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[511] Unter den Freiern, auf die Andreas Döderlein ein Auge geworfen hatte, befand sich auch der Mühlenbesitzer Weißkopf, ein Liebhaber der Musik. Er hatte Dorothea seinerzeit im Konzert bewundert und ihr einen Lorbeerkranz geschickt.[511]

Eines Mittags war Weißkopf zum Essen dagewesen, und als er fortgegangen war, sagte Döderlein zu seiner Tochter: »Meine liebe Dorothea, du darfst dich von heute ab als eine Braut betrachten. Dieser vorzügliche Mensch begehrt dich zum Eheweib. Es ist ein Glücksfall, der Mann ist reich wie Krösus.«

Statt zu antworten, lachte Dorothea nur belustigt auf. Aber sie wußte nun, daß etwas geschehen müsse, und in ihrem beweglichen Gesicht zuckten Hohn, Furcht und Begierde.

»Überlege dir's, überschlafe es, ich habe dem Manne bis morgen Bescheid versprochen,« sagte Andreas Döderlein finster.

Schon vor einer Woche hatte Andreas Döderlein in der sicheren Erwartung des Heiratsantrags den Mühlenbesitzer um ein Darlehen von tausend Mark ersucht. Der Mühlenbesitzer hatte ihm das Geld gegeben und glaubte dadurch gleichsam eine Wechselpromesse auf Dorothea zu haben. Döderlein hatte sich gebunden und war fest entschlossen, das Heiratsprojekt durchzusetzen.

Doch Dorotheas Betragen ließ Auflehnung vermuten. Er war in Sorge. Er sann auf Zerstreuung. Vor sechzehn Jahren hatte er einmal eine Komposition begonnen, die den Titel führte: Allerseelen, ein symphonisches Gemälde. Fünf Seiten Partitur waren damals niedergeschrieben worden, seitdem hatte er sich keiner produktiven Arbeit mehr unterzogen. Er kramte die Handschrift aus einer Schublade und setzte sich damit aus Klavier. Er wollte dort wieder anknüpfen, wo er vor sechzehn Jahren den Faden verloren hatte, als ob die Pause in einem Mittagsschläfchen bestanden hätte.

Es ging nicht. Er seufzte tief. Stumm saß er vor dem Instrument, starrte auf das Papier wie ein Schüler, der eine Rechnung lösen soll, zu der er die Regel vergessen hat und betrauerte den Verlust seiner künstlerischen Kraft. Es war[512] alles so leer innen. Die Noten grinsten ihn spöttisch an, und seine Gedanken kehrten ungehorsam immer wieder zu dem Mühlenbesitzer zurück. Eine Weile phantasierte er auf den Tasten, da steckte Dorothea den Kopf zur Türe herein und sang mit: »Rheingold, Rheingold, reines Gold.«

Wütend schlug er den Deckel zu, nahm Hut und Mantel und verließ das Haus, um den heimlichen Weg in die Vorstadt anzutreten.

Als er in der Nacht zurückkam, sah er unterm Haustor Dorothea mit einem Mann stehen. Es war der Schauspieler Edmund Hahn. Im Flüsterton führten sie ein ziemlich erlegtes Gespräch, der Mann hielt Dorothea an den Armen gepackt, aber als Andreas Döderlein sichtbar aus dem Dunkel der Straße auftauchte, stieß er einen Fluch aus und verschwand eilig.

Dorothea schaute ihrem Vater frech ins Gesicht und folgte ihm dann ins dunkle Haus.

Oben, als er Licht angezündet hatte, wandte sich Döderlein ihr zu und fragte drohend: »Was bedeuten diese unzüchtigen Zusammenkünfte? Antwort will ich haben.«

»Ich mag deinen Mehlsack nicht heiraten, da hast du meine Antwort,« versetzte Dorothea und warf trotzig den Kopf zurück.

»Na, das werden wir ja sehen,« sagte Döderlein, bleich vor Zorn, und pflügte mit den Fingern durch die schütter gewordene Lockenmähne, »das werden wir ja sehen. Marsch hinaus jetzt mit dir, ich habe nicht Lust, mich von einer solchen undankbaren Kröte um den wohlverdienten Schlaf bringen zu lassen. Morgen reden wir weiter.«

Am andern Morgen eilte Dorothea zu Herrn Carovius. »Onkelchen,« stammelte sie, »er will mich an den Mehlsack verkuppeln.«

»So? Da werd ich dem Dreipfennigmusikanten wieder einmal auf die Bude steigen müssen,« sagte Herr Carovius.[513] »Nur ruhig, Kindchen, nur ruhig!« fügte er hinzu und streichelte zärtlich ihre braunen Haare, »der alte Carovius lebt noch.«

Dorothea schmiegte sich an ihn und lächelte. »Was würdest du sagen, Onkelchen,« begann sie mit schelmischem und zugleich sehr aufmerksamem Blick, »wenn ich den Daniel Nothafft zum Mann nähme? Der gefällt dir doch,« fuhr sie schmeichelnd fort und hielt ihn, als er zurückwich, bei den Schultern fest, »der muß dir doch gefallen. Einen will ich endlich haben, eine alte Jungfer will ich nicht werden, und beim Vater halt ich's nimmer aus.«

Herr Carovius riß sich los. »Ins Tollhaus mit dir, du Kanaille!« schrie er. »Da wollt ich lieber, du gingst mit dem Mehlsack ins Bett. Ist der Gottseibeiuns in dich gefahren, Dirne? Juckt dich die Haut, dann kratz dich, oder nimm dir meinetwegen einen Stallknecht dazu wie die selige Kaiserin Katharina. Schaff dir schöne Kleider an, behäng dich mit Firlefanz, geh tanzen und sauf Champagner, mach Musik oder schmeiß deine Geige auf den Misthaufen, treib was du willst, ich geb dir Geld, soviel du willst, aber den grünäugigen Phantasten, den habergasigen Rattenfänger, den Weiberfresser und Unmusikanten, den schick seiner Wege, das tu mir um Gottes und seiner Heiligen willen nicht an, sonst ist's aus zwischen uns, sonst hab ich nichts mehr mit dir zu schaffen.«

Ein solcher Haß, eine solche Angst war in Herrn Carovius' Gesicht, daß Dorothea staunte. Seine Haare waren verwirrt wie die Reiser eines Vogelnests, aus seinen Mundwinkeln rann Nässe, die Augen loderten rötlich, der Zwicker saß auf der Spitze der Nase.

Nichts hätte Dorothea mehr locken und reizen können als die Worte, die sie über Daniel vernommen, als das Gebaren des Herrn Carovius. Ihre Augen blickten groß, ihr Mund öffnete sich lüstern. War noch ein Schwanken in ihr gewesen, jetzt war keines mehr. Sie liebte das Geld; sie war mit Habsucht in der Brust geboren; aber wenn Herr Carovius[514] ihr alle seine Schätze zu Füßen gelegt und dagegen gefordert hätte, sie solle Daniel entsagen, sie hätte es nicht vermocht, jetzt nicht mehr.

Etwas grauenhaft Angenehmes zog sie nun zu dem hin, den sie so verfluchen hörte, so gefürchtet sah. In seiner Nähe war das Prickeln sinnlicher Gefahr heftiger als in der Nähe aller andern Männer, die sie kannte. Er war ihr rätselhaft und unzugänglich; sie wollte ihn erraten und aufschließen. Er hatte so viele besessen, gewiß mehr, als er bekannt hatte; sie wollte ihn besitzen. Er war so still, so klug, so fest; sie wollte Stille, Klugheit und Festigkeit von ihm haben, alles wollte sie haben, allen Zauber, alle Menschenmacht und alles, was er verbarg, alles wollte sie von ihm haben.

Sie dachte fortwährend an ihn, nur an ihn. Ihre Gedanken umflatterten sein Bild, scheu, begierig und spielerisch. Er hatte es verstanden, einen Willen und eine Einheit in ihre Sinne zu bringen. Sie wollte ihn haben.

Der Regen klatschte ans Fenster. Voll Schrecken über Dorotheas Versonnenheit preßte Herr Carovius beide Hände an die Backen. »Ich seh schon, du willst mich allein lassen,« wehklagte er schauerlich, und es klang wie das Geheul eines Hundes in der Winternacht; »betrügen willst du mich, zum Feind willst du übergehen, und ich soll meine vier Wände anglotzen. Ich seh schon, ich seh schon.«

»Sei still, Onkelchen, es geschieht ja nichts, es war ja nur ein Scherz,« sagte Dorothea heuchlerisch begütigend und ging mit zögernden Schritten, bisweilen lächelnd zurückschauend, zur Tür.

Quelle:
Jakob Wassermann: Das Gänsemännchen, Berlin 88-911929, S. 511-515.
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