Die achtzehnte Fabel.

Von den Tauben und Weihen.

[41] Die tauben hetten einen streit

Mit dem weihen, der in groß leid

Zufüget und gar hart anfacht

Und liefert in gar oft ein schlacht.

Die tauben konten sich nicht rechen,

Dem starken feind nicht vil abbrechen;

Wolten den streit nicht gern verliesen,

Gedachten ein schutzherrn zu kiesen,

Der ire ordnung im krieg solt füren.

Den habicht zum schutzherrn sie küren:

Der solt die hauptmanschaft verstan.

Der sach nam sich der habicht an.

Und wie er nun zum hauptman ward,

Ließ er nicht ab von seiner art:

Wider die tauben tobt er ser,

Als ob er der feind selber wer,

Flog under die einfaltig tauben,

Tets nach einander ausher klauben.

Da war den tauben herzlich leid,

Daß sie hetten zur oberkeit

Den habicht gsetzt und auserwelt,

Weil er sich der gebür nicht helt:

»Beßer, wir hetten allein gestritten,

Schaden von unserm feind erlitten.

Der freund tut uns vil größern schaden,

Denn auf uns het der feind kunt laden.«

Ein jeder laß sich nicht gerauen

Seines berufs, mit allen trauen

Demselben fleißig stellen nach

Und haben acht auf seine sach.

Obs schon nicht get, wie es wol solt,

Und daß mans gerne bessern wolt,[42]

Wils doch nit recht auf alle seiten

Zugen und ungehunken reiten.

Weil mir mein stand zu diser frist

Leidlich und wider Gott nicht ist,

Muß ich damit zu frieden sein.

Ists nicht von allen seiten rein,

Weil ich noch bin in disem leben,

Hienehst wird Gott ein beßers geben.

Die sich aus vorwitz gern verneuen,

Die müßen oft am reuel keuen.

Wenn sie was neues gnommen an,

Woltens das alt gern wider han.

Wir sein all mit der plag geplagt,

Niemand sein eigen stand behagt.

Darumb sei niemand so verbolgen,

Daß er wolt disen tauben folgen,

Die umb ein kleine forcht des weihen

Ließen den sperber sich entfreien.

Was du anfahst, des hab gut acht,

Hebs weislich an, das end betracht:

Beßer, du leidst ein kleinen schaden,

Denn daß du soltst in größerm baden.

Quelle:
Burkard Waldis: Esopus. Erster und zweiter Theil, Band 1, Leipzig 1882, S. 41-43.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Musset, Alfred de

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon