[506] Anfangs gingen sie kurze Wege, die entlegen waren, dann dehnten sie ihre Spaziergänge aus. Am Johannistag wanderten sie nach Kraftshof und zum Irrhain der Pegnitzschäfer. Die Wege zu vermeiden, die er einst mit Lenore gegangen, war Daniel unbewußt bestrebt.
Nicht selten machte ihn Dorotheas überschäumende Laune still und schwer, und er spürte seine Jahre hypochondrisch als Last. War es Schicksalsrache, daß er bisweilen, wenn ein Hügelanstieg kam, den Schritt verlangsamen mußte, während Dorothea vorauseilte und lachend oben wartete?
Sie sah keine Blumen, keine Bäume, keine Tiere, keine Wolken; aber wenn Menschen sichtbar wurden, geschah immer eine Wandlung in ihr; da war immer eine Gebärde mehr; oder ein Zusammenraffen, ein Hinüberspielen. War es auch bloß ein Bauernbursch oder ein Landstreicher, sie drehte sich in den Hüften und lachte um einen Ton höher empor.
Die Jugend ist ihr wie Wein zu Kopf gestiegen, dachte Daniel dann.
Einmal brachte sie eine Tüte Schokoladeplätzchen mit, und als sie sich satt gegessen hatte und Daniel nichts nehmen wollte, warf sie, was übrig war, achtlos auf die Wiese. Daniel tadelte sie deshalb. »Warum soll ich mich schleppen?« war[506] ihre unbefangene Antwort; »wenn man an einer Sache genug hat, wirft man sie weg.« Sie zeigte ihre Zähne und sog gierig die Luft ein.
Daniel betrachtete sie. Die ist gefeit, sagte er sich, die ist unverwundbar in ihrer Wunschkraft und Lebensfülle. Und es wollte ihm scheinen, als sei sie von der Art seiner Eva, der Art jener Lichtelfen, deren Heiterkeit manchmal etwas Grausames an sich hat. Aber nun nahm er sich vor, nicht mehr das tückische Ungefähr walten zu lassen, sondern die Hand auszustrecken, wenn es not tat.
»Wann werden Sie endlich erzählen?« fragte Dorothea; »ich muß, ich muß es wissen,« fügte sie mit Glut des Ausdrucks hinzu, »es gibt mir Tag und Nacht keine Ruhe.«
Das war die Wahrheit. Um in seine Vergangenheit einzudringen, die sie sich von bunten und leidenschaftlichen Begebenheiten erfüllt vorstellte, hätte sie alles getan, was er von ihr gefordert hätte.
Daniel weigerte sich stumm. Er glaubte, den reinen Sinn des Mädchens zu trüben, ihre Ahnungslosigkeit zu gefährden. Und er hatte Furcht davor, die Schatten heraufzubeschwören.
Eines Tages plauderte sie in ihrer leichten Weise, und im Plaudern verstrickte sie sich. Sie hatte begonnen, ihm von den Männern zu berichten, mit denen sie sich abgab, und war dabei unversehens in den Ton gefallen, in welchem sie darüber zu ihrem Onkel Carovius sprach. Als sie ihrer Unvorsichtigkeit inne wurde, stockte sie verlegen. Daniels ernste Fragen zwangen ihr Geständnisse ab, die sie freiwillig nie gemacht hätte; da kam dann viel Trübes und Häßliches zutage, und es war schwer für sie, sich ganz unschuldig und als Opfer hinzustellen. Zuletzt, da sie nicht mehr entrinnen konnte, mischte sie die Farben zum grellsten Bild und wartete ängstlich und angenehm erregt auf die Wirkung.
Daniel schwieg eine Weile, dann bewegte er die flache[507] Hand, als schnitte er etwas entzwei und sagte schroff: »Weg von denen, Dorothea, oder weg von mir!«
Dorothea senkte den Kopf und sah ihn scheu von unten her an. Die Entschiedenheit, mit der er sprach, war ihr neu, mißfiel ihr aber keineswegs. Ein wollüstiger Schauer lief über ihre Glieder. »Ja,« flüsterte sie magdhaft, »ich will ein Ende machen. Ich hab ja gar nicht gewußt, was das alles eigentlich bedeutet. Sei'n Sie mir nur nicht böse. Nicht bös sein, gelt?«
Sie trat näher zu ihm heran; ihre Augen waren feucht umschleiert. »Nicht zornig sein,« bat sie noch einmal, »die arme Dorothea kann ja nichts dafür.«
»Wie ist's denn möglich!« sagte Daniel; »hat Ihnen denn nicht geekelt bis ins Herz? Wie ist's möglich, mit dem Gedanken an solche Hyänen unter Gottes freiem Himmel zu wandeln? Mädchen, in mir zweifelt alles.«
»Was hätt ich tun sollen, Daniel,« antwortete sie, und zum erstenmal nannte sie ihn beim Vornamen, mit einer tiefberechneten Mischung von Unterwürfigkeit und Kühnheit, die ihn bezauberte und rührte; »was hätt ich tun sollen! Sie kommen, sie reden, sie spinnen einen ein, zu Haus ist's so traurig, das Herz ist so öd, der Vater ist so schlecht mit einem, man hat niemand, keinen Menschen auf der Welt!«
Sie setzten ihren Weg fort. Es war ein Waldtal, durch das sie gingen, rechts und links standen hohe Fichten, auf deren Kronen die Abendsonne lag.
»Das Schicksal läßt nicht mit sich spaßen, Dorothea,« sagte Daniel; »es verstattet uns keine Sudeleien und Manschereien, wenn wir in unserer Seelenkraft vor ihm bestehen wollen. Unbestechlich führt es Buch über unser Soll und Haben, und alle Schulden, die wir machen, müssen irgendwo und -wann bezahlt werden.«
Dorothea fühlte, daß er im Zuge war, daß nun das Große, Beglückende kam. Sie blieb stehen, breitete ihren[508] Schal auf die Erde und setzte sich in anmutig aufmerksamer Haltung hin. Daniel warf sich neben ihr ins Moos.
Und er erzählte, ins Moos hinein, wo kleine Tiere krochen. Er erhob das Auge nicht, die Stimme nicht. Manchmal mußte Dorothea den Kopf niederbeugen, um besser zu hören.
Er erzählte von Gertrud, ihrer Dumpfheit, ihrer Erweckung, ihrer Liebe, ihrem Verzicht; von Lenore, wie er sie geliebt, ohne es zu ahnen. Und wie Lenore im Übermaß des Leidens und der Liebe die Seine geworden, und wie dann Gertrud herumgeirrt war, unselig verloren und sich getötet hatte. »Da kamen wir auf den Dachboden, und da war Feuer, und sie hing als Leiche an einer Zuckerschnur.«
Und wie Gertrud als Schatten neben Lenore weitergelebt, und wie Lenore Blumenbinderin gewesen, und wie Philippine, die unbegreifliche, heute noch unbegreifliche Philippine ins Haus gekommen, und Gertruds Kind wie ein frierender Findling da gelebt, und wie dennoch das andere Kind, das Kind der Magd, ihm ans Herz gewachsen war.
Und das Zusammenkommen, das Sprechen und Schweigen, das Begegnen auf den Gassen, das Hin und Her in Stuben, das Aufklingen von Liedern, das frühe Wandern mit Dörmauls Truppe, das Hereinleuchten einer Maske in das ungeschmückte Leben, und den Freund, die Hilfe, die er geleistet, den Abschied von ihm, das Bürstenmachershaus am Jakobsplatz, die drei sonderbaren Fräulein in der Langen Zeile, die Tage in Schloß Erfft, den alten Vater der Schwestern und sein geheimnisvolles Treiben, das alles schilderte er wie einer, der aus dem Schlaf redet, und es war ein Vertrauen darin, das vielleicht die schwebenden Geister der abendlichen Natur erschütterte, aber Dorotheas metallisch glänzende Augen mit keinem innigeren Licht begabte.
Als er emporschaute, war es ihm, als gewahre er zwei dunkle Gestalten am Rand des Waldes, Schwestern, die trauernd und vorwurfsvoll nach ihm blickten.[509]
Er erhob sich. »Und das alles,« schloß er, »das alles, Mädchen, ist, wie Regenwasser von trockenem Boden, aufgetrunken worden von einem Werk, an dem ich nun seit sieben Jahren schaffe. Seit sieben Jahren. Noch zwei, und ich geb's der Welt, falls nicht vorher der schwanke Erdball in die Sonne stürzt.«
Ganz von ungefähr, ganz verworren ahnte Dorothea, was für ein Mensch vor ihr stand. Sie spürte ein prickelndes Gelüste nach ihm, wie sie es bis jetzt nach seinen Erlebnissen gespürt. Sie begann ihn zu lieben, in ihrer Weise. Es trieb sie, sich bei ihm zu bergen, wie es einen Vogel bei Anbruch der Nacht unter den Wipfel eines Baumes treibt. Daniel begriff, daß die schüchterne Bewegung, mit der sie ihren Arm in seinen schob, Dankbarkeit bezeigen sollte.
So führte er sie der Stadt entgegen.
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