Die dritte Fabel.

Von der Tannen und dem Dornbusch.

[150] Vor zeiten war ein alte tannen,

Die tet aus hoffart sich ermannen,

Veracht den dornbusch neben ir

Und sprach: »Du bist gar ungleich mir;

Gen himmel hoch trag ich mein kopf,

Den ganzen winter grünt mein schopf,

Bin groß erwachsen, dick und lang.

Des hab ich von den leuten dank,

Setzen mich hoch in ire gbeu

Und brauchen mich on alle reu

Zum pfeiler oder underlag.

Im schiff ich auch das banier trag

Und far gar prechtig über mer,

Bin aller hölzer fürst und herr;

Derhalb ich billich globet werd.

So steestu, dornbusch, bei der erd

Und must veracht daniden sitzen,

Man tut dich nit zun eren nützen.«

Der dornbusch sprach: »Du rümst dich groß,

Verachtest mich und mein genoß

Und butzest hoch den tannen namen,

Daß du den dornbusch magst beschamen,

Und merkest nicht die farlichkeit,

Die dir ist alle stund bereit.[150]

Auch kan dein hoffart nit ermeßen,

Wie wol dem, des man tut vergeßen,

Leßt in in seiner demut bleiben,

Mit gutem fried sein zeit vertreiben.

Es komt zu hand der zimmerman,

Mit seiner bindaxt greift dich an,

Setzt dich ins schiff zu einer mast.

Wenn du da lang gestanden hast,

Zu letst wirst vom nordwest ermordt,

Man haut und wirft dich über bord.

Denn gebstu wol als, was du hettest,

Daß du damit dein leben rettest,

Und wünschen, mit dem dornbusch klein

Zu haben fried und rue gemein.«

Es ist kein stand so hoch auf erden,

Der one müe mög funden werden:

Groß müe ist stets bei hohem stat,

Dagegen auch der gringe hat

Bei kleinem gut ein ruesam leben,

Kan sich dest baß zu frieden geben.

Aus hölzern schüßeln das eßen schmeckt

So wol, daß man die finger leckt.

Ein waßertrunk gibt freud und mut,

Den man in ru mit frieden tut.

Wenig gericht, ein klein salzfaß

Zieren die geringen tisch vil baß,

Denn daß man eß aus güldnem gschirr

Und wer dabei im herzen irr.

Horatius sagt: »Die hohen zinnen

Wenn die zu fallen einst beginnen,

Darab erschüttert sich die ert;

Der donder auch gemeinlich fert

In hohe berg und groß gebeu:

Vor im sind sicher im stall die seu.«

Drumb hat der warlich recht geredt,

Der den gar selig achten tet,

Auf welchs geburt, leben und tot

Niemant groß achtung geben hat.


Quelle:
Burkard Waldis: Esopus. Erster und zweiter Theil, Band 1, Leipzig 1882, S. 150-151.
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