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[229] Eines Morgens kehrte Gertrud vom Markt zurück und trug schwer an ihrem Einkaufskorb. Als sie ins Haus trat, hörte sie, daß Daniel spielte. Sie hörte sogleich, daß es kein Phantasieren war, sondern ein zusammenhängendes Gebilde, dessen Töne ihr unbekannt waren.

Während sie die Stiege hinauf ging, spürte sie kaum mehr die Schwere des Korbes, und oben schlich sie in die Wohnstube und lauschte. Aber es zog sie näher und näher ans Klavier; Daniel merkte es nicht, als sie in sein Zimmer trat und sich auf einen Stuhl setzte; er war ganz versunken und wandte den wunderbar erfüllten Blick nicht ab von den beschriebenen Notenblättern auf dem Klavier.

Es waren die Entwürfe zur »Harzreise im Winter«. Seit anderthalb Jahren, seit er sie in Ansbach niedergeschrieben, hatte er sie liegen lassen und nicht mehr daran gearbeitet. Plötzlich war das Feuer wieder aufgeflammt und in Schöpferglut konnte er das Unverbundene binden, das Angedeutete gestalten.

Immer wieder begann er einen Teil von neuem und suchte Brücken, bald hier, bald dort, griff zum Bleistift, schrieb Noten hin, suchte wieder, sang und lächelte sonderbar irr und beglückt, wenn auf den Blättern ein Motiv in abgerundeter[229] Form erschien. Und Gertrud wurde noch näher gezwungen; in ihrer Ergriffenheit kauerte sie sich dicht neben ihm auf den Boden, am liebsten hätte sie in das Instrument hineinkriechen mögen, um ihre ganze Seele in den Saiten mit austönen zu lassen, und als Daniel geendet hatte, legte sie ihre Stirn auf seinen Schenkel und ihre heißen Hände langten nach ihm empor.

Daniel erschrak, denn er erinnerte sich einer Stunde, wo ein anderes Weib die Stirn auf seinen Schenkel gelegt hatte, und da fiel plötzlich sein Blick an die Wand, dorthin, wo die Maske der Zingarella hing. Er ward sich des Zusammenhangs nicht bewußt, hier war keine Brücke, zu verschieden war das Antlitz von seinem Urbild, aber mit einem leisen Schauer ahnte er doch rätselvolle Verknüpfungen und glaubte einen Herüberruf von jenseitigen Gestaden zu vernehmen.

Still legte er seine Hand auf Gertruds Haar, und ihr war es, als habe sie damit sein Versprechen erhalten, daß dieses Werk ihr zu eigen gehöre, daß er es für sie schuf, es aus ihrem Herzen genommen habe und ihrem Herzen zurückschenken werde.

Quelle:
Jakob Wassermann: Das Gänsemännchen, Berlin 88-911929, S. 229-230.
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