[280] Schwer war es oft, Arbeitsruhe zu gewinnen. Der Mai brachte kalte Tage, es mußte geheizt werden, der Ofen rauchte. Der Hafner kam, die Kacheln wurden entfernt, die Stube glich einer schmutzigen Hölle.[280]
Gertrud klopfte Zucker. »Sei mir nicht bös, Daniel, ich muß den Zucker heute klopfen.« Und sie klopfte, daß der Hammer bis ins Gehirn des gelähmt Lauschenden drang.
Die Tür kreischte in der Angel. »Du mußt sie ölen, Gertrud.« Gertrud suchte die Ölflasche in allen Winkeln und als sie sie endlich gefunden hatte, fehlte eine Feder zum Schmieren. Sie holte sich eine von der Magd der Kanzleirätin, indessen lief die Milch über, die sie zum Kochen hingestellt hatte, und der Gestank verpestete das Haus.
Es läutete. Der Schuster war es, der das Geld für die Lackstiefel haben wollte. Die Hofrätin Kirschner sowohl wie die Notarin Rübsam hatten gesagt, er könne bei der bevorstehenden Aufführung im Hause der Freifrau ohne Lackstiefel nicht erscheinen.
»Ich hab das Geld nicht, Gertrud; hast du noch so viel?«
Gertrud stöberte in ihrem Schränkchen und fand noch sechs Mark. Fünf davon gab sie dem Schuster als Abzahlung. Der Mann brummte und Daniel verbarg sich vor ihm.
Gertrud saß im Wohnzimmer und nähte an der Wäsche für das Kind. In ihrem Gesicht war ein freudiger Ausdruck. Daniel wußte wohl, daß es die Mutterfreude und -erwartung war, aber da er diese Freude nicht teilen konnte, sondern eher Furcht vor dem Erscheinen des Kindes empfand, verstimmte ihn ihr Glück.
Zwischen den Fuchsienstöcken am Fenster stand ein Rotkehlchen und guckte mit zur Seite geneigtem Kopf in die Stube. »Komm heraus,« piepste es. Und Daniel ging fort.
Er hatte sich im Caféhaus am Markt mit Monsieur Rivière verabredet. Da er Lenore nicht mehr zu Gesicht bekam, wollte er ihn fragen, wie es mit dem Pariser Projekt stehe.
Der Franzose erzählte von den Ergebnissen seiner Caspar-Hauser-Forschungen. In seinem gebrochenen Deutsch ließ er sich über den Leibes- und Seelenmord vernehmen, der an dem Findling begangen worden. »Er war ein Mensch [281] comme une étoile,« sagte er; »die Bürgerwelt hat ihn zerschmettert. Die Bürgerwelt ist die racine von alles Böse.«
Daniel brachte Lenores Namen nicht über die Lippen. Er wollte sich damit abfinden, daß sie sich ihm entzog. Er biß die Zähne zusammen und sagte sich: ich will. Aber ein Stärkeres in ihm wollte nicht. Und dieses Stärkere wurde zum Bettler. Gib mir, bettelte es, gib mir.
Die Billardbälle klapperten. Ein sammetröckiger Herr hatte einen lauten Zank mit einem schäbigen Männchen, das seit zwei Stunden die »Fliegenden Blätter« las, immer wieder von vorn anfing und bei denselben Witzen immer wieder von leisen Lachkrämpfen geschüttelt wurde.
Da Daniel schwieg und schwieg, fragte ihn Rivière nach der Harzreise und äußerte schüchtern den Wunsch, etwas zu hören. »Sans la musique, la vie est insupportable,« sagte er, »es hat etwas wie Wahnsinn.« Es gäbe Nächte, wo er ein Heft mit Schubertschen oder Brahmsschen Liedern aufschlage und Noten stammle, Melodien lalle, um nicht der Verzweiflung zu unterliegen, mit der ihn das Leben erfülle, das die Menschen führten. »Ick sollte sein Stoiker,« schloß er, »aber ick bin es nicht. In mir ist trop de musique, et c'est le contraire.«
Daniel sah ihn groß an. »Kommen Sie mit,« sagte er plötzlich, stand auf und packte ihn am Arm.
Im Flur des Hauses begegneten sie Lenore, die mit dem Tünchermeister oben in der neuen Wohnung gewesen war. Am andern Tag sollte schon der Umzug sein.
»Wieso hat sich denn das so schnell gemacht?« fragte Daniel, voll von einem unbestimmten Glück, das seine Nahrung aus Lenores sichtlicher Erregung zog.
»Zufall,« antwortete sie und vermied es, ihn anzuschauen. »Ein Hauptmann, der aus Regensburg hierher versetzt worden ist, zieht drüben ein. Es ist traurig, die guten alten Stuben verlassen zu müssen. Eine Menge Sachen holt der Trödler,[282] in den zwei Kammern oben ist kein Platz. Wie geht's der Gertrud? Kann ich ein wenig zu ihr hinauf?«
»Geh nur mit uns,« sagte Daniel steif, »du kannst zuhören, wenn du Lust hast. Ich spiele die Harzreise vor.«
»Lust? Ich hab fast ein Recht darauf; du hast es mir lang schon versprochen.«
Am Ende denkt sie, ich will sie fangen, grübelte er selbstquälerisch; besser, ich laß es ganz, als daß sie sich in ihrem dummen Weiberschädel einbildet, mein Werk soll unsere Privatgeschichten fördern. Mit gesenktem Kopf stieg er vor Rivière und Lenore die Treppe hinauf, angespannt horchend, ob nicht das Wort Paris über ihre Lippen kam. Doch sie sprachen vom Wetter.
Als sie in die Wohnstube traten, hatte Gertrud die Harfe zwischen den Knien. Aber sie spielte nicht. Ihre Hände lagen an den Saiten, ihr Kinn war auf den Rahmen gestützt. »Warum machst du denn kein Licht?« fuhr Daniel sie gereizt an.
Sie erschrak und blickte ihm aufmerksam ins Gesicht. Der Blick brachte ihm vieles zu Bewußtsein, was er in den alltäglichen Stunden seinen Gedanken unterschlug; ihr unbedingtes Fürihnsein; die edle Größe ihres Herzens, dessen Hoffen und Fürchten von seinem so abhängig war wie die Bewegung des Quecksilbers im Thermometer von der Atmosphäre; ihre stumme Opferfähigkeit bei all den tausend kleinen Dingen des Lebens; ihr verwundbares Gemüt und ihre Kraft, Wunden zu verheimlichen; ihre fast übersinnliche Gabe, mitzuschwingen, wenn sein Geist Tiefstes an Höchstes zu binden sich vermaß.
Darum erkannte er in ihrem Blick etwas wie eine ernste, ferne Warnung. Feig und ehrfürchtig zugleich, schuldbewußt und ungeduldig zugleich, ging er hin und küßte sie auf das Haar. Sie lehnte flüchtig die Stirn an seine Brust und da er die ganze Last, die sie ahnungslos ihm aufbürdete.[283]
Er sagte ihr, daß er spielen wolle. Er sagte: »Ich hab mein Bild wieder einmal verloren und will's in andern suchen.«
Gertrud bat ihn mit blassem Gesicht, hier im Wohnzimmer bleiben zu dürfen, und sie lehnte die Türe nur an.
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