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[461] Daniel hatte Empfehlungen an den Prior des Klosters zu Löhriedt. Dort suchte er nach einer Handschrift, die von einem Zeitgenossen des Orlando di Lasso, wenn nicht von diesem selbst sein sollte.

Er blieb über zwei Monate und arbeitete an dem Sammelwerk. Den Verkehr mit den Mönchen fand er angenehm und war auch bei ihnen wohl gelitten. Einer, der ihn wegen seines Orgelspiels besonders schätzte, aber von strenger Frömmigkeit war, gab ihm zu verstehen, wie sehr er es bedauerte, daß er ihm als Protestanten nicht mit jenem Vertrauen entgegenkommen könne, mit dem ein Mann seinesgleichen ausgezeichnet zu werden verdiene.

»Ei, da wollt ich doch, daß ich ein Jud wär,« erwiderte ihm Daniel, »dann könntet ihr erst recht sehn, was unser Herrgott ohne euer Zutun zu machen imstande ist.«

Der betreffende Klosterbruder hieß Pater Leonhardt und war ein kleiner, sehniger Mensch mit schwarzen Augen und dunklem Teint. Er schien viel erlebt, schien manchen Anlaß zu Reue und Buße zu haben, denn seine religiösen Übungen hatten nichts Gewohnheitsmäßiges, sondern echte Inbrunst und Hingebung. Seine Gläubigkeit ergriff Daniel, aber er hatte Angst vor dem Zuschauer in seinem Innern; er hielt den Zuschauer für einen Feind, für einen Philister, und daher sah er den Pater Leonhardt lieber gar nicht an.

Er wohnte in der Nähe des Klosters bei einem Bahnoffizial,[461] und einmal besuchte ihn der Pater Leonhardt. Daniel saß am Fenster und wollte noch rasch eine Korrektur beenden, der Pater schaute sich im Zimmer um, und seine Blicke fielen auf eine runde, hölzerne Schachtel, die auf einem Stuhle lag und einer Tortenschachtel ähnlich war.

»Da haben sie Ihnen wohl aus der Heimat was zum Schleckern geschickt,« bemerkte der Pater, als sich Daniel erhob.

Daniels Blick folgte dem des Mönchs. Er nahm die Schachtel, zögerte eine Weile und machte dann den Deckel auf. In der Schachtel befand sich, ganz in Sägespäne gebettet, die Maske der Zingarella. Sie war ein Teil von Daniels geringem Gepäck, und er führte sie überall mit sich.

Erschrocken prallte Pater Leonhardt zurück. »Was bedeutet das?« fragte er.

»Es bedeutet Sünde, und es bedeutet Reinigung,« antwortete Daniel, indem er die Maske gegen das vergehende Tageslicht hielt; »es bedeutet Schmerz und bedeutet Erlösung, es bedeutet Verzweiflung und bedeutet Gnade, es bedeutet Liebe und bedeutet Tod, es bedeutet Chaos und bedeutet Gestalt.«

Von dem Tag ab richtete Pater Leonhardt das Wort nicht mehr an Daniel. Und wenn der fremde Musiker die Orgel spielte, verließ er eilends die Kirche und floh an einen Ort, wohin die Töne nicht drangen.

Quelle:
Jakob Wassermann: Das Gänsemännchen, Berlin 88-911929, S. 461-462.
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