Vierzehntes Kapitel.
Der Niagara.

[140] Die Zeit verging weiter ohne jede Veränderung der Sachlage. Der Steuermann war an seinen Posten zurückgekehrt und im Schiffsinnern überwachte der Kapitän den Gang der Maschinen. Ich bemerke nochmals, daß diese auch nach Beschleunigung des Laufes ohne jedes Geräusch und mit erstaunlicher Regelmäßigkeit arbeiteten. Nie vernahm man einen der unvermeidlichen Schläge, die bei Maschinen mit Zylindern und Kolben vorkommen. Ich schloß daraus, daß[140] die »Epouvante« bei jeder Art der Fortbewegung in verschiedener Form durch rotierende Maschinen angetrieben werden müsse; es war mir aber unmöglich, darüber Gewißheit zu erlangen.

Anderseits bemerkte ich, daß im eingehaltenen Kurse keine Änderung eintrat. Immer fuhren wir über den See nach Nordosten und folglich in der Richtung auf Buffalo weiter.

»Warum verfolgt der Kapitän diesen Weg? fragte ich mich. Er kann doch nicht die Absicht haben, im dortigen Hafen, inmitten einer großen Zahl von Fischerbooten und Handelsschiffen, vor Anker zu gehen. Will er den Eriesee verlassen, so bietet ihm der Niagarastrom doch wirklich keinen Ausgang, denn dessen Fälle sind ja, selbst für einen Apparat wie den seinigen, unüberwindbar. Den einzigen Ausgang bietet der Detroitfluß, und von dem entfernt sich die ›Epouvante‹ offenbar immer weiter.«

Da kam mir der Gedanke: vielleicht will der Kapitän an einer Uferstelle des Eriesees die Nacht abwarten. Dann würde das zum Automobil verwandelte Fahrzeug die Nachbarstaaten schnell durchmessen können.

Gelang es mir nun nicht, während der Fahrt über Land zu entweichen, so war alle Hoffnung verloren, meine Freiheit je wieder zu gewinnen.

Freilich würde ich dabei in Erfahrung bringen, wo dieser »Herr der Welt« sich verbarg und so gut verbarg, daß man sein Versteck noch nie hatte auffinden können... das mußte ich wohl erfahren, wenigstens wenn er mich nicht auf die eine oder andere Weise ausschiffte. Was ich unter »ausschiffen« verstehe, darüber ist sich der geneigte Leser wohl klar.

Die Nordostspitze des Sees war mir sehr gut bekannt, hatte ich doch den Teil des Staates New York, der zwischen dessen Hauptort Albany und der Stadt Buffalo liegt, oft genug besucht. Eine polizeiliche, jetzt drei Jahre zurückliegende Angelegenheit hatte mir Gelegenheit gegeben, die Ufer des Niagara stromauf- und stromabwärts von den Fällen bis zur großen Hängebrücke kennen zu lernen. und die beiden großen Inseln zwischen Buffalo und dem Flecken Niagara-Falls, ferner die Insel Navy und auch Goat-Island (die Ziegeninsel) zu besuchen, die den amerikanischen Fall von dem kanadischen scheidet.

Bot sich mir also eine Gelegenheit zur Flucht, so befand ich mich nicht in mir unbekanntem Lande. Doch würde sich eine solche Gelegenheit auch bieten und – im Grunde – wünschte ich sie denn herbei und würde ich sie dann benutzen? Wie viele Geheimnisse barg noch diese Geschichte, mit der mich ein[141] glücklicher Zufall – oder war's vielleicht ein unglücklicher? – so eng verknüpft hatte!

Daß sich mir die Möglichkeit böte, eines der Ufer des Niagarastroms zu erreichen, war leider wohl kaum vorauszusetzen. Die »Epouvante« verirrte sich jedenfalls nicht auf diesen abgesperrten Strom und näherte sich wahrscheinlich auch nicht den Ufern des Eriesees. Im Notfalle tauchte sie unter und nachdem sie den Detroitfluß hinabgefahren war, rollte sie, zum Automobil unter der Leitung ihres Chauffeurs verwandelt, über die Landstraßen der Union dahin.

Das waren so die Gedanken, die in mir aufstiegen, während ich den Horizont vergeblich mit den Blicken absuchte.

Und daneben bestand noch immer die unlösbar bleibende Frage: Warum hatte der Kapitän mir jenen Drohbrief zugehen lassen, den der Leser kennt?... Welche Ursache hatte er, mich in Washington zu überwachen? Und endlich, welches Band verknüpfte ihn mit dem Great-Eyry? Zugegeben, daß er durch unterirdische Kanäle in den Kirdallsee gelangen konnte... doch durch jene unübersteigliche Felsumwallung... nein, das nicht!

Am Nachmittage gegen vier Uhr konnten wir, unter Berücksichtigung der Schnelligkeit der »Epouvante« und der unverändert eingehaltenen Fahrtrichtung, kaum noch weiter als fünfzehn Meilen von Buffalo entfernt sein, dessen Silhouette sich bald am nordöstlichen Horizonte erheben mußte.

Tauchten im Laufe unserer Fahrt da und dort Schiffe auf, so kamen sie doch nur in größerer Entfernung von uns vorüber, und den Abstand von ihnen regelte der Kapitän ganz nach seinem Gutdünken. Überdies war die »Epouvante« auf der Seefläche sehr wenig sichtbar und von weiter als einer Meile her kaum zu bemerken.

Inzwischen begannen die das Ende des Eriesees einrahmenden Höhen jenseits von Buffalo langsam aufzusteigen, dieser Trichter, durch den der Eriesee seine Wässer in das Bett des Niagara gießt. An der rechten Seite liegen einige Dünen, und da und dort erheben sich vereinzelte Baumgruppen. Weiter draußen bemerkte ich mehrere Handelsschiffe oder Fischerkulter unter Segel oder unter Dampf.

Am Himmel hin zogen sich an manchen Stellen Rauchstreifen, die von einer leichten Brise weitergetragen wurden.

Woran dachte wohl der Kapitän, als er diesem Hafen zusteuerte?... Die einfachste Klugheit mußte ihm doch verbieten, sich dahinein zu wagen. Jeden[142] Augenblick erwartete ich auch, daß er das Steuer umlegen und einen Kurs nach der Westseite des Sees einschlagen lassen würde... wenn er nicht etwa die Absicht hatte, unterzutauchen, um die Nacht in der Tiefe des Eriesees zuzubringen.

Diese Zähigkeit aber, immer auf Buffalo zuzufahren, war unmöglich zu begreifen.

Eben jetzt machte der Steuermann, der nach Nordosten scharf Ausguck hielt, seinem Gefährten ein Zeichen. Dieser erhob sich, ging nach der Mittelluke und stieg in den Maschinenraum hinunter.

Fast gleichzeitig erschien der Kapitän auf dem Verdeck, trat an den Steuermann heran und sprach mit ihm mit gedämpfter Stimme.

Dieser wies mit der Hand in der Richtung nach Buffalo hin und auf zwei schwärzliche Punkte, die sich von uns fünf bis sechs Meilen Backbord voraus fortbewegten.

Der Kapitän sah aufmerksam nach dieser Seite hinaus, dann zuckte er die Schultern und setzte sich auf dem Hinterdeck nieder, ließ aber an der Fahrt der »Epouvante« nichts ändern.

Eine Viertelstunde später erkannte ich, daß sich im Nordosten zwei Rauchsäulen am Himmel hinzogen. Nach und nach nahmen die Punkte eine bestimmtere Gestalt an.

Es waren zwei, aus dem Hafen von Buffalo ausgelaufene Dampfer, die mit großer Geschwindigkeit näher kamen.

Da schoß mir der Gedanke durch den Kopf, daß das die beiden Torpedojäger sein könnten, von denen Herr Ward mir gesprochen hatte und die seit einiger Zeit beauftragt waren, diesen Teil des Sees zu überwachen, dieselben, die ich bevollmächtigt war, mir zur Unterstützung heranzurufen.

Die beiden Torpedojäger, zwei Fahrzeuge von neuester Bauart, gehörten zu den geschwindesten der amerikanischen Marine. Von den stärksten und vollendetsten Maschinen bewegt, hatten sie bei ihren Probefahrten siebenundzwanzig Meilen in der Stunde erreicht.

Die »Epouvante« war ihnen in der Geschwindigkeit freilich noch weit überlegen und erschien für diese, wenn sie zu hart bedrängt wäre, ein Entweichen unmöglich, so brauchte sie ja nur unterzutauchen, um vor jeder Verfolgung sicher zu sein.

Die Torpedojäger hätten doch Unterseeboote sein müssen, einen Kampf mit einiger Aussicht auf Erfolg aufnehmen zu können, und ich weiß nicht einmal ob die Streitkräfte dann einander gleich gewesen wären.


Er richtete den scharfen Blick gerade auf mein Gesicht. (S. 139.)
Er richtete den scharfen Blick gerade auf mein Gesicht. (S. 139.)

Kaum zweifelhaft erschien mir jetzt, daß die Führer jener Schiffe eine bezügliche Meldung erhalten hätten; vielleicht hatte ihnen Wells, nach der Rückkehr nach Toledo, eine Depesche zugehen lassen. Es war augenscheinlich, daß sie nach Sichtung der »Epou[143] vante« mit größter Schnelligkeit auf diese zufuhren. Und dennoch setzte der Kapitän, ohne sich um die Feinde zu bekümmern, ruhig die Fahrt nach dem Niagara hin fort.

Was beabsichtigten nun wohl die Torpedojäger? Offenbar manövrierten sie so, daß die »Epouvante«, Buffalo an Steuerbord liegen lassend, mehr in[144] eine Ecke des Eriesees gedrängt würde, da der Niagarastrom ihr keinen Ausgang bot.

Der Kapitän hatte die Pinne des Steuers ergriffen, der eine seiner Leute befand sich auf dem Vorderteile, der andere im Maschinenraume.

Jetzt erwartete ich die Aufforderung, mich in meine Kabine zurückzuziehen.

Zu meiner größten Befriedigung erfolgte diese nicht, ja ich muß sogar sagen: keiner bekümmerte sich um mich, so, als ob ich überhaupt nicht an Bord gewesen wäre.[145]

Mit großer Erregung erwartete ich die weitere Annäherung der beiden Torpedojäger. Kaum noch zwei Meilen entfernt, schwenkten sie so ein, daß sie die »Epouvante« zwischen zwei Feuer nehmen konnten.

Im Gesicht des »Herrn der Welt« spiegelte sich nur die tiefste Verachtung. Wußte er denn so bestimmt, daß die beiden Zerstörer nichts gegen ihn ausrichten könnten? Ein dem Maschinisten erteilter Befehl... und er würde ihnen einfach davonlaufen, so schnell sie auch sein mochten. Schon mit einigen Umdrehungen der Maschine wäre die »Epouvante« außerhalb der Tragweite ihrer Geschütze, und in der Tiefe des Eriesees konnten die Geschosse das Taucherboot nicht erreichen.


Kaum eine Meile trennte uns von den verfolgenden Fahrzeugen. (S. 146.)
Kaum eine Meile trennte uns von den verfolgenden Fahrzeugen. (S. 146.)

Zehn Minuten später trennte uns kaum noch eine Meile von den beiden uns verfolgenden Fahrzeugen.

Der Kapitän ließ sie noch immer näher herandampfen. Dann drückte er auf einen Hebel, und unter der verdoppelten Wirkung ihres Antriebsmechanismus machte die »Epouvante« auf der Oberfläche des Sees einen wirklichen Sprung. Sie spielte augenscheinlich mit den Torpedojägern, und statt zurückzuweichen, setzte sie ihre Fahrt unverändert fort. Wer weiß, ob sie nicht tollkühn genug war, zwischen beiden durchzubrechen und sie hinter sich her zu locken bis zu der Stunde, wo sie mit anbrechender Nacht die nutzlose Verfolgung aufgeben müßten.

Die Stadt Buffalo war jetzt am Ufer des Eriesees deutlich zu erkennen, und ich sah genau ihre Häuser, ihre Kirchtürme und ihre Elevatoren. Wenig im Nordwesten davon in vier bis fünf Meilen Entfernung lag der Anfang des Niagarastromes.

Wozu sollte ich mich nun unter diesen Verhältnissen entschließen? Bot sich jetzt, wenn wir mit den Torpedojägern in einer Linie lagen, mir als erprobtem Schwimmer nicht eine – wahrscheinlich nie wiederkehrende – Gelegenheit, ins Wasser zu springen?... Der Kapitän konnte sich doch unmöglich aufhalten. um mich wieder einzufangen. Wenn ich untertauchte, winkte mir ja die Aussicht, glücklich zu entkommen. Dann würde ich wahrscheinlich von dem einen oder dem anderen Schiffe aufgenommen, denn es konnte immerhin möglich sein, daß deren Befehlshaber von meiner mutmaßlichen Anwesenheit auf der »Epouvante« schon unterrichtet wären. Sollten sie dann nicht ein Boot aussetzen, mich aufzufischen?

Die Aussicht auf Erfolg verbesserte sich freilich, wenn die »Epouvante« erst zwischen die Ufer des Niagarastromes eingefahren war. Auf der Höhe der Insel Navy konnte ich auf einem mir wohlbekannten Gebiete ans Land kommen. Vorauszusetzen aber, daß der Kapitän sich auf den durch die Riesenfälle gesperrten[146] Strom wagen würde, das schien mir unmöglich. Ich beschloß also, die Torpedojäger erst noch näher herankommen zu lassen, und mich nachher zu entscheiden.

Ich muß nämlich gestehen, daß ich über mein Verhalten mit mir noch keineswegs im klaren war.... Nein, ich konnte mich doch nicht leichten Herzens entschließen, durch eine Flucht jede Aussicht auf Entschleierung dieses Geheimnisses aufzugeben. Mein Instinkt als Polizist empörte sich bei dem Gedanken, daß ich ja nur die Hand auszustrecken brauchte, um den in Acht und Bann erklärten Mann zu ergreifen!... Nein, nein!... Ich wollte mich nicht retten, damit wäre ja das Spiel unrettbar verloren gewesen. Doch welches Schicksal erwartete mich anderseits, und wohin würde mich die »Epouvante« schleppen, wenn ich an Bord blieb?

Es war jetzt ein Viertel sieben Uhr. Die Torpedojäger glitten mit einem Abstande von zwölf bis fünfzehn Kabellängen zwischen sich immer näher heran. Die »Epouvante« mußte ohne Steigerung ihrer Geschwindigkeit bald den einen an Steuerbord, den anderen an Backbord neben sich haben.

Ich hatte meinen Platz nicht verlassen. Der Mann auf dem Vorderteile stand dicht bei mir.

Unbeweglich am Steuer, die Augen erglühend unter den zusammengezogenen Brauen, erwartete der Kapitän vielleicht den Augenblick, der Sache durch ein neues Manöver ein Ende zu machen. Plötzlich erscholl ein Krachen an Bord des Torpedojägers zu unserer Linken. Ein dicht an der Wasserfläche hinstreichendes Geschoß sauste über den Vorderteil der »Epouvante« hinweg und verschwand hinter dem feindlichen Schiffe zur Rechten.

Ich richtete mich auf. Der Mann an meiner Seite schien auf ein Zeichen vom Kapitän zu warten.

Dieser wendete nicht einmal den Kopf um, und niemals werde ich den verächtlichen Ausdruck vergessen, der sich in seinen Zügen malte.

Sofort wurde ich jetzt nach der Luke zu meiner Kabine gestoßen und deren Deckel klappte über mir zu, während auch die anderen Luken geschlossen wurden. Kaum eine Minute verstrich, da lagen wir schon unter dem Wasser... das Taucherboot war von der Oberfläche des Sees verschwunden.

Noch donnerten mehrere Kanonenschüsse, deren dumpfes Krachen mir ans Ohr schlug. Dann war alles still. Durch das Fensterchen meiner Kabine drang nur gedämpftes Licht herein. Ohne Stampfen und Schlingern glitt der Apparat geräuschlos durch den Eriesee hin.[147]

Man erkennt hieraus, mit welcher Schnelligkeit und auch mit welcher Leichtigkeit die Umwandlung der »Epouvante« erfolgt war, gewiß nicht weniger schnell und leicht, als wenn sie hätte als Automobil über Land rollen sollen.

Was würde er aber nun beginnen, der »Herr der Welt«? Höchstwahrscheinlich schlug er eine andere Richtung ein, wenn er nicht nach Erreichung des Ufers die »Epouvante« wieder zum Automobil umwandelte. Nach weiterer Überlegung glaubte ich jedoch, er werde sich mehr nach Westen wenden, nachdem die Torpedojäger seine Spur verloren hätten, und werde dann in die Mündung des Detroitflusses einlaufen. Unter Wasser blieben wir jedenfalls nicht längere Zeit als es bedurfte, außerhalb der Tragweite der Geschütze zu kommen, und die Nacht machte dann ja jeder Verfolgung ein Ende.

Doch nein, ich sollte mich getäuscht haben. Kaum zehn Minuten waren verstrichen, da entstand an Bord eine auffällige Bewegung. Aus dem Maschinenraum hörte man den Austausch von Worten, den ein Geräusch im Mechanismus begleitete. Ich glaubte zu verstehen, daß eine Beschädigung das Taucherboot nötigte, nach der Oberfläche zurückzukehren.

Das geschah auch wirklich. In einem Augenblick wich das Halbdunkel in meiner Kabine hellem Lichte. Die »Epouvante« war wieder aufgetaucht. Ich hörte auf dem Verdeck hin und her gehen, als die Lukendeckel, auch der meinige, wieder abgehoben waren. Der Kapitän hatte am Steuer Platz genommen, während seine beiden Leute noch im Innenraume beschäftigt waren.

Ich sah mich um, ob die Torpedojäger noch in der Nähe lägen. Ja, kaum eine Viertelmeile von uns. Als die »Epouvante« wieder bemerkt worden war, begannen sie die Jagd auf diese von neuem. Diesmal war es aber in der Richtung nach dem Niagara zu.

Offen gestanden, dieses Manöver begriff ich nicht. In dieser Sackgasse gefangen, wegen einer Beschädigung unfähig zu tauchen, mußte der Apparat seinen Weg doch durch die Torpedojäger gesperrt finden, wenn er etwa wieder umkehren wollte.

Ob er wohl nun ans Land gehen und in der Gestalt eines Automobiles flüchten wollte, gleichviel ob durch den Staat New York oder über das kanadische Gebiet?

Die »Epouvante« hatte jetzt eine halbe Meile Vorsprung. Die Zerstörer verfolgten sie unter Volldampf, freilich unter ungünstigen Verhältnissen, sie mit ihren Jagdgeschützen zu erreichen.[148]

Unser Fahrzeug begnügte sich, dieselbe Entfernung beizubehalten. Es wäre ihm übrigens ein Leichtes gewesen, diese zu vergrößern und wenn es dunkel geworden war, ohne besondere Gefahr nach Westen umzukehren.

Schon verschwamm das Bild von Buffalo zur Rechten. und wenig nach sieben Uhr zeigte sich der Eingang zum Niagarastrome. Wenn der Kapitän durch diesen einfuhr, wo ihm doch bekannt sein mußte, daß er daraus nicht wieder heraus könnte, mußte der Mann rein wahnsinnig sein. Und in der Tat, hatte er denn seine Sinne noch beisammen, er, der sich zum »Herrn der Welt« erklärte?

Und da stand er nun, ruhig, gleichmütig, er wendete nicht einmal den Kopf, die beiden Torpedojäger zu beobachten.

Dieser Teil des Sees war übrigens völlig verlassen. Die Schiffe, die nach den kleineren Ortschaften an beiden Ufern des Niagarastromes segelten, waren überhaupt nicht zahlreich, und jetzt zeigte sich davon gar keins. Nicht einmal ein Fischkutter kreuzte den Weg der »Epouvante«. Folgten die beiden Zerstörer dieser auf den Niagarastrom hinein, so mußten sie gewiß bald abstoppen.

Ich sagte bereits, daß der Niagara zwischen amerikanischem und kanadischem Gebiete seinen Anfang nimmt, wo Buffalo auf der einen und Fort Erie auf der anderen Seite liegt. Seine anfänglich gegen dreiviertel Meilen betragende Breite vermindert sich mit der Annäherung an die Fälle. Seine Länge vom Erie- bis zum Ontariosee beträgt fünfzehn Lieues (58 1/2 Kilometer) und ziemlich genau nach Norden verlaufend, führt er dem Ontariosee den Abfluß aus dem Oberen-, dem Michigan- und dem Huronsee zu. Zwischen dem Erie- und dem Ontariosee beträgt der Unterschied der Höhenlage dreihundertvierzig Fuß (110 Meter). Auf den großen Wasserfall kommen davon nicht weniger als hundertfünfzig Fuß (48'75 Meter). »Horse-Shoe-Fall« genannt, weil er annähernd die Form eines Hufeisens hat, haben ihm die Indianer den Namen »Donnerer der Wässer« gegeben, und in der Tat erzeugt der Wassersturz ein ununterbrochenes Donnerrollen, das man noch mehrere Meilen davon hört.

Zwischen Buffalo und dem Flecken Niagara teilen zwei Inseln den Lauf des Stromes: die Insel Navy, etwa vier Kilometer stromaufwärts vom Horse-Shoe-Fall, und Goat Island (die Ziegeninsel), die den amerikanischen Fall von dem kanadischen scheidet. Deren Spitze trug früher den Terrapine-tower (Schildkrötenturm), der so kühn mitten im Wasserschwall und dicht am Rande des Abgrunds aufragte. Man hat ihn aber niederlegen müssen, da er bei dem stetigen Zurückweichen des Falles in Gefahr war, in die brodelnde Tiefe hinabgerissen zu werden.[149]

Längs des Oberlaufes des Niagara sind zwei Ortschaften zu erwähnen: Schlosser am rechten und Chipewa am linken Ufer, beide ziemlich genau gegenüber der Insel Navy gelegen. Von hier aus hat das Flußbett sehr starken Fall und die Strömung wird deshalb immer schneller, bis die Wassermassen zwei Meilen stromabwärts die berühmten Fälle bilden.

Die »Epouvante« war am Fort Erie vorübergekommen. Noch schwebte der Sonnenball im Westen in geringer Höhe über dem kanadischen Horizonte und der fast volle Mond stieg schon aus den Dunstmassen im Südosten heraus. Vor einer Stunde konnte es noch nicht Nacht sein.

Die Torpedojäger folgten uns, ihre Feuer forcierend, in der Entfernung von einer Meile, ohne diesen Abstand verringern zu können. Immer glitten sie zwischen von Bäumen beschatteten und mit Landhäusern besetzten Ufern hin, die sich als lange, grünende Strecken hinziehen.

Offenbar gab es für die »Epouvante« hier keinen Rückweg mehr. Die Torpedojäger hätten sie unfehlbar in Grund gebohrt. Ihren Befehlshabern war freilich nicht bekannt, was ich wußte, daß eine Havarie, die der Apparat erlitten hatte, diesen zwang, auf der Oberfläche des Sees zu bleiben, und daß es ihm unmöglich war, durch ein wiederholtes Untertauchen zu entweichen. Nichtsdestoweniger setzten sie ihre Fahrt nach vorwärts fort, und voraussichtlich behielten sie auch ihre Schnelligkeit bei, bis sie auf unüberwindliche Hindernisse trafen.

Fand ich aber keine Erklärung für diese hartnäckige Verfolgung, so fehlte es mir erst recht an einer solchen für das Verhalten der »Epouvante«. Vor Ablauf einer halben Stunde mußte ihr durch den Wasserfall der Weg versperrt sein. So überaus leistungsfähig der Apparat auch sein mochte, über den Horse-Shoe-Fall konnte er doch unmöglich unbeschädigt hinwegkommen, und wenn der ungeheure Wasserschwall ihn mit hinunterzog, mußte er in der hundertvierundzwanzig Fuß tiefen Grube verschwinden, die das Wasser am Fuße der Fälle ausgehöhlt hat. Nur wenn er irgendwo ans Ufer anlief, konnte er auf seinen Automobilrädern vielleicht entkommen, wenn er zweihundertvierzig Kilometer in der Stunde hinter sich brachte.

Was sollte ich jetzt beginnen?... Sollte ich versuchen, mich hier in der Nähe der Insel Navy zu retten, deren Ufer ich schwimmend jedenfalls leicht erreichen konnte? Ließ ich diese Gelegenheit vorübergehen, so würde mir, soweit hatte ich die hier obwaltenden Geheimnisse durchschaut, der »Herr der Welt« die Freiheit niemals wiedergeben.[150]

Ich sah aber doch bald ein, daß meine Flucht jedenfalls verhindert werden würde. War ich auch nicht in meine Kabine eingesperrt, so sah ich mich doch scharf überwacht. Während der Kapitän am Steuer blieb, wandte der Mann an meiner Seite kein Auge von mir ab. Bei der ersten Bewegung wäre ich gepackt und in meine Kabine eingeschlossen worden... ja, jetzt war mein Schicksal an das der »Epouvante« gebunden.

Die Entfernung, die die Torpedojäger von uns trennte, hatte sich inzwischen auf einige Kabellängen verringert. Konnte der Motor der »Epouvante« infolge einer Beschädigung das Fahrzeug vielleicht nicht mehr schneller forttreiben?... Immerhin verriet der Kapitän nicht die mindeste Unruhe und machte auch keine Anstalt, ans Land zu laufen.

Schon hörte man das Zischen des Dampfes, der inmitten schwarzer Rauchwirbel aus den Sicherheitsventilen auf den Torpedojägern ausströmte.

Man vernahm aber gleichzeitig auch das Brausen und Tosen des Wasserfalles, der kaum noch drei Meilen stromabwärts vor uns lag.

Die »Epouvante« glitt durch den Stromarm links von der Insel Navy, über deren Spitze sie bald hinauskam. Eine Viertelstunde später kamen die ersten Bäume von Goat-Island in Sicht. Die Strömung wurde immer schneller, und wenn die »Epouvante« nicht anhielt, konnten die Torpedojäger sie nicht weiter verfolgen. Und wenn es dem vermaledeiten Kapitän beliebte, sich von den Wirbeln des Horse-Shoe-Falls verschlingen zu lassen, so würden jene ihm natürlich nicht in den Abgrund nachstürzen wollen.

Wirklich kreischten auf den Schiffen jetzt mehrere Pfeifen, und die Torpedojäger stoppten, als sie sich fünf- bis sechshundert Fuß vor den Katarakten befanden. Dann krachte und donnerte es hinter uns her, und mehrere Geschosse sausten längs der »Epouvante« hin, ohne diese zu treffen.

Die Sonne war eben verschwunden, und durch die Dämmerung warf der Mond seine Strahlen nach der Nordseite. Die durch die rasende Strömung noch erhöhte Schnelligkeit des Apparates spottete jetzt jeder Schätzung. Binnen einer Minute mußte er sich in der schwärzlichen Höhle fangen, die der kanadische Fall in seiner Mitte umschließt.

Mit erschrecktem Auge starrte ich auf die äußersten Vorsprünge von Goat-Island und auf die vor diesem aufragenden drei Holme, die Drei Schwestern, die von einem Wasserstaubmantel eingehüllt waren. Ich erhob mich... ich wollte in den Strom springen, um wenn möglich nach der Insel zu gelangen.[151]

Da legten sich die Hände meines Nebenmannes mit voller Wucht auf mich.

Plötzlich ließ sich ein heftiges Geräusch von dem im Innern arbeitenden Mechanismus vernehmen. Die großen, von den Seiten des Apparates hinabtauchenden Schwerte entfalteten sich zu Flügeln, und in dem Augenblicke, wo die »Epouvante« schon fast in den Fall hineingezogen wird, erhebt sie sich in die Luft und schwebt inmitten des Spektrums eines Mondregenbogens über die brausenden, donnernden Fälle hinweg!

Quelle:
Jules Verne: Herr der Welt. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXVI, Wien, Pest, Leipzig 1905, S. 140-152.
Lizenz:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Die Sängerin Marie Ladenbauer erblindet nach einer Krankheit. Ihr Freund Karl Breiteneder scheitert mit dem Versuch einer Wiederannäherung nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt seit der Erblindung. »Das neue Lied« und vier weitere Erzählungen aus den Jahren 1905 bis 1911. »Geschichte eines Genies«, »Der Tod des Junggesellen«, »Der tote Gabriel«, und »Das Tagebuch der Redegonda«.

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon