[162] Sie sprach mit ihm, aber Christian schlug es ihr ab. Er sagte, es bedürfe der Nachtwachen nicht. Es widerstrebte ihm, sie mit einer solchen Aufgabe zu betrauen. Obgleich sie ihn durch die Klarheit und Reife ihres Wesens in Erstaunen setzte, sah er doch ein Kind in ihr, das um so mehr geschont werden mußte, als es sich selbst nicht schonte.
Das spürte Ruth; gegen jeden andern hätte sie sich aufgelehnt; ihm fügte sie sich.
Sie hatte viel über ihn nachgedacht. Sie war zu ganz bestimmten Schlüssen gelangt, die nicht weit von der Wahrheit entfernt waren. Wohl hatte sie dies und jenes reden gehört, im Hause und von Karen Engelschall, aber Augenschein und Instinkt hatten sie besser belehrt. Was allen rätselhaft war, schien ihr selbstverständlich. Sie wunderte sich niemals über das Seltene; sie wunderte sich nur über das Gemeine.
Karen hatte ihr anfangs tiefen Schrecken eingeflößt; die traurigen Verhältnisse, in denen sie selbst seit früher Jugend gelebt, hatten sie mit vielen häßlichen Erscheinungen der[162] sozialen Welt fortwährend in Berührung gebracht; ein so böses und verwildertes Weib war ihr trotzdem noch nie begegnet. Sie mußte jedesmal einen Widerstand überwinden, bevor sie ihr nahte.
Aber es geschah, daß sie einst ins Zimmer trat, den Morgen nach der Entbindung, bei der sie geholfen, und daß Christian da war; sie sah, wie er dem Weibe auf einem irdenen Untersatz ein Glas Rotwein aus Bett brachte. Er lächelte verlegen, und seine Handreichung war ziemlich ungeschickt. Da hatte sie alles begriffen; da wußte sie, woher er kam und woher das Weib kam und was sie zueinander geführt und warum sie beisammen waren. Dies Wissen dünkte ihr so schön, daß sie dunkelrot wurde und schnell das Zimmer verließ, um nicht vor Freude zu lachen oder sonst etwas Anstoßerregendes zu tun.
Seitdem betrachtete sie Karen Engelschall nicht mehr mit Scheu oder Abscheu, sondern mit einer natürlichen, wenigstens ihr natürlichen Empfindung von Schwesterlichkeit.
Dann kam das mit den Perlen. Von dem Gehänge, das ihr das Weib fieberhaft verzückt zeigte, ahnte sie den Wert bloß aus den behutsam tastenden Fingern und dem kranken Leuchten der Augen. Sie war aber am stärksten nicht von den Perlen betroffen, nicht von Karen, von Karens grauenvollem Glück, sondern von Christians Handlungsweise, die sie erraten hatte.
Eines Sonntag Abends, als Isolde Schirmacher mit einem Gesellen ihres Vaters ausgegangen war, läutete Christian an der Hofmannschen Wohnung und bat Ruth, sie möge von der öffentlichen Sprechstelle in der Bornholmer Straße einem Arzt telephonieren; Karen befinde sich schlechter; ohne über Schmerzen zu klagen, liege sie still und erschöpft. Ruth eilte gleich selbst zu dem ihr bekannten Doktor Voltolini in der Gleimstraße und brachte ihn. Er untersuchte Karen, machte aus seiner Unsicherheit gegenüber den Symptomen keinen Hehl und gab einige allgemeine Ratschläge. Nachher saßen[163] Ruth und Christian am Bett. Karen blickte mit weit offenen Augen in die Höhe. Ihr Mienenspiel veränderte sich beständig. Ihr Atem ging regelmäßig, aber hastig. Bisweilen seufzte sie. Bisweilen huschte ein schneller Blick in die Richtung, wo Christian saß, über ihn hinweg, an ihm vorbei. Ein paarmal starrte sie Ruth durchdringend an.
Am andern Tag kam Christian zu Ruth. Sie war allein. Sie war meist allein. Mit der Feder in der Hand öffnete sie die Zimmertür, die verriegelt war, da sie unmittelbar ins Treppenhaus führte. Ihr Blick war in einer anziehenden, geistigen Art verwirrt, doch auf Christians Frage, ob er störe, erwiderte sie mit einem Nein von beruhigender Entschiedenheit.
Er bot ihr die Hand; sie gab die ihre mit einem leichten Schwung, jungenhaft frisch.
Sie war gesprächig. Es war alles flink an ihr: Gang, Auge, Sprache, Entschluß und Tat.
»Ich muß sehen, wie Sie hausen,« erklärte sie und kam an einem der nächsten Vormittage zu ihm ins Quergebäude; ein bißchen atemlos, denn sie war nach ihrer Gewohnheit die Treppen herabgerannt, immer zwei Stufen auf einmal. Ungeniert musterte sie den Raum, verbarg einen tiefen Ernst hinter munterer Beweglichkeit, setzte sich harmlos auf die Tischkante, zog aus der Tasche einen Apfel und biß hinein. Sie sagte, sie habe wegen Karen mit einer ihr bekannten Assistentin an der Poliklinik gesprochen; sie wolle kommen und Karen untersuchen.
Christian dankte ihr. »Ich glaube, daß da Ärzte nicht viel helfen können,« sagte er.
»Warum nicht?«
»Ich kann es nicht begründen. Die Natur geht einen so logischen Weg in allem, was Karen betrifft.«
»Vielleicht haben Sie recht,« antwortete Ruth, »aber das läßt auf wenig Vertrauen zur ärztlichen Wissenschaft schließen. Ist es so? Weshalb studieren Sie dann Medizin?«[164]
»Reiner Zufall. Von hundert Türen ins Freie eine, auf die einer wies. Es schien mir, man könnte da am ehesten gebraucht werden. Man hat zu tun, ein Ziel ist gegeben. Was drum und dran hängt: – Menschen; es sind eben Menschen.« Triftigeres, das er hätte erwidern können und in ihm wühlte, war noch nicht reif für das Wort; darum hielt er sich im Banalen.
»Ja, Menschen,« sagte Ruth und blickte ihn forschend an. Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Sie müssen vieles wissen. In Ihnen muß vieles sein.«
»Wie –? Wie meinen Sie das: vieles sein?«
Sie war der erste Mensch, in dessen Gesellschaft er sich von dem Zwang zur Verstellung und Vorsicht ganz frei fühlte. Da war ein reines Element, aufgeschlossen, enthusiastisch, mitlebend, mitschwingend; der Instinkt eines jungen Tieres, das sicher schreitet. Die Lebensäußerungen waren wie Dank und von unwiderstehlicher Intensität. Aus Steinen wuchsen ihr Seelen zu. Sie war befreundet mit Wegen, Türen, Zäunen, Laternen, Ladenschildern. Sie vergaß nicht, Worte nicht, Bilder nicht. Die Ungeduld, Empfundenes zu sagen, der Mut zum eigenen Herzen gab der Atmosphäre um sie einen bestimmten Charakter wie kräftiger Pflanzengeruch.
Erlebtes kam ihr einfach vor; es hatte sein Gesetz. Die Sterne diktierten das Schicksal; das Blut war der Strom, in dem es rann; der Geist formte, leuchtete, reinigte.
Sie sprach vom Vater.
David Hofmann, Typus des jüdischen Kleinbürgers aus dem Osten des Reichs, war Handelsmann gewesen, hatte ein Geschäft errichtet, war zugrunde gegangen, hatte den Wohnsitz verändert, um von vorn anzufangen, hatte durch unermüdliche Tätigkeit ein paar tausend Mark erübrigt und sich mit einem Betrüger verbunden, der ihn um sein Erspartes gebracht, hatte in Armut und Verschuldung abermals von neuem begonnen. Sein Fleiß war bienenhaft, seine Geduld nicht zu erschüttern. Er zog von Breslau nach Posen, von Posen nach Stettin, von[165] Stettin nach Lodz, von Lodz nach Königsberg, wanderte im Winter über Land, von Dorf zu Dorf, von Gutshof zu Gutshof, sah die Frau hinsiechen und sterben, das jüngste Kind hinsiechen und sterben, und setzte schließlich die letzte Hoffnung auf die Millionenstadt. Vor anderthalb Jahren war er mit Ruth und Michael nach Berlin gekommen, und auch hier war er Tag und Nacht auf den Beinen. Mit erschöpftem Geist und geschwächtem Körper log er sich Aufschwung und krönenden Lohn für den Abend seines Lebens vor, aber das Gelingen blieb aus, und in den Stunden des Überblicks meldete sich Verzweiflung.
Sie sprach vom Bruder.
Michael war verschlossen; ein Knabe, der nie lachte. Er hatte keinen Freund, suchte keine Zerstreuungen, vermied die Gesellschaft von Menschen, litt an seinem Judentum, krampfte sich zusammen unter dem Haß, dem er überall zu begegnen wähnte, ließ jeden Zuspruch an sich abprallen, fand jede Tätigkeit zwecklos. Vormittags lag er stundenlang auf dem Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, rauchte Zigaretten. Dann schlenderte er ins Kosthaus, wo er mit dem Vater zu Mittag aß, dann kehrte er heim, trieb sich im Hof und auf den Gängen herum oder an Fabrikstoren, an Zäunen, vor den Wirtschaften, stand mit eingedrücktem Hut und hochgezogenen Schultern beobachtend, ging wieder nach Hause, rekelte sich auf Stühlen, brütete stumpf, rauchte, verkroch sich scheu, wenn Ruth kam und sich zur Arbeit setzte, wenn der Vater kam und über Müdigkeit seufzte.
Seine Augen mit ihrem wie aus Brunnen emportauchenden Blick waren brombeerbraun, und wie bei Ruth waren die Sterne gegen das Weiße außerordentlich scharf abgehoben.
Ruth erzählte: »Neulich kam ich gerade dazu, als ihn ein halbes Dutzend Rangen verfolgte und ihm ›Jud, Jud, hepp, hepp‹ nachschrie. Er schlich mit gekrümmtem Rücken und gesenktem Kopf. Sein Gesicht war käseweiß. Bei jedem Schmähwort[166] zuckte er zusammen. Ich nahm ihn bei der Hand, er stieß mich zurück. Abends, als der Vater darüber klagte, daß ihm ein Geschäft mißlungen sei, fuhr Michael auf und sagte: Was willst du? Was willst du denn in so einer Welt? Sie ist ja zum Anspeien zu schlecht. Laß uns doch einfach verhungern. Wozu die ganze Quälerei? Der Vater war bestürzt und konnte ihm nichts antworten. Der Vater glaubt sich von Michael gehaßt, weil es ihm nicht gelungen ist, uns vor der Not zu bewahren. Es nützt nichts, es ihm auszureden, er fühlt sich schuldig, fühlt sich schuldig vor uns, seinen Kindern, und das ist hart, härter als Not.«
Sie hielt es für ihre Pflicht, den Wankenden, der sich mit Selbstvorwürfen peinigte, Hoffnungen zu geben. Sie tröstete ihn durch ihre holde Heiterkeit. Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen, daß sie unscheinbar wurden, war Lust für sie.
Als siebenjähriges Kind hatte sie die Mutter in der Todeskrankheit gepflegt. Sie hatte Magddienste verrichtet und am Herd gekocht, als sie noch kaum zu den Topfdeckeln reichen konnte. Sie hatte den Bruder betreut, Botengänge getan, Gläubiger vertröstet, von Gerichtsvollziehern den Pfändungsaufschub erwirkt, hatte Kunden geworben, fällige Gelder einkassiert, bei jedem Domizilwechsel die Menschen freundlich gestimmt, von denen man abhängig war, in jeder neuen Wohnung die Ordnung hergestellt; sie hatte Wäsche ausgebessert, Kleider instand gehalten, Sorgen verscheucht, Widrigkeiten vergessen gemacht, in trüben Stunden Frohsinn verbreitet, und wo Bitterkeit bis an den Rand des Daseins stieg, noch Süßes gefunden.
Christian fragte, was sie arbeite. Sie erwiderte, sie bereite sich für die Matura vor. Sie hatte einen Freiplatz im Gymnasium. Um den Vater zu entlasten, dessen Verdienst täglich knapper wurde, erteilte sie Stunden. Den Abend dem Tag, die Nacht dem Abend zu zulegen, kostete sie nicht einmal einen Entschluß. Fünf Stunden Schlaf erfrischten und erneuerten[167] sie vollkommen. Am Morgen bereitete sie das Frühstück, räumte das Zimmer und die Küche auf und trat dann ihren Pflichten- und Arbeitsweg in einem Tempo und mit einer Miene an, die glauben machten, sie begebe sich auf eine Vergnügungsreise. Das Mittagessen hatte sie in der Tasche. War es zu frugal, so lief sie um die Vesperzeit geschwind zu einem Automaten.
Eines Abends kam sie von einer Ausspeisehalle, wo sie zweimal wöchentlich eine halbe Stunde Hilfsdienst leistete, und erzählte Christian von den Menschen, die sie dort zu sehen gewohnt war, den Vernichteten der Großstadt. Sie ahmte Gesten nach, ahmte Mienen nach, gab Bruchstücke erlauschter Gespräche wieder, malte die Gier, den Ekel, die Verachtung, die Scham; es war unerhört beobachtet. Christian begleitete sie das nächste Mal. Er sah wenig, fast nichts. Er sah Leute in defekten Kleidern, die eine karg bemessene Mahlzeit freudlos hinunterschlangen, Brotrinden in die Suppen tunkten und verstohlen den letzten leergegessenen Löffel noch einmal ableckten; hagere Gesichter, trübe Augen, Stirnen, wie mit der hydraulischen Presse eingedrückt, und über dem Ganzen nüchterne Ruhe wie über stillstehenden Maschinen. Er war gequält, als hätte man ihm einen Brief in einer unbekannten Sprache gegeben, und er fing an zu begreifen, daß er nicht sehen und fühlen konnte.
Obgleich er sich in keiner Weise auffällig bemerkbar machte und auf den ersten Blick nicht anders wirkte als ein beliebiger Mensch von der Straße, ging eine gewisse Bewegung durch den Saal, nicht länger als drei Sekunden dauernd. Die Welle flutete auch über Ruth hinweg; sie schöpfte gerade Gemüse aus einem riesigen Kessel in hundertzwanzig in vierfachem Kreis aufgestellte Teller; sie schaute verwundert empor; ihr Blick blieb auf dem vornehmen, fast lächerlich höflichen Gesicht Christians haften, und sie empfand Schrecken; mystisch empfänglich spürte sie die Ausstrahlung einer Kraft, die ungenützt[168] im Luftraum, vergraben in einer Seele lag. Sie neigte das Haupt über den dampfenden Kessel, daß die vorfallenden Haare die Wangen verdeckten, und indes sie fortfuhr, Gemüse zu schöpfen, dachte sie an ihre Schützlinge, an die vielen, die zu einer Stunde dieses Tages oder des nächsten oder des dritten auf sie harrten, Leidende, Verstrickte, Niedergebrochene, denen sie etwas zu sein und zu geben glühend bemüht war, und denen sie doch niemals sein und geben konnte, was sich ihr unter der drei Sekunden dauernden Wellenbewegung als das wunderbar Mögliche unerwartet offenbart hatte.
Man müßte knien, dachte sie in einer ihr sonst fremden Überschwenglichkeit, knien und sich tief sammeln, tief, tief versenken ...
Die hundertzwanzig Blechteller waren gefüllt.
Ihre Schützlinge; da gab es ein junges Mädchen in einer Blindenanstalt; dem las sie an Sonntagabenden vor. Da gab es ein Obdachlosenasyl in der Ackerstraße; in diesem hielt sie Musterung unter den Verwahrlosesten und warb um Hilfe bei Männern und Frauen, an deren Türen zu klopfen ihr für solchen Zweck erlaubt worden war. In einer Moabiter Wärmestube hatte sie ein Weib mit einem Kind an der Brust getroffen, beide einen Schritt vom Hungertod; sie hatte sie gerettet, der Frau Arbeit und Unterkunft verschafft, das Kind in ein Säuglingsheim gebracht. Sie ließ sich daran nicht genügen; sie trachtete nach menschlicher Beziehung, suchte Vertrauen zu gewinnen, besorgte Korrespondenzen, griff vermittelnd in schwierige Lebensverhältnisse, und so hatte sie aus jenem Weib, einer zwanzigjährigen Heimatlosen, eine ihr fanatisch ergebene Freundin gemacht.
Sie wußte so viele Namen von Gefährdeten, so viele Häuser, wo die Not herrschte; einmal erregten bei einer sozialdemokratischen Frauenversammlung abseits kauernde Kinder ihr Interesse; das andre Mal kam sie in die Wohnung eines streikenden[169] Arbeiters; einmal war sie dabei, als man eine Selbstmörderin aus dem Spreekanal zog und eilte zu den Angehörigen; das andre Mal war sie zwischen einer Unterrichtsstunde und einem Gang in die Charité am verschmierten Marmortisch eines Winkelcafés zu finden, wo sie sich mit einen relegierten Studenten namens Jacoby verabredet hatte, der in schlechter Gesellschaft und in Mangel zu verkommen drohte. Sie disputierte mit ihm, stritt über seinen Glauben, seine Prinzipien, seine Freunde, überredete ihn zu neuem Mut, zu neuen Versuchen.
In der Parallelstraße zur Stolpischen, Czernikauer Straße, wohnte ein Maschinenschlosser namens Heinzen mit seiner Familie, der durch einen Betriebsunfall in der Fabrik beide Beine verloren und infolge des erlittenen Nervenchoks auch eine allgemeine Lähmung zurückbehalten hatte. Er lag meist in einem krampfähnlichen Zustand, und eines Tages hatte ein Hausgenosse, der ihn besuchte, die Wahrnehmung gemacht, daß das Gliederreißen, von dem er geplagt war, eine unmittelbare Linderung erfuhr, sobald ihn Heinzen an irgendeiner Stelle seines Körpers mit der Hand anrührte. Dies hatte sich wie Lauffeuer verbreitet; man sprach von magnetischer Wunderheilung, und es kam eine Menge bresthafter Leute, die bei Heinzen Genesung zu finden hofften. Er nahm kein Geld; die Gläubigen, deren Zahl sich täglich vermehrte, brachten seiner Frau Naturalien oder sonstige Geschenke.
Ruth hatte davon gehört. Sie war bei Heinzen gewesen. Erfüllt von Gesehenem, schilderte sie Christi an ihre Eindrücke in ihrer lebhaften Art.
Christian sah sie verwundert an. »Ruth, kleine Ruth,« sagte er kopfschüttelnd, »das sind so schwere Dinge. Hat man einmal angefangen, sich damit zu beschäftigen, so reicht das Leben nicht mehr für sie. Ich dachte immer, wenn man nur einen einzigen Menschen ganz ausschöpfte, wüßte man viel und könnte sich zufrieden geben. Aber es ist wie das Meer.[170] Können Sie überhaupt sein, ohne eine Minute lang nicht daran zu denken? Und wie kommt es dann, daß Sie immer so aufgeräumt sind? Ich versteh es nicht.«
Mit glänzenden Augen blickte Ruth vor sich hin; plötzlich erhob sie sich, nahm vom Bücherbrett ein schmales gelbes Buch, blätterte drin und las mit kindlicher Betonung vor: »Die Freude der Fische. Tschuang-Tse und Hui-Tse standen auf einer Brücke, die über den Hao führt. Tschuang-Tse sagte: ›Sieh, wie die Elritzen umherschnellen! Das ist die Freude der Fische.‹ ›Du bist kein Fisch,‹ sagte Hui-Tse, ›wie willst du wissen, worin die Freude der Fische besteht?‹ ›Ich bin nicht wie du,‹ bestätigte Hui-Tse, ›und weiß dich nicht. Aber das weiß ich, daß du kein Fisch bist, so kannst du die Fische nicht wissen.‹ Tschuang-Tse antwortete: ›Kehren wir zu deiner Frage zurück. Du fragtest mich, wie kannst du wissen, worin die Freude der Fische besteht? Im Grunde wußtest du, daß ich es weiß, und fragtest doch. Gleichviel. Ich weiß es aus meiner Freude über dem Wasser.‹«
Christian dachte über das Gleichnis nach.
»Wissen Sie es nicht auch, Sie, gerade Sie, aus Ihrer Freude über dem Wasser?« fragte Ruth, den Kopf vorbeugend, um seinen Blick zu erhaschen.
Christian lächelte unsicher.
»Wollen Sie nicht morgen mit mir zu Heinzens gehen?« fragte Ruth.
Er nickte und lächelte abermals; er begriff plötzlich, was für ein Menschenwesen da neben ihm saß.
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
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