[489] In kleinen Städten und Dörfern an der Donau brachte er endlich den dritten Satz der prometheischen Symphonie zu Ende. Als er wie aus Fieberdelirien erwachte, war es Herbst geworden.
An einem Morgen im Oktober hörte er einen Heiligen die Orgel spielen. Es war in Sankt Florian bei Enns. Der große Künstler, einst hatte er im Stift gelebt, kam jetzt nur zuweilen, um Zwiesprache mit seinem Gott zu halten. Hingenommen bis ins Innerste, war es Daniel zumut, als sitze sein gekrönter Bruder oben an der Orgel; demütig und erschüttert lauschte er in einem Winkel. Als dann ein Mensch an ihm vorüberging, ein gebückter, hagerer, etwas wunderlicher Greis mit einem sorgendurchfurchten Gesicht und in einem schlechten Anzug, da überwältigte ihn das Grauen vor der Körperlichkeit des Genies, und er erschien sich selber gespensterhaft.
Die Schwalbe schrieb: »Uns kann nur einer erlösen, der Musiker. Die Zeit der Religionsstifter, der Staatengründer, der Waffenhelden und der Entdecker ist vorüber. Vielleicht sogar die Zeit der Dichter. Die Dichter haben nur Worte, und unsere Ohren sind müde von Worten; sie haben nur Bilder und Gestalten, und unsere Augen sind müde vom Sehen. Der letzte Trost der Seele liegt in der Musik, dessen bin ich gewiß. Wenn etwas die verlorenen Illusionen des Glaubens zu ersetzen vermag, wenn etwas uns beschwingen und verwandeln kann, wenn es noch eine Rettung vor dem Abgrund gibt, dem die Menschheit mit verwilderten Sinnen zurast, ist es die Musik. Wo bist du, Erlöser? Heimatlos ziehst du über die Erde, der ärmste, der entbehrendste, der schuldigste, der verlassenste Mensch. Wann bezahlst du deine Schuld, Daniel Nothafft?«
Sieben Monate brachte Daniel in Ravenna, Ferrara,[490] Florenz und Pisa zu. Er suchte nach Handschriften von Frescobaldi, Borghesi und Ercole Pasquini. Als er die wichtigsten gefunden hatte, durfte er das Sammelwerk als abgeschlossen betrachten.
Die Menschen erschienen ihm wie Spielfiguren, die Landschaften wie Malerei auf Glas, er sehnte sich nach Wäldern, und seine Träume wurden wüst.
Von Genua wanderte er zu Fuß durch die Lombardei und über die Alpen. Er schlief in harten Betten, um die Erhitzungen des Blutes zu mindern und nährte sich von Brot und Käse. Die Anfälle von Erschöpfung, denen er ausgesetzt war, beachtete er zuerst nicht, aber in Augsburg stürzte er auf der Straße zusammen. Er wurde in ein Spital geschafft und lag dort drei Monate lang am Typhus. Von seinem Fenster aus sah er Fabrikschlöte und ewig ziehende Wolken. Es war Winter geworden, und der Schnee fiel.
Zwei Jahre nach seinem letzten Abschied betrat er wieder das Haus am Egydienplatz. Als ihn Philippine gewahrte, so abgezehrt und bleich, stieß sie einen Schreckensschrei aus.
Agnes war noch länger, noch dürrer, noch ernsthafter geworden. Bisweilen, wenn sie ihren Vater anschaute, hätte er ihr zornig zurufen mögen: Was soll dein Gefrage? Dabei war kein Wort über ihre Lippen gekommen.
Da Philippine sah, daß Daniel so einsam zurückgekehrt war, wie er ausgezogen war, legte sie in ihrem Benehmen gegen ihn eine eigentümliche Sanftheit an den Tag. Der alte Jordan lebte unverändert dahin. Alles ging seinen vorgeschriebenen Weg, alles war, wie wenn Daniel nicht sechs Jahre, sondern sechs Tage fortgewesen wäre.
Er fühlte sich noch nicht ganz gesund, trotzdem arbeitete er Nacht für Nacht. Der vierte Satz versprach ein Wunder an Polyphonie zu werden. Ursein, Ursehnsucht, Urschmerz tönten in ihm. Der ewige Wanderer gelangte an die Himmelspforte und wurde nicht eingelassen. Überirdisch[491] bewegte Harmonien hatten ihn emporgetragen; dumpfe Paukenschläge bezeichneten sein stehendes Pochen an verschlossenen Toren; drinnen erklang das schauerliche Nein der Posaunen. Umsonst war das Bitten der Geigen, umsonst der Fürspruch des Engels, der zur Rechten stand, auf eine Harfe ohne Saiten gelehnt, umsonst die süße Beschwörung des andern, blumenbekränzten, zur Linken, umsonst der Elfenchor der oberen Stimmen, umsonst die aufschäumende Klage der unteren; hie führt kein Pfad, hieß es, hie ist für ihn kein Raum.
Eines Abends erblickte Daniel am Fenster seiner Stube ein fremdes Mädchen. Sie war schön. Betroffen erhob er sich, um sich ihr zu nähern. Da war sie verschwunden. Es war eine Halluzination gewesen. Er fürchtete sich vor sich selbst, verließ das Haus und wanderte wie in vergangenen Zeiten durch die Gassen.
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