[288] Um Lenore beim Umzug zu helfen, stellte sich Philippine Schimmelweis ein. Zuerst befremdet, war Lenore schließlich des Beistands froh. Der Inspektor nahm kaum irgendwelchen Anteil an einem Vorgang, der ihm als letzte, alle Hoffnung vernichtende Niederlage erschien.
Auch an den folgenden Tagen kam Philippine, und allmählich wurde es ihr zur Regel, jeden Tag ein paar Stunden im Haus zu verbringen, entweder bei Lenore oder bei Gertrud unten, so lange diese in der Küche zu tun hatte. Man gewöhnte sich an ihren Anblick und duldete sie. Sie bemühte sich, geräuschlos zu sein und hatte die Miene eines Menschen, der ein wichtiges, aber noch nicht gewürdigtes Amt versieht.
Sie studierte das Haus. Sie kannte alle Räume. Am liebsten kam sie um die Dämmerungszeit. Dann sagte sie zu Lenore, sie habe auf der Treppe einen geheimnisvollen Kerl gesehen. Lenore holte die Kerze und sah nach, aber da war[288] nichts zu finden. Dennoch behauptete Philippine steif und fest, es sei einer dagestanden in einem grünen Kamisol und habe ihr eine Nase gedreht.
Der Dachboden lockte sie vornehmlich. Sie erzählte in der Nachbarschaft, daß eine Eule droben säße. Infolgedessen geschah es, daß die Kinder, die ringsum wohnten, das Haus zu fürchten begannen, und daß die Kanzleirätin im ersten Stock, durch die Gerüchte verängstigt, ihre Wohnung kündigte.
Die neue Inspektorswohnung hatte kein Schutzgitter. Man trat von der Stiege unmittelbar in Lenores Kammer, wo sie schlief und arbeitete. An diese Kammer stieß die ihres Vaters. Die Leute nannten ihn noch immer Inspektor, obwohl er keine Inspektorstelle mehr hatte.
Den ganzen Tag blieb er bei geschlossenen Fenstern in seiner engen Kammer, deren eine Wand geneigt war. Wenn ihm Lenore das Frühstück brachte oder ihn zum Mittagessen rief, das sie in der verschlagartigen, winzigen Küche aufgewärmt und in ihrem gleichfalls winzigen Stübchen angerichtet hatte, saß er am Tisch und hatte viele Blätter vor sich liegen, alte Rechnungen und alte Briefe. Und sie lagen immer in derselben Ordnung da.
Einmal trat sie unerwartet ein, ohne zu klopfen, da schloß er hastig den Schrank zu, steckte den Schlüssel in die Westentasche und versuchte in einer Weise harmlos zu lächeln, die Lenores Herz stocken ließ.
Erst wenn es dunkel war, ging er aus, und wenn er heimkehrte, trug er manchmal ein Paket unterm Arm, das er mit in seine Kammer nahm.
Anfangs war Lenore immer unruhig, wenn sie fort gehen mußte. Da bat sie Philippine, sie möge acht geben und keinen Fremden hereinlassen. Philippine hatte eine Schachtel mit Bändern in Lenores Kommode stehen; sie stellte einen Stuhl neben die Tür, die zur Kammer des Inspektors führte, und wenn ihre Hände müd waren vom Wühlen in den Bändern[289] und ihre Augen sich gesättigt hatten an der Buntfarbigkeit, preßte sie das Ohr an die Türe, um zu lauschen, was der alte Mann trieb.
Bisweilen hörte sie ihn sprechen. Es war, als rede er mit einem Menschen. Seine Stimme klang mahnend, ja auch zärtlich. Da erzitterte Philippine vor Furcht und Grauen. Einmal drückte sie die Klinke herab und wollte leise die Tür öffnen, um hineinzuspähen, aber zu ihrem Ärger war das Schloß drinnen verriegelt.
Bei Gertrud verrichtete sie kleine Handreichungen und lief zum Krämer oder zum Bäcker. Gertruds Beweglichkeit nahm zusehends ab, das Stiegensteigen fiel ihr schwer, und Philippine ersetzte ihr beinahe eine Magd. Nur solche Dienste, bei denen ihre Kleider schmutzig werden konnten, verweigerte sie. Gertruds scheue Zurückhaltung verdroß sie oft und, eines Tages fragte sie bissig: »Gell, Sie sind recht stolz? Sie mögen mich wohl nit leiden, gell?« Gertrud sah sie verwundert an und wußte keine Antwort.
Vor Daniel verkroch sich Philippine, sobald sie nur seinen Schritt hörte. Gewahrte er sie dann doch, so zuckte er die Achseln über das Gestell, wie er sie geringschätzig nannte. Aber es wollte ihm scheinen, als ob es nicht ungefährlich sei, sie schlecht zu behandeln, und als ob sie sich's verdient hätte, daß man sich ihre unerklärliche Beflissenheit, gefällig zu sein, gefallen ließ.
So überwand er sich einmal und gab ihr die Hand, zog sie aber gleich darauf erschrocken zurück, denn etwas so Glitschiges und Froschhaftes glaubte er vorher nie berührt zu haben. Philippine tat, als habe sie nichts bemerkt, doch kaum war er ins Zimmer gegangen, so wandte sie sich mit diabolisch glimmenden Augen zu Gertrud und rief mit ihrer ordinären Stimme: »Gottich, der Daniel hat's aber gnädig! Hat's der aber gnädig! Kein Wunder, daß ihn die Leut nicht ausstehen können. So gnädig!«[290]
Als sie sah, daß Gertrud die Brauen zusammenzog, drehte sie sich mit einem plumpen Schwung auf dem Absatz herum und schrie wie besessen: »Oi, Gertrud! ioi! Der Braten brennt an! Der Braten brennt an!«
Es war falscher Alarm. Der Braten schmorte ganz friedlich in der Pfanne.
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