[355] Lätizia bezog mit der Gräfin und dem ganzen Troß in der Fürst-Bismarck-Straße, nahe dem Reichstagsgebäude, eine prunkvoll möblierte Wohnung. Crammon mietete sich im Hotel de Rome ein. Er liebte nicht die modernen Berliner Hotels mit ihrem betrügerischen Luxusfirnis. Er liebte überhaupt nicht die Stadt, und der Aufenthalt bereitete ihm täglich neues Unbehagen. Spazierte er über die Linden oder durch den Tiergarten, so bot er ein Bild der Freudlosigkeit; der Kragen seines Pelzmantels war in die Höhe gestellt und ließ vom Gesicht nur die mißmutig blickenden Augen und die kleine, nicht eben edel geformte Nase frei.
Auf solchen einsamen Gängen wurde er mehr und mehr zum Hypochonder.
»Kind, du ruinierst mich,« sagte er zu Lätizia, als sie, an einem Sonntag, das Vergnügungsprogramm für die Woche entwarf.
Lätizia sah ihn erstaunt an. »Aber Tantchen bekommt ja zwanzigtausend Mark vom Majoratsherrn,« rief sie aus, »du hast es ja selbst gehört.«
»Gehört, aber nicht gesehen,« erwiderte Crammon. »Geld muß man sehen, dann kann man dran glauben.«
»Pfui, was für ein nüchterner Mensch du bist,« sagte Lätizia, »lügt Tantchen vielleicht?«
»Nicht gerade, daß sie lügt, aber sie hat ein zu schwärmerisches Verhältnis zu den Ziffern. Wie wenn eine Null mehr oder weniger nichts bedeutete als eine Erbse im Erbsensack. Eine Null ist etwas Riesiges, meine Liebe, etwas Dämonisches.[355] Die Null ist der große Bauch der Welt; die Null ist mächtiger als das Hirn des Aristoteles und die Armeen des Deutschen Reiches. Ehrfurcht vor der Null, ich bitte.«
»Wie weise, wie weise,« sagte Lätizia bekümmert. »Übrigens ist Tantchen krank,« fuhr sie lebhaft fort; »sie leidet an Herzbeschwerden. Der Arzt war da und hat ihr ein Rezept verschrieben, ein neues Medikament, mit dem er Versuche macht, eine Mischung aus Brom und Kalk.«
»Warum Brom und Kalk?« erkundigte sich Crammon verdrossen.
»Nun ja, Brom beruhigt und Kalk regt an,« plauderte Lätizia drauflos, stockte und brach in reizendes Lachen aus. Crammon, wie ein Schullehrer, der Würde zu bewahren hat, entschloß sich erst nach einiger Zeit, mitzulachen. Er warf sich in einen der tiefen Klubsessel, zog ein Tischchen heran, auf welchem Obst in einer Schale und goldene Messerchen lagen und begann einen Apfel zu schälen. Lätizia, ihm gegenübersitzend, ein geschlossenes Buch in der Hand, schaute ihm mit einer feinen und listigen Aufmerksamkeit zu. Ihr gefielen die graziösen Bewegungen Crammons. Der Kontrast von Plumpheit und Anmut bei ihm ergötzte sie stets.
»Ich höre, daß du mit dem Grafen Egon Rochlitz kokettierst,« sagte Crammon, während er mit einem ihn ganz durchdringenden Genuß den Apfel verspeiste; »ich möchte dir von dem Manne abraten. Der Mann ist ein berüchtigter Schürzenjäger. Er ist in diesem Punkt undifferenziert wie ein Feldwebel. Wenns nur Hüften und Busen hat, das übrige ist ihm egal. Der Mann steckt bis über den Kopf in Schulden; die einzige Hoffnung seiner Gläubiger ist, daß er reich heiratet. Der Mann ist außerdem Witwer und hat drei kleine Mädchen, die ihn Vater nennen. Somit weißt du, wie du mit dem Mann dran bist.«
»Sehr schön,« antwortete Lätizia, »gut, daß du mir das[356] alles mitteilst. Aber wenn ich den Mann leiden mag, warum sollten mich da deine moralischen Bedenken hindern, ihn weiterhin sympathisch zu finden? Schürzenjäger sind viele; Schulden haben alle, drei kleine Mädchen aber haben die wenigsten, und das ist entzückend. Er ist klug, gebildet und distinguiert, und seine Stimme klingt angenehm. Wenn ein Mann eine angenehme Stimme hat, dann ist es schon kein ganz schlechter Mann. Will ich ihn denn heiraten? Bist du bereits ein so verrosteter böser alter Stiefvater, daß du glaubst, man müßte jeden heiraten, der ... na, der eine angenehme Stimme hat? Oder hast du Angst, du Geizhals, daß ich dich um eine Mitgift prellen will? Sicher bist du deswegen in so niederträchtiger Laune. Gesteh, Bernhard, sag es offen; beichte!« Sie stand vor ihm, lächelnd, im Scherz gebietend, berührte mit dem Zeigefinger seine Stirn, und die andre Hand hatte sie halb drohend, halb feierlich erhoben.
Crammon sagte: »Kind, du läßt es wieder einmal am schuldigen Respekt fehlen. Beachte doch meinen gelichteten Scheitel. Bedenke doch die Jahre, die Erfahrungen. Sei klein! Sei verzagt! Höhne deinen würdigen Hervorbringer nicht. Meine Laune? Na ja, sie ist die beste nicht. Ich hatte einst eine bessere. Du scheinst nicht zu wissen, daß in dieser Stadt, ganz unten wo, ganz draußen, in ihren Sümpfen und Elendswinkeln der Mensch lebt, der mir vor allen teuer war, Christian; Christian Wahnschaffe. Nach ihm hast du ja auch mal deine Angel ausgeworfen, in grauer Vorzeit, erinnerst du dich? Wie lang ist das her! Das wäre ein Fang gewesen. Esel, der ich war, daß ich mich der niedlichen kleinen Intrige widersetzt habe. Vielleicht wäre alles anders gekommen. Aber es hat keinen Zweck, zu murren. Zwischen ihm und mir ist es aus. Dorthin führt für mich kein Weg. Und doch treibt es mich, doch zwickts mich heimlich, und indem ich hier sitze und mirs wohl sein lasse, ist mir zumut, als beginge ich eine Schurkerei.«[357]
Lätizia hatte mit großen Augen gelauscht. Es war seit den Tagen von Wahnschaffeburg das erstemal, daß von Christian mit ihr gesprochen wurde. Sein Bild erhob sich. Sie spürte in ihrer Brust ein mattes, banges Flügelschlagen. Da war eine Süßigkeit, und da war ein Schmerz. Man mußte vergessen können, wie sie vergaß, um so im Augenblick, beim heraufquellenden Glockenklang einer Herzensstunde, des tiefsten Gefühls wieder innezuwerden.
Sie fragte. Erst ließ sich der widerwillige Erzähler Satz um Satz abringen, dann, von ihrer Ungeduld getrieben, kam er in freien Fluß. Das fassungslose Erstaunen Lätizias schmeichelte ihm; er trug starke Farben auf. Ihr zartes Gesicht widerspiegelte die Erregungen der Seele im Nu. Alles wurde Vorstellung und Gegenwart in ihrer schwingenden Phantasie, Erschütterung in ihrem Gemüt. Sie brauchte keine Deutungen, sie hatte sie in sich. Voller Ahnung schaute sie ins unbekannte Dunkel nieder und voller Begriff zugleich. Ja, es war ihr so vertraut, im Sinne eines Gedichts vertraut, als hätte sie mit Christian gelebt in all der Zeit, und sie wußte mehr als Crammon zu berichten hatte, unendlich viel mehr, sie umfing das Ganze, Idee und Figur, Schicksal und Leiden. Sie erglühte; sie sagte: »Ich will zu ihm,« erschrak bei der Vorstellung einer Begegnung, entwarf im Geiste einen hinreißenden Brief und fand Crammons Lässigkeit ärgerlich, seine weinerlichen Klagen sinnlos.
»Ich habe es immer gespürt,« sagte sie mit leuchtenden Augen, »daß eine verborgene Kraft in ihm ist. Wenn ich meine gelüstigen Gedanken hatte, und er sah mich an, dann schämte ich mich. Er konnte die Gedanken lesen, aber er hat es selbst nicht gewußt.«
»Du hast schon einmal klüger geredet, als du jetzt redest,« spottete Crammon. Aber sie rührte ihn in ihrem Enthusiasmus, und eine Eifersucht auf alle Männer, die die Hände nach ihr streckten, schoß in ihm empor.[358]
»Ich will zu ihm gehen,« sagte sie lächelnd, »und mein Herz bei ihm erleichtern.«
»Damals warst du klüger, als du beim Gewitter den Ball springen ließest im schönen Saal,« murmelte Crammon, in die Erinnerung verloren. »Sticht dich der Hafer, mein Töchterchen, daß du Magdalena spielen willst?«
»Ich möchte einmal vier Wochen in der Einsamkeit leben,« sagte Lätizia sehnsüchtig.
»Und dann?«
»Dann würde ich vielleicht die Welt verstehen. Ach, es ist alles so sonderbar und melancholisch.«
»O du liebe Jugend! Deine Worte sind blühender Kohl.« Crammon seufzte und griff nach einem zweiten Apfel.
Es kam dann die Schneiderin mit einem neuen Abendkleid für Lätizia. Sie zog sich in ihr Zimmer zurück, und nach kurzer Weile erschien sie wieder, erregt von ihrer Neuheit, und Crammon sollte bewundern, da sie sich bewundernswert fühlte. Aber es lag auch ein wehmütiger Glanz über ihrem Wesen, und während sie schon die Blicke vieler auf sich gerichtet sah, denen sie bald entgegentreten würde, denn Crammons Wohlgefallen war ihr nicht genug, dachte sie schwelgend an Abkehr und Entsagung.
Sie ging auch zur Gräfin-Tante hinüber, um deren lärmende Begeisterung einzukassieren, und sie dachte an Abkehr und Entsagung.
Man brachte ihr einen Strauß Rosen, aber als sie mit jener hingegebenen Freude, die Blumen in ihr erweckten, daran roch, erblaßte sie und dachte an Christians schweres und dunkles Leben. Ich gehe zu ihm, nahm sie sich vor; aber am Abend war Ball beim Fürsten Radziwill.
Dort traf sie Wolfgang Wahnschaffe, mied ihn jedoch in instinktiver Scheu. Sie wurde sehr gefeiert. Ihre Natur und ihr Schicksal standen auf einem Gipfel und übten eine sichere Magie aus, der sie unschuldig-schlau alle Vorteile abgewann, welcher sie habhaft werden konnte.[359]
Auf dem Nachhauseweg, im Auto, fragte sie Crammon: »Sag mal, Bernhard, wohnt nicht auch Judith in Berlin? Hast du von ihr gehört? Ist sie glücklich mit dem Schauspieler? Warum besuchen wir sie nicht?«
»Niemand verwehrt es dir, sie zu besuchen,« antwortete Crammon in den dichtfallenden Schnee hinein; »sie wohnt in der Matthäikirchstraße. Ob sie glücklich ist, kann ich dir nicht sagen; es interessiert mich nicht. Da hätte man viel zu tun, wenn man sich den Kopf zerbrechen wollte, ob die Frauen, die mit unsern Freunden ins Ehebett steigen, auch ihre Rechnung dabei finden. Lorm ist nicht mehr, was er gewesen, das steht fest, nicht mehr der Unvergleichliche und Einzige. Ich nannte ihn einstmals den letzten Fürsten in dieser Welt, die langsam einer unseligen Verplebsung zusteuert. Das ist vorbei. Es geht bergab mit ihm, und deshalb weich ich ihm aus. Ein Mann, der fällt, ein Künstler, der sich verliert, es gibt nichts Traurigeres auf Erden. Daran ist diese Frau schuld. Ja ja, lache nicht, daran ist das Weib schuld.«
»Wie grausam und böse du bist,« sagte Lätizia und lehnte schläfrig ihre Wange an seine Schulter.
Sie beschloß, zu Judith zu gehen. Es dünkte ihr eine Vorstufe zu dem andern, schwereren Beginnen, das sie dadurch noch aufschieben konnte, und für das ihr Mut noch nicht reif war. Wenn sie es als Abenteuer sah, lockte es, aber eine Stimme rief ihr zu, daß es ein Abenteuer nicht sein durfte.
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