und sagte, bevor er ihn las:

»Was soll es mit diesem Briefe?

– Es ist das Schreiben eines gewissen H. d. W., wie Sie selbst sehen können.

– Wo war er auf die Post gegeben worden?

– Auf dem Postamte von Morganton in Nordkarolina.

– Wann haben Sie ihn erhalten?

– Am vergangenen 13. Juni... es mag vor einem Monate gewesen sein.

– Und was haben Sie zuerst davon gehalten?

– Daß er von einem geschrieben wäre, der sich einen unpassenden Scherz erlauben wollte.

– Heute aber... Strock?...[103]

– Heute denke ich darüber dasselbe, was Sie, Herr Direktor, jedenfalls denken werden, wenn Sie von dem Inhalte Kenntnis genommen haben.«

Mein Chef nahm den Brief auch und durchlas ihn bis zur letzten Zeile.

»Die Unterschrift besteht nur aus drei Buchstaben, sagte er.

– Jawohl, Herr Ward; es sind die Anfangsbuchstaben der drei Wörter ›Herr der Welt‹, wie auf dem Faksimile.

– Hier ist das Original, antwortete Herr Ward aufstehend.

– Es liegt auf der Hand, setzte ich hinzu, daß die beiden Briefe von derselben Person herrühren.

– Von einundderselben, Strock...

– Sie sehen, Herr Direktor, was mir für den Fall angedroht ist, daß ich einen erneuten Versuch machte, in den Great-Eyry einzudringen.

– Ja, man bedroht Sie mit dem Tode!... Doch sagen Sie, Strock, dieser Brief war Ihnen schon vor einem Monate zugegangen; warum haben Sie mir ihn nicht eher gezeigt?

– Weil ich ihm keinerlei Bedeutung zumaß. Jetzt freilich, wo der zweite von der ›Epouvante‹ eingetroffen ist, muß ich ihn wohl für ernst nehmen.

– Das meine ich auch, Strock. Die Sache erscheint mir sogar als sehr ernst, und ich frage mich, ob wir nicht verpflichtet wären, dieser merkwürdigen Persönlichkeit auf die Spur zu kommen.

– Ganz meine Ansicht, Herr Direktor.

– Welche Beziehung kann aber zwischen der ›Epouvante‹ und dem Great-Eyry bestehen.

– Das weiß ich freilich nicht... ja ich habe keine Ahnung...

– Jedenfalls gibt es dafür nur eine einzige Erklärung, fuhr Herr Ward fort, eine Erklärung aber, die kaum annehmbar, um nicht zu sagen, unmöglich ist.

– Und welche?...

– Die, daß gerade der Great-Eyry die Örtlichkeit wäre, die sich der Erfinder für seine Zwecke erwählt und wo er sein Material aufgespeichert hätte.

– Sapperment! rief ich unwillkürlich. Wie sollte er aber da hinein- und von da herauskommen? Nach allem, was ich dort gesehen habe, Herr Ward, ist Ihre Erklärung unannehmbar.

– Wenigstens, Strock, wenn etwa nicht...

– Wenn nicht? wiederholte ich.[104]

– Wenn der Apparat dieses ›Herrn der Welt‹ nicht auch Flügel hat, die es ihm ermöglichen, im Great-Eyry sozusagen zu nisten!«


Dem Gedanken, daß die »Epouvante« gar auch befähigt wäre... (S. 107.)
Dem Gedanken, daß die »Epouvante« gar auch befähigt wäre... (S. 107.)

Dem Gedanken, daß die »Epouvante« gar auch befähigt wäre, es im Fliegen mit den Geiern und Adlern aufzunehmen, begegnete ich mit der größten Ungläubigkeit, und jedenfalls beharrte auch mein Vorgesetzter nicht auf dieser kühnen Vermutung.

Er hatte inzwischen die beiden Briefe wieder vorgenommen, verglich sie von neuem, prüfte die Schriftzeichen mit einer kleinen Lupe und erklärte sie dann für vollkommen gleichartig. Sie rührten nicht nur von derselben Hand her, sondern waren auch mit derselben Feder geschrieben. Und dann diese Übereinstimmung zwischen dem »H. d. W.« des einen und dem »H. d. W.« des anderen Briefes!

Nach einigen Augenblicken des Nachsinnens sagte Herr Ward zu mir:

»Ich behalte Ihren Brief hier, lieber Strock, und ich meine bestimmt, daß Sie ausersehen sein werden, in dieser merkwürdigen Angelegenheit, richtiger, in diesen zwei Angelegenheiten, eine wichtige Rolle zu spielen. Welches Band sie vereinigt, kann ich nicht erraten, bestimmt existiert aber ein solches. Sie haben mit der ersten amtlich zu tun gehabt, es wäre also nicht wunderbar, daß Sie auch mit der Erforschung der zweiten betraut würden.

– Das ist mein sehnlichster Wunsch, Herr Direktor, der... nun ja, der Sie gar nicht verwundern kann bei einem Neugierigen...

– Wie Sie einer sind, Strock!... Ja ja, das stimmt! Ich kann Ihnen auch nur wiederholen: halten Sie sich bereit, auf den ersten Anruf abzureisen!«

Ich verließ das Polizeiamt mit dem Eindrucke, daß man mich bald zur Klärung der vorliegenden Angelegenheit rufen würde. Dann wäre ich mit meinen zwei Gehilfen binnen einer Stunde aufgebrochen, darauf konnte Herr Ward sich verlassen.

Die Erregung der Geister war nur mehr und mehr gestiegen, seitdem der Kapitän der »Epouvante« das Angebot der amerikanischen Regierung kurzweg abgelehnt hatte. Man empfand es im Weißen Hause wie im Ministerium, daß die Volksstimme jetzt verlangte zu handeln. Ja gewiß, doch in welcher Weise? Wie sollte man den »Herrn der Welt« finden, und wenn er irgendwo auftauchte, wie sich seiner bemächtigen? Bei ihm hatte man jederzeit mit ganz unerklärlichen Dingen zu rechnen. Daß seine Maschine eine ans Wunderbare grenzende Geschwindigkeit entwickelte, darüber bestand ja kein Zweifel. Doch wie hatte er in[107] den, jeder Verbindung mit der Außenwelt entbehrenden Kirdallsee eindringen, wie aus diesem wieder herauskommen können?... Ferner hatte man ihn in der letzten Zeit einmal vom Oberen See gemeldet, ohne daß er, ich wiederhole es, auf der achthundert Meilen langen Strecke, die beide Seen voneinander trennt, irgendwo gesehen worden wäre. Wahrlich, eine Angelegenheit ohnegleichen... lauter unerklärliche Dinge! Doch das war nur eine weitere Mahnung, der Sache auf den Grund zu gehen. Da die Millionen von Dollars nichts erreicht hatten, hieß es nun Gewalt zu gebrauchen. Der Erfinder und seine Erfindung waren für Geld nicht feil, und wir wissen ja, in welch hochmütige und drohende Ausdrücke er seine Ablehnung gekleidet hatte. Nun gut, so wurde er eben als ein Verbrecher betrachtet, dem gegenüber alle Mittel erlaubt waren, die ihn verhinderten, Unheil anzurichten. Das verlangte die Sorge für die Sicherheit nicht nur in Amerika, sondern auch in der ganzen Welt. Die Vermutung, daß er bei einem Unfalle umgekommen wäre, konnte seit seinem berühmten Briefe vom 15. Juli nicht mehr aufrecht erhalten werden. Er lebte, lebte wie früher, und sein Leben bildete eine öffentliche, eine jeden Augenblick drohende Gefahr.

Von dieser Erwägung geleitet, erließ die Regierung folgende Bekanntmachung;

»Da der Kommandant der ›Epouvante‹ sich weigert, wegen der Überlassung seines Geheimnisses an die Bundesregierung selbst um den Preis der ihm dafür angebotenen Millionen in Verhandlungen einzutreten, da ferner der Gebrauch, den er von seiner Maschine macht, eine Gefahr bildet, gegen die sich zu schützen unmöglich ist, wird der genannte Kommandant hiermit für vogelfrei erklärt. Alle Maßregeln, die dazu führen können, seinen Apparat und ihn selbst unschädlich zu machen, werden hiermit im voraus gebilligt.«

Das war der Krieg, der Krieg bis aufs Messer gegen diesen »Herrn der Welt«, der die Macht zu haben glaubte, einer ganzen Nation, der amerikanischen Nation Trotz zu bieten.

Von diesem Tage an wurden auch ansehnliche Belohnungen für jeden ausgesetzt, der den Aufenthaltsort des gefährlichen Mannes entdecken würde, für jeden, der sich seiner bemächtigen, und für jeden, der das Land von ihm befreien würde.

So war die Sachlage in der zweiten Hälfte des Juli. Bei genauer Überlegung konnte man freilich zu keinem anderen Schlusse kommen, als daß darin[108] nur durch einen glücklichen Zufall eine Änderung eintreten könnte. Zunächst gehörte dazu doch, daß der »außer dem Gesetze Stehende« irgendwo wieder erschien, daß er bemerkt und gemeldet wurde, und daß die Umstände seine Verhaftung ermöglichten. Als Automobil auf dem Lande, als Schiff auf dem Wasser oder gar als Unterseebot konnte der Apparat unmöglich angehalten werden. Nein, man mußte ihn überraschen können, ehe er, dank seiner unerreichten Geschwindigkeit, Gelegenheit fand zu entweichen.

In Erwartung des von Ward kommenden Befehls hielt ich mich stets zum Aufbruche fertig. Dieser Befehl kam aber nicht, und zwar aus dem guten Grunde, daß der, auf den er sich bezog, jetzt unsichtbar blieb.

So kam das Ende des Monats heran. Die Zeitungen hörten nicht auf, ihre Leser mit der Angelegenheit in Atem zu halten. Zuweilen trafen neue Nachrichten ein, die die Neugier der Volksmenge noch mehr anstachelten, auch auf mancherlei Fährten wurde von verschiedenen Seiten hingewiesen... alles erwies sich als unbegründet. Telegramme kreuzten und widersprachen einander im ganzen Bundesgebiet. Das erklärt sich ja mit den großen Belohnungen, die, wenn auch im guten Glauben, doch zu falschen Mitteilungen anreizten. Einmal war da von dem Wagen die Rede, der in Sturmeseile vorübergesaust wäre, ein andermal von dem Schiffe, das sich auf einem der in Amerika so zahlreichen Seen gezeigt hätte, dann wieder wollte einer das Unterseeboot unter dem Wasser hin- und herschießend bemerkt haben. Zuletzt entpuppte sich alles als Erzeugnis der Einbildung von ebenso erregten wie von Furcht befangenen Leuten, die vielleicht ähnliche Erscheinungen durch das Vergrößerungsglas der hohen Belohnungen sahen. Endlich, am 29. Juli war es, erhielt ich von meinem Vorgesetzten die Aufforderung, unverzüglich in seinem Kabinett zu erscheinen.

Zwanzig Minuten später stand ich ihm gegenüber.

»Sie müssen binnen einer Stunde abgereist sein, Strock, sagte er zu mir.

– Nach?..

– Nach Toledo.

– Ist er wirklich gesehen worden?

– Ja, und dort werden Sie alles weitere erfahren.

– In einer Stunde sind wir, meine Begleiter und ich, unterwegs.

– Gut, Strock; ich erteile Ihnen aber einen bestimmten Auftrag...

– Welchen, Herr Direktor?

– Erfolg zu haben... diesmal Erfolg zu haben!«[109]

Quelle:
Jules Verne: Herr der Welt. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXVI, Wien, Pest, Leipzig 1905, S. 101-105,107-110.
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