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[156] »Du lügst ja!« schrie Karen auf, als ihr Christian die Kassette reichte. Er hatte nicht einmal gesprochen, aber seine Gebärde verhieß das Unglaubwürdigste. Darum schrie sie, um sich vor verfrühter Freude zu wahren: »Du lügst ja!«

Unbeschreibliche Gier, mit der sie das Schloß öffnete, den Deckel hob! Unter ihrer Haut flüchtete das Blut. In der Kehle würgte es. Da lagen die Perlen, da strahlten sie milchig, mit lila und rosigen Tinten. »Die Tür zu, sperr die Tür zu,« fauchte sie, kam seiner Langsamkeit zuvor, stürzte hin, einen Stuhl umstoßend, und drehte den Schlüssel zweimal. Dann stand sie und preßte die Hände an den Kopf. Dann eilte sie wieder zur Kassette.

Schüchtern befühlte sie die Perlen mit den Fingerspitzen. Ein doppelter Schrecken: erstens waren sie warm wie lebendes Fleisch; zweitens wollte ihr dünken, daß der Griff trotz ihrer Zaghaftigkeit zu grob gewesen sei. Sie heftete auf Christian einen Blick, ängstlich wie das Flattern eines flugkranken Vogels. Plötzlich packte sie mit beiden Händen brutal seine Linke, riß sie zu sich, beugte sich nieder und drückte ihren Mund darauf.

»Laß das, Karen,« stotterte Christian betroffen, konnte aber seine Hand aus der eisernen Umklammerung nicht lösen. Länger denn eine Minute blieb sie so, gebückt, mit gebogenen Knien, über seine Hand hingeworfen, und unter dem grauen Stoff sah er ihren Rücken zittern. »Sei vernünftig, Karen,« redete er ihr zu, und redete sich selber zu, daß es keine Erschütterung sei, die sich seiner bemächtigte, keine Tiefe einer Seele, in die er schaute; »was tust du, Karen? Laß das doch!«

Sie ließ ihn, und er ging. Hinter ihm schloß sie wieder die Tür. Sonderbarerweise entledigte sie sich nun der Schuhe und näherte sich auf Strümpfen dem Schatz in der Kassette. Ohne den Augenschein wagte sie noch immer nicht zu glauben.[157] Es waren furchtsam aneinandergesetzte Gebärden, mit denen sie die Schnur aus dem Behältnis nahm. Bei jedem Klirren seufzte sie und sah sich um. Die unerwartete Länge der Kette erregte ihre Bestürzung, ebenso wie die unerwartete Schwere. Zärtlich ließ sie sie auf den Boden niedergleiten, folgte mit den Knien, mit dem Rumpf, mit dem ganzen Körper, lag zuletzt bäuchlings, mit Lippen, Atem und Auge dem glitzernd Herrlichen so nah wie möglich. Zählte; zählte wieder; irrte sich; einmal zählte sie hundertdreiunddreißig, das andere Mal hundertsiebenunddreißig; verzichtete auf das Zählen; besah einzelne Kugeln; behauchte sie; befeuchtete den Zeigefinger und tastete; horchte auf ein Geräusch im Flur; vertiefte sich wieder grenzenlos ins Schauen; versetzte sich in Räume, wo das zauberische Gebilde schon geleuchtet haben mochte, in Frauen, an deren Hals es gehangen haben mochte, in Begebenheiten, in die es verstrickt gewesen sein mochte; spürte Schauer über sich rieseln, kämpfte mit dem Gelüst, es selber um den Hals zu tun, was wie Vermessenheit war, dann aber doch ausführbar schien; erhob sich leise, nahm die Kette mit zwei Händen auf, schlüpfte in den weiten Ring, reckte sich, fühlte sich verwandelt, ging auf Zehen vor den Spiegel und spähte aus Spalten zwischen den Lidern: es war! es war da! sie und es zugleich! wie die Frau auf dem Bild! Perlen hingen um sie herum, Perlen!

So war der Abend, so war die Nacht. Kein Schlaf. Die Perlen im Bett, neben ihr, dicht an der Brust, warm an der Haut. Fühlen, immer wieder fühlen, daß sie da waren; auf Stimmen im Haus lauschen, die wie Drohung von Raub beunruhigten; Licht anzünden und sehen; schon hatten einzelne Perlen Gesichter, hatten Münder, die erzählten, unterschieden sich von andern durch blassere Färbung oder leiseres Karmin, gaben sich vertrauter oder fremder; aber alle zusammen waren das schimmernde Wunder, das neue Leben.

So war auch der Tag und so die andere Nacht. Daß Krankheit[158] im Körper wühlte, wußte sie; sie hatte den Ausbruch erwartet, doch war es kein tobendes Hervorbrechen, sondern ein tückisches Glimmen; langsam wurde Teil um Teil erfaßt, und die freie Beweglichkeit war zu Ende. Sie wußte auch, daß es keine gewöhnliche Krankheit war, von der man sich nach ein paar Tagen erholt; sie empfand es als einen Prozeß von Reife, der zum Fall der Frucht führt, Zusammenschluß feindlicher Kräfte, die vorher zerstreut und in verschiedenen Zeiten gewütet hatten. Das gelebte Leben brachte die Rechnung zum Vorschein, das war es; ein Arzt im Hamburger Spital hatte es ihr vor Monaten prophezeit. Nun war es an dem. Sie machte nicht viel Aufhebens von ihrem Zustand, blieb einfach im Bette liegen; Schmerzen hatte sie nicht, Fieber nur wenig.

Das Liegen machte sie nicht ungeduldig; sie war froh über den Zwang. Eine bessere Manier, die Perlen zu bewachen und zu hüten gab es nicht. Da konnte kommen, wer wollte, sie hatte ihren Schatz am Leibe, an der Brust oder im Schoß, war seiner sicher in jeder Minute, mit jeder Regung, und niemand merkte etwas davon. Sie malte sich aus, was sie sagen, was sie tun würden, wenn sie ihnen zeigte, was sie heimlich besaß, wenn sie einen von denen rufen würde, die unwissend an der Tür draußen vorübergingen, Stiege hinauf, Stiege hinunter, oder einen von der Straße, vom Wirtshaus, von der Destille, einen Kerl, der sich die ganze Woche lang schinden mußte, ein Weib, das sich für drei Mark verkaufte, oder eines, das sieben Kinder zu füttern hatte. Sie blickte in verschwiegenem Triumph durch das Fenster über die Fensterreihen jenseits der Straße; da hausten lauter solche, die das Elend drosselte und in denen der Kummer winselte. Da krochen sie in den Stockwerken herum wie die Ameisen, von der Kellerwohnung bis in die Mansarde hinauf, und ahnten nichts von Karens Perlen. Karens Perlen; wie das klang, wie das sang! was das Wort enthielt, wie es blinkerte und zwinkerte! Karens Perlen ...[159]

Aber die Verhehlung wurde Beschwer. Man genoß es nicht so, wie man es hätte genießen können, wenn noch ein Mensch daran teilgenommen hätte; zwei Augen zum mindesten brauchte man noch außer den eigenen. Sie dachte an Isolde Schumacher; aber die war zu schwatzhaft und zu blöde. Sie dachte an Gisevius' Weib, dann an die Näherin vom vierten Stock, dann an die Kammecke, die den Trödlerladen unten hatte, dann an Amadeus Voß.

Zuletzt verfiel sie auf Ruth Hofmann, und diese dünkte ihr am ungefährlichsten, der wollte sie die Perlen zeigen.

Unter dem Vorwand, das Mädchen solle ihr von der Apotheke etwas mitbringen, schickte sie zu Hofmanns hinüber, und Ruth kam, um zu fragen, was sie besorgen solle. Da wartete Karen, bis die Schirmacher das Zimmer verlassen hatte, dann richtete sie sich im Bett auf und bedeutete dem Mädchen, es möge den Riegel an der Tür vorschieben. Dann sagte sie: »Kommen Sie mal her,« und zog die Bettdecke zurück, da lagen die Perlen in einem dichten Haufen auf dem Linnen. »Sehen Sie sich das mal an,« sagte sie, »das sind echte Perlen und sind mein, aber wenn Sie mit jemand drüber reden, dann gnade Ihnen Gott, dann sollen Sie Karen Engelschall kennenlernen.«

Ruth staunte. Sie staunte nicht weiberhaft-begehrlich, sondern wie ein Mensch von Phantasie über ein außerordentliches Naturspiel. Ihr frisches Gesicht hatte eine Gespanntheit, die nur freudige Elemente enthielt. »Woher haben Sie das?« fragte sie naiv; »das ist ja wundervoll. Ich hab so was nie gesehn. Gehören sie Ihnen, alle die Perlen? Mein Gott, davon liest man ja nur in Tausendundeine Nacht.« Sie kniete am Bett nieder, stellte ihre Hände zu beiden Seiten des Perlenhaufens flach auf und lächelte. Die Hängelampe brannte; in dem ziemlich düstern Licht hatten die Perlen einen purpurn flaumigen Glanz und schienen durch rotierendes Blut gemeinsam beseelt.[160]

Karen ärgerte sich, war aber fast so glücklich, wie sie sich eingebildet hatte, in der Überraschung eines Beschauers zu sein. »Dumme Frage, ob sie mir gehören,« zürnte sie; »meinen Sie vielleicht, ich hätt sie gestohlen? Es sind seiner Mutter Perlen,« fügte sie geheimnisvoll hinzu, den Kopf zu Ruths Ohr neigend, wobei sie einen Augenblick stutzte über den reinen Duft, einen Duft wie Gras und feuchte Erde im Februar, der von dem Mädchen ausströmte; »seiner Mutter Perlen, und mir hat er sie gebracht.« Sie wußte nicht, einen wie ergriffenen Ton ihre Stimme hatte, als sie von Christian sprach; Ruth horchte auf bei dem Ton; allerlei Zweifeln und Raten nahm ein Ende.

»Was fehlt Ihnen denn?« fragte sie und erhob sich.

»Weiß nicht, was mir fehlt,« antwortete Karen, die Perlen wieder zudeckend; »vielleicht gar nichts. Ich liege eben. Manchmal tut einem das Liegen gut.«

»Ist denn jemand bei Ihnen in der Nacht? Es kann ja sein, daß Sie etwas brauchen; ist da jemand bei Ihnen?«

»Gott, ich brauche nie was,« versetzte Karen möglichst gleichgültig; »und wenn, ich kann doch aus dem Bett steigen und mirs holen; so schlecht geht mirs nicht, daß ich das nicht könnte.« Aus ihren Zügen verschwand das Rohe und machte einem Ausdruck unbeholfener Verwunderung Platz, als sie hastig fortfuhr: »Er hat mir angeboten, daß er die Nacht über in der Wohnung bleiben will. Er will auf dem Sofa schlafen, damit ich ihn wecken kann, wenn mir nicht gut ist. Das mache ihm gar nichts aus, sagte er, er wolle es gern tun. Er sitzt schon immer den ganzen Abend dort am Tisch und studiert in seinen Büchern. Wozu studiert er denn so viel? Hat er denn das nötig, so einer? Aber was sagen Sie dazu, daß er da schlafen will und aufpassen? Ist das nicht närrisch?«

»Gar nicht närrisch,« versetzte Ruth, »das kann ich durchaus nicht finden. Ich wollte Ihnen eigentlich dasselbe vorschlagen. Herr Christian und ich könnten ja abwechseln. Eine Nacht[161] er, eine Nacht ich. Ich kann ja auch dabei arbeiten. Ich meine nur, im Fall es nötig werden sollte. Einen kranken Menschen in der Nacht allein zu lassen, das geht nicht an.« Sie schüttelte den Kopf, und ihre aschblonden Haare bewegten sich nach rechts und links.

»Was ihr für komische Menschen seid,« sagte Karen und schob den gelben Haarwust bis an die Augen herab, »wahrhaftig, komische Menschen.« Sie tat, als suche sie etwas auf dem Bett, und ihre Augen, die sich zu blicken weigerten, flohen in ängstlicher Eile.

Ruth beschloß, mit Christian über die Nachtwachen zu sprechen.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 156-162.
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