13

[303] »Drah' di, Madel, drah' di, morgen kommt der Mahdi.« Diesen neuesten Gassenhauer plärrend, trat Philippine zu Gertrud in die Wohnstube. Daniel war nicht zu Hause.

»Da hast,« sagte sie und warf eine Zwirnrolle auf den Tisch.

Gertrud hatte dem Drängen des Mädchens nachgegeben und duzte sie und ließ sich von ihr duzen. »Weil wir doch eigentlich Verwandte sind,« hatte Philippine gemeint.

Gertrud fürchtete sich vor Philippine, aber sie fand kein Mittel, ihre übertriebene Dienstwilligkeit abzuwehren. Was[303] sie vor keinem Menschen empfand, das empfand sie bisweilen vor Philippine: Scham über ihren Zustand.

In der Tat erblickte Philippine in Gertruds Schwangerschaft etwas Unanständiges und schaute stets auffällig in die Luft, wenn sie mit Gertrud redete.

»Nein, was die Leut unverschämt sind,« begann Philippine, nachdem sie sich auf einen Stuhl gelümmelt hatte. »Da fragt mich der Kommis im Geschäft, ob der Daniel und die Lenore was miteinander haben. Eine Frechheit, gell? Bin ihm aber schön übers Maul gefahren.«

Die Nadel in Gertruds Fingern ruhte. Es war nicht das erstemal, daß sich Philippine solche Andeutungen erlaubte. Bald kam sie und raunte Gertrud zu, Daniel sei bei Lenore droben, bald äußerte sie in heuchlerischem Mitleidston, Lenore sehe so abgehärmt aus. Dann berichtete sie von dem und jenem, der dies und jenes gesagt habe. Dann machte sie sich wieder zum Verteidiger der guten Sitte und behauptete, man dürfe die Leute nicht vor den Kopf stoßen.

Ihr drittes Wort war: die Leute. Sie selbst wisse ja ganz genau, was für ein tadelloser Charakter die Lenore sei und wie gern Daniel seine Frau habe, aber die Leute, die Leute! Und man könne ja auch nicht jedem gleich die Augen auskratzen, der einen mit zweideutigen Fragen ärgere, da würde es wenig Augen mehr in der Stadt geben.

Philippines Simpelfransen hatten eine ungewöhnliche Länge erreicht; sie verdeckten die ganze Stirn und hingen bereits bis an die Wimpern. Infolgedessen hatte der Blick, mit dem sie Gertrud betrachtete, etwas über die Maßen Tückisches. So ganz sicher ist die ihrer Sache auch nicht mehr, fuhr es ihr durch den Kopf, und mit einer plumpen und sonderbar lasterhaften Bewegung ihrer Beine machte sie sich auf dem Stuhl breiter.

»Ich glaub halt, der Daniel sollt vorsichtiger sein,« plauderte sie mit ihrer rasselnden Stimme; »das stundenlange Beisammenstecken[304] tut kein gut. Es tut kein gut, sag ich dir. Und immer auf der Lauer alle zwei, er nach ihr und sie nach ihm. Jetzt sollst es einmal wissen. Erwischt man sie, fahren sie auseinander wie Verbrecher. Seit sechs Wochen geht's so, jeden Tag und jeden Tag. Schickt sich das vielleicht? Das brauchst du dir nicht gefallen zu lassen, Gertrud,« schloß sie mit einem übel aussehenden Versuch zu einer kokett schmollenden Miene. Dann schlug sie die Augen zu Boden und blickte unschuldig drein.

Gertrud war es kalt um die Brust geworden. Ihr Vertrauen zu Daniel war unerschütterlich, aber die giftigen Reden benahmen ihr Klarheit und Ruhe. Schon daß es möglich war, so über Daniel und Lenore zu sprechen, und daß ihr die Worte fehlten, es zu verhindern, weil sie es von Anfang an mit der Gelassenheit ihres Vertrauens und der Verachtung gegen den Klatsch geduldet, bereitete ihr Schmerz.

Wie schal hätte auch jeder Einwand geklungen, wie nichtig ein Verweis! Konnte sie der böse redenden Zunge Einhalt tun mit dem Hinweis auf Daniels besondere Art? Sollte er Rechenschaft ablegen vor einer Philippine? Ein geringschätziges Lächeln glitt über ihr Gesicht.

Und doch, warum das wehe Herz? Kam es nun endlich, das Wissen um Liebesentbehrung?

Unwillkürlich fiel ihr Blick auf die Gipsmaske, die noch immer mit den längst verwelkten Rosenzweigen bekränzt war. Sie erhob sich und nahm das Blätterwerk herunter. Ihre Hand zitterte dabei, als begehe sie etwas Schlechtes.

»Geh heim, Philippine, ich brauch nichts mehr,« sagte sie.

»Oi, 's is wahrhaftig spät, ich muß fort,« rief Philippine. »Mach dir nur ja keine Gedanken, Gertrud,« tröstete sie. »Und verklag mich nicht bei deinem Mann. Der ist imstand und macht einen Mordskrawall. Wenn du mich verklagst, dann gibt's ein Unglück, das sag ich dir. Ich bin halt eine rechte[305] Gans, daß mir alles rausrutscht. Mein Maul hat kein' Balken, drum kann ich's nit halten. Also, gut' Nacht.«

Sie strich mit komischer Behutsamkeit ihren Rock glatt und ging.

Auf der Stiege plärrte sie wieder: »Drah' di, Madel, drah' di, morgen kommt der Mahdi.«

Quelle:
Jakob Wassermann: Das Gänsemännchen, Berlin 88-911929, S. 303-306.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Das Gänsemännchen
Das Gänsemännchen
Das Gänsemännchen
Das Gänsemännchen