[50] Auf der Wiese vor dem künstlichen Wasserfall spielte Christian mit einigen jungen Mädchen ein Fangspiel nach Art der Kinder. Sie lachten unaufhörlich, Jünglinge standen im Kreis herum und sahen halb spöttisch, halb belustigt zu.
Im Laub der Bäume hingen elektrische Birnen aus grünem[50] Glas; sie waren so gut versteckt, daß der Rasen durch seine eigne Farbe beleuchtet schien.
Christian gab sich dem Spiel mit einer Lässigkeit hin, die seine Partnerinnen reizte. Sie wollten es wichtiger genommen haben und ärgerten sich, daß er sie trotzdem so mühelos erhaschte. Die junge Meerholz war dabei, Sidonie von Gröben, das schöne Fräulein von Einsiedel.
Da kam auch Lätizia hinzu. Sie stellte sich in die Mitte des Platzes, ließ Christian ganz nahe kommen und entwischte flinker, als er berechnet hatte. Er wandte sich zu den andern, doch immer wieder flatterte Lätizia vor ihm her. Glaubte er sie zu fassen, so war sie schon wieder sprungweit weg. Einmal hatte er sie an die Taxushecke getrieben, da schlüpfte sie ins Laub und war verschwunden. Ihre Bewegungen, ihr Laufen, ihr Umkehren, ihre fröhliche Leidenschaft hatten etwas Fesselndes; sie lockte mit kleinen, lachenden Rufen aus dem Busch wie ein Vogel. Nun lauerte er ihr auf, und die Zuschauer wurden neugierig.
Als sie wieder zum Vorschein kam, tat er, wie wenn er ihrer nicht achte, aber plötzlich lief er mit wunderbarer Schnelligkeit zum Rand des Wasserbeckens, wo sie stand. Sie aber war noch schneller, und da die andern Fluchtwege versperrt waren, sprang sie auf den Felsen, sprang jauchzend von Stein zu Stein, ohne sich umzusehen und ohne mit den Händen nachzuhelfen. Ihr Kleid mit den feinen Falten und offenen Ärmeln flog, und als Christian sie verfolgte, klatschten sie unten Beifall.
Es war dunkel hier oben, Lätizias Schuhe wurden vom Wasser benetzt, ihr Fuß stockte, aber bevor Christian sie erreicht hatte, schwang sie sich noch auf einen mächtigen Block zwischen zwei Tannen, wie um sich dort zu verteidigen oder noch weiter zu klettern. Doch auf dem schlüpfrigen Moos glitt sie aus; sie schrie leise, denn sie wußte, jetzt hatte er sie gefangen.
Er hatte sie gefangen, aufgefangen und hielt sie in seinen[51] Armen. Sie blieb ganz still, bemüht, den erregten Atem zur Ruhe zu bringen. Auch Christians Atem ging heftig, und es wunderte ihn nur, daß das Mädchen so still blieb. Er fühlte ihre schöne Gestalt und zog sie ein wenig näher zu sich, mit jenem unterdrückten Lachen, das kalt und übermütig klang. Mondlicht fiel durchs Gezweig und machte sein Gesicht außerordentlich schön. Lätizia sah seine großen weißen Zähne glitzern, sie machte sich von ihm los und schlang den linken Arm um den Stamm der Tanne.
Da war nun alles, wonach sie sich gesehnt hatte. Da war Gefahr und Begehrtsein, Mondnacht und Wildnis, ferne Musik und heimliches Beisammensein. Aber ihr Blut war ruhig, sie war noch ein Kind.
Wie Christian das an den Baum geschmiegte Mädchen anschaute, mit ihren verwirrten Haaren, den brennenden Wangen, den feuchten Augen und feuchten Lippen, maß er die Linie ihres Körpers, schmeckte er schon die Kühle ihrer Haut, roch er ihren unschuldigen Atem. Er zögerte nicht mehr, sich der Beute zu bemächtigen. Da gab es kein Bedenken.
Er griff nach ihrer Hand; plötzlich gewahrte er eine Kröte, die mit ekelhafter Langsamkeit über Lätizias weißes Kleid kroch, erst über den unteren Saum, dann gegen die Hüfte empor. Er erblaßte und kehrte sich ab. »Die andern warten vielleicht, wir müssen zurück,« sagte er und fing an über die Felsen hinunterzugehen.
Mit starren Augen sah ihm Lätizia nach. Das feurige Gefühl von sich selbst als einem Märchenwesen, Diana oder Melusine, wurde zum Schmerz, und sie brach in Tränen aus. Sie wußte das Geschehene auf keine Weise zu deuten, und ihr Kummer hielt so lange an, bis sie sich durch irgendeine reizvolle Verknüpfung das Unverständliche doppelt unverständlich, aber für ihr Gemüt tröstlich gemacht hatte. Da trocknete sie ihr Gesicht ab und lächelte wieder.
Die Kröte hüpfte lautlos ins Moos, als Lätizia sich erhob.[52]
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
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