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[349] Außer dem Zimmer, das ihm die Witwe eingeräumt, hatte Niels Heinrich ein Logis in der Rheinsberger Straße, vier Treppen hoch, bei einem Zinngießer. Am Tage nach dem Gespräch mit Christian zog er von dort weg. Es geschah, weil zu viele um das Quartier wußten. Er konnte auch nicht mehr darin schlafen. Höchstens eine halbe Stunde schlief er, dann lag er wach. Er rauchte Zigaretten und warf sich von einer Seite auf die andre. Von Zeit zu Zeit ließ er ein[349] dürres Gelächter hören, wenn die Erinnerung an eines der Worte, die jener Mensch zu ihm gesagt, besonders lebhaft wurde.

Der Mensch, wer war er eigentlich? Da konnte man sich das Hirn zu Brei zerdenken. So ein Mensch.

Neugier wurde zur Brunst in Niels Heinrich.

Er zog in die Demminer Straße zum Krämer Kahle. Das Zimmer befand sich im Halbstock über dem Laden. Das große Firmenschild »Eier, Butter, Käse« verdeckte beinahe die niedrigen Fenster. Infolgedessen war wenig Licht in dem Loch; dafür waren Fußboden und Wände so dünn, daß man das Klingeln der Ladenglocke, die Gespräche der Kunden und alle Geräusche von ringsherum hörte. Da lag er wieder und rauchte Zigaretten und dachte an den Menschen.

Der Mensch und er hatten nicht mitsammen Platz auf der Welt. Das war das Resultat der Überlegungen.

Krämer Kahle forderte Vorausbezahlung der Miete. Dieses gehe gegen die Ehre, sagte Niels Heinrich, er habe stets Ultimo bezahlt. Krämer Kahle antwortete, das möge schon sein, aber bei ihm sei mal der Usus so. Frau Kahle, eine Person, mager wie ein Nagel, mit einer Turmfrisur, fing gleich an, ordinär zu kreischen. Niels Heinrich begnügte sich mit ein paar trockenen Injurien und versprach, am Dritten zu zahlen.

Er versuchte es mit der Arbeit. Aber Hammer und Bohrer widerstanden ihm; die Räder und Treibriemen wirbelten durch den Leib durch, die vorgeschriebenen Stunden schnürten die Luft ab. Nach der Vesper wurde ein Schaden an einer der Maschinen entdeckt. Eine Schraube war locker, nur die Wachsamkeit des Maschinisten hatte schweres Unglück verhütet; daß da ein Schurkenstreich vorliege, behauptete er vor dem Werkführer wie vor dem Ingenieur. Die Untersuchung blieb erfolglos.

Für die Arbeit sei er hin, ein für allemal, sagte sich Niels Heinrich. Aber da er Geld brauchte, ging er zur Witwe. Sie[350] hatte angeblich sechzehn Mark im Vermögen und bot ihm sechs. Es reichte nicht. »Junge, wie siehste aus!« rief die Witwe erschrocken. Er verwies ihr das Getue und sagte, mit den zwei Talern werde sie ihn hoffentlich nicht abspeisen wollen. Sie jammerte; die Geschäfte seien erbärmlich flau, den Menschen die Zukunft zu verkündigen, lohne nicht mehr; man stehe unter einem Unstern, vielleicht habe man keine gesegnete Hand mehr. Niels Heinrich entgegnete finster, er werde nach den Kolonien machen, nächste Woche werde er sich einschiffen, dann sei sie ihn los. Die Witwe war gerührt und brachte noch drei kleine Goldstücke zum Vorschein.

Eines war für Kahle.

Er ging in Griebenows Destille, dann in das Tanzlokal »Zum dollen Hengst«, dann in das Kraftmagazin, eine übelberüchtigte Kellerwirtschaft.

Er war nicht mehr derselbe. Alle sagten es. Und er stierte sie böse an. Nichts hatte mehr Geschmack. Nichts paßte zum andern, das obere nicht zum untern, die Pfanne nicht zum Stiel. Es juckte ihn in den Fingern, die Lampen von den Haken zu reißen; wenn zwei die Köpfe zusammensteckten und wisperten, packte ihn ein Rasen; er hätte einen Stuhl aufheben und ihnen die Schädel einschlagen mögen. Ein Frauenzimmer begrüßte ihn mit Zärtlichkeiten; er griff ihr so grausam roh an die Kehle, daß sie entsetzt aufschrie. Ihr Kerl stellte ihn zur Rede, zog das Messer; die Augen beider schleimten vor Haß; der Wirt und einige, die Anlaß hatten, Lärm zu fürchten, stifteten einen Notfrieden. Die Miene des Burschen drohte noch; Niels Heinrich meckerte. Was konnte der ihm anhaben? Was konnten die übrigen ihm anhaben? Schweinebande. Die ganze Menschheit überhaupt – Schweinebande. Was wars denn? Was kümmerte einen denn?

Drei Wörtchen aber, um die war nicht herumzukommen. »Ich erwarte Sie.« Ins Gesabber und Geschlapper dieses Hundevolks hinein: »Ich erwarte Sie.« Und wie er vor[351] einem dagestanden war, der Mensch! Niels Heinrich saugte die Lippen in die Zähne. Ekel war ihm, sein eigen Fleisch zu schlürfen.

»Ich erwarte Sie.« Klippeklar, mein Junge, komme jleich; warte du nur, biste schwarz wirst.

»Ich erwarte Sie.« Ruhe! Ob man wohl Ruhe kriegte! Hältste den Rand nicht, so laß ick dir im steiwen Arm verhungern.

»Ich erwarte Sie.« Nur Geduld, ick treff dir schon noch mal, aber janz wo anders.

»Ich erwarte Sie.«

Neue Zeugen hatten sich gemeldet. In der Wisbyer und Stolpischen Straße hatten Leute die Ruth Hofmann zuletzt in Begleitung eines Mädchens und eines riesigen Fleischerhundes gesehen. In der Prenzlauer Allee waren alle bedenklichen Häuser abgesucht worden. Spelunken gab es dort die Menge, aber das Haus zu »Adelens Aufenthalt« lenkte vornehmlich die Aufmerksamkeit auf sich. Es befand sich daselbst ein Hund wie der beschriebene; ein Hund ohne Eigentümer allerdings. Einige sagten, er hätte einem Neger gehört, der im Zirkus bedienstet gewesen, andre, er sei aus dem Schlachtviehhof zugelaufen.

Im Keller entdeckte man Spuren des Mordes. Ein wurmstichiges Brett, das in einem Verschlag gefunden wurde, war über und über schwarz von Blut; wahrscheinlich war es bei Verübung der Tat auf zwei Holzböcken gelegen, die noch im Keller standen. Als der herrenlose Hund in den Keller geführt wurde, heulte er. Fünfzehn bis zwanzig Personen, der Wirt und eine Schenkmamsell, die Stammgäste der Kneipe und die Bewohner des Hauses wurden in strenges Verhör genommen. Unter den letzteren machte sich die Dirne Molly Gutkind durch ihre verworrenen Angaben und ihr verstörtes Wesen in hohem Grade verdächtig. Am selben Tage noch wurde sie in Untersuchungshaft gesetzt.[352]

Den Abend vorher war Niels Heinrich bei ihr gewesen. Seine heimlichen Erkundigungen hatten die Gerüchte bestätigt, die früher zu ihm gedrungen waren, und sie als diejenige bezeichnet, die einen fremden Knaben bei sich beherbergt hatte. Er hatte beschlossen, ihr die Daumenschrauben anzulegen. Darauf verstand er sich.

Er gewann den Eindruck, daß sie wohl ihm selbst nicht gefährlich werden konnte, daß sie aber doch von den Vorgängen eine allgemeine Kenntnis erlangt hatte. Wenn er sich ins Gedächtnis rief, was Wahnschaffe über den Bruder der Jüdin erzählt hatte, war der Zusammenhang klar. Hätte er nur den Jungen in die Klauen gekriegt, er hätte schon dafür gesorgt, daß ihm die verdammte Zunge noch eine Weile lahmte. Blödsinniger Zauber, der ihn gerade zu der kleinen Made hier ins Haus geführt. Nun mußte er das Weibsstück irgendwie unschädlich machen. Obgleich kein vernünftiges Wort aus ihr herauszubringen war und sie wie ein Sägespan zitterte, wenn er sie nur anschaute, verriet sie doch ihre Wissenschaft, die aus den Delirien des Knaben stammte und die die Ereignisse später ergänzt hatten. Sie weinte sich die Augen aus, gestand, daß sie seitdem nicht mehr aus dem Hause gegangen sei und die schrecklichste Angst davor habe, einen Menschen zu sehen. Niels Heinrich äußerte kalt, wenn ihr das Leben lieb sei und sie den Jungen nicht ins Elend stürzen wolle, möge sie sich andern gegenüber nicht so schafsdämlich lassen wie gegen ihn; er kenne einen, falls der Wind bekomme von ihrem Gequaßle, werde er ihr stantepede den Hals umdrehen. Sie solle sich auf die Eisenbahn setzen und verduften, und das schleunig; wo sie denn zu Hause sei? Pasewalk oder Itzehoe? Sie solle verduften, schleunig, schleunig, oder er werde ihr Beine machen. Sie erwiderte schluchzend, sie könne nicht heim, der Vater habe gedroht, sie zu erschlagen, die Mutter habe sie verflucht. Er sagte, wenn er morgen wiederkomme und sie noch hier finde, werde er ihr die Flötentöne beibringen.[353]

Am andern Tag wurde sie verhaftet; am zweiten erhielt Niels Heinrich die Nachricht, daß sie sich nachts in der Zelle, unbemerkt von den Mithäftlingen, am Fenstergitter erhängt habe, die kleine Made.

Er nickte anerkennend.

Aber die Sicherung nach dieser Seite bedeutete wenig. Das Netz wurde eng. Überall war Geraune. Blicke krochen hinter einem. Oft fuhr er wild herum, als wolle er einen Aufpasser abfangen. Geld war immer schwerer zu beschaffen. Der Verkauf von Karens Habseligkeiten brachte kaum fünfzig Taler. Und dann, was früher Spaß bereitet hatte, davor ekelte einem jetzt. Es war nicht schlechtes Gewissen. Schlechtes Gewissen, das war eine unbekannte Vokabel für ihn. Es war Verachtung des Lebens. Kaum mochte er aufstehen am Morgen. Der Tag war wie zerflossener, stinkender Käse. Jezuweilen kam der Fluchtgedanke. Man war schlau genug, man konnte die Späher und Spitzel übertölpeln, ohne daß man sich anstrengte; man würde schon einen Ort finden, wo man außer ihrem Bereich war, man hatte sich das ausgerechnet: erst mal zu Fuß, dann mit der Bahn, dann auf ein Schiff wenn nicht anders, so als blinder Passagier im Kohlenraum, manchem war das geglückt. Aber wozu? Vor allem mußte reiner Tisch werden zwischen ihm und dem Menschen. Den Menschen mußte er erst aushorchen und klein kriegen. Den Menschen konnte er nicht im Rücken lassen. Der Mensch erwartete ihn; gut, er würde kommen.

War es bloß Vorwand für etwas, das stärker war als Haß und finstere Neugier, so war es doch der gebieterischste, und treibendste. Mehrmals trat er den Weg an. Zu Beginn war er noch ruhig und entschlossen; kam die Straße, kam das Haus in Sicht, so kehrte er um. Die anfängliche Beruhigung verwandelte sich in erstickenden Zorn. Schließlich wuchs die Spannung ins Unerträgliche. Es war ein Freitag. Er verschob es noch um einen Tag. Am Samstag verschob er es[354] bis zum Abend. Dann ging er hin. Strich erst noch eine Weile ums Haus, blieb am Tor stehen, blieb im Hofe stehen, sah Licht in der Wohnung, ging hinein.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 349-355.
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