27

[403] Das Fest war vorüber, die Gäste waren abgereist, Eva und Susanne waren allein im Schloß zurückgeblieben.[403]

Die südliche Küste hatte schon den vollen Frühling empfangen; es war ein Frühlingsfest gewesen, in tropischer Blütenfülle und heroischer Landschaft. Die Flucht aus dem Winter des Nordens, so rasch vollzogen, daß ihr keine Würde standhielt, hatte die Gemüter berauscht, in erhöhter Lust des Atmens, in ungeistigem Erstaunen, wie Trinker und Schlemmer manche, wie befreite Gefangene andre, hatten sie sich dem Seltenen überschäumend hingegeben, die Kürze der vergönnten Frist wissend. Dies Wissen breitete einen Schleier von Melancholie über die Freude.

Noch bebte die Atmosphäre von berückenden Worten, von Schritt und Lachen der Frauen; noch war alles voller Echo, der Lärm nicht ganz verstummt, und in der Nacht sehnte sich das Dunkel im stillen Park nach dem Lichterglanz, den die Sterne oben nicht vergessen machen konnten.

Aber sie waren alle fort.

Der Großfürst war der Einladung eines österreichischen Erzherzogs zur Jagd gefolgt; Eva sollte ihn im April in Wien treffen und mit ihm nach Florenz fahren. Sie hatte keinen ihrer Freunde aufgefordert, länger zu verweilen, keine der Damen, keinen der Künstler und der Paladine. Einmal wieder allein zu sein, das war ein Hunger ihrer Seele geworden; sie war nicht mehr allein gewesen seit vier Jahren.

Sogar Susanne war ihr im Wege. Sie wies sie aus ihrer Nähe, wenn sie mit törichter Besorgnis die Herrin umschlich. Sie wünschte nicht, daß man zu ihr spreche, daß man sie anschaue; sie wollte ganz entschlüpfen in das kristallene Gebilde Einsamkeit. Sie hatte es geschaffen, sie wollte es erfahren; und unversehens wurde sie darin sich selber fremd. Es geschah etwas mit ihr, das ihr das Blut im Herzen kühl und krank machte.

Sie konnte nicht lesen, keine Briefe schreiben, nicht an Pläne denken. Kaum hing eine Stunde mit der andern lebendig zusammen. Tagsüber ging sie am Meer, ohne Begleitung,[404] saß unter Blumen im Garten; den größten Teil der Nacht lag sie in einer offenen Halle, vor der sich der Himmel wie ein Vorhang aus dunkelblauem Samt spannte. Oft war die Morgendämmerung schon angebrochen, wenn sie sich zu Bett begab. Sie hatte eine Empfindung von sich wie von gelockerter Natur und aufgelöstem Rhythmus. Bisweilen spürte sie Bangigkeit; der Mittag glühte sie stählern an, der Abend war ein Tor ins Ungewisse.

Sie hatte sich Nachrichten verbeten. Post, die dringend zu sein vorgab, wurde von Susanne und Monsieur Labourdemont erledigt. Doch beim zufälligen und zerstreuten Blick in den Brief eines Freundes erfuhr sie von Iwan Becker. Was sie las, beschäftigte sie. Es war Ahnung und Berührung der Gefahr. Wenn sie nachts in der offenen Halle lag, war fahles Zucken hinter dem dunkelblauen Vorhang des Himmels, und die Stille wurde tückisch.

An der Spitze von fünfzehntausend zarentreuen Arbeitern war Iwan Becker vor das Winterpalais gezogen, um zwischen dem Kaiser und dem Volk eine unmittelbare Aussprache und Verständigung herbeizuführen. Die friedliche Armee der Demonstranten war von Kosakenregimentern umzingelt worden, und das Ende war ein Blutbad ohnegleichen. Abermals rottete sich das Volk zusammen, und Becker, auf einer Tribüne, die Arme zum Himmel gereckt, verfluchte den Zaren. Flüchtig irrte er im Land umher, verbarg sich in Klöstern und bei Bauern. Da schickten ihm die Meuterer des »Pantelejmon« und »Potemkin« Botschaft, er möge sich ihnen anschließen. Die Mannschaften der beiden Dreadnoughts hatten im Hafen von Sebastopol den Gehorsam verweigert, hatten ihre Kapitäne und Offiziere ermordet, die Leichen ins Meer geworfen oder in den Feuerungsraum, hatten sich der Schiffe bemächtigt, ihre eigenen Befehlshaber gewählt und waren in See gegangen. Ob Iwan Becker dem Ruf der Rebellen gefolgt war, wußte man nicht; seine Spur hatte sich verloren. Aber[405] viele behaupteten bestimmt, er habe sich auf den schwimmenden Freistätten vor den Nachstellungen der politischen Polizei in Sicherheit gebracht und eine bedeutende Herrschaft über die verwilderten Matrosen erlangt.

Es war seine dritte Erscheinung, in Aufruhr und Blut.

Von Gärtnern, Fischern, Bauern zugetragen und verbreitet, liefen Gerüchte. Die Meuterer hausten auf dem Meer als Piraten, kaperten Handelsschiffe und bombardierten Hafenstädte. In manchen Nächten sah man Raketen steigen und hörte fernen Kanonendonner. Wo sie nicht Angriffe überlegener Streitkräfte zu befürchten hatten, gingen sie an der Küste vor Anker, plünderten Städte und Dörfer, machten nieder, was sich zur Wehr setzte, und erfüllten die Provinz bis weit ins Binnenland hinein mit Schrecken.

Eva wurde gewarnt. Sie wurde gewarnt von dem Ältesten eines Bauerndorfes, dessen Gemarkung an den Schloßpark grenzte; sie wurde gewarnt durch eine Estafette des Marinekommandanten in Nikolajew, der ihr mitteilte, die aufständigen Matrosen beabsichtigten einen Anschlag gegen die kaiserlichen Besitzungen in der Krim, namentlich aber gegen die des Großfürsten; und sie wurde gewarnt durch ein anonymes Telegramm aus Moskau.

Sie beachtete die Warnungen nicht. Sie glaubte, dies, gerade dies nicht fürchten zu sollen, nicht fürchten zu dürfen, Bedrohung von dorther nicht, das Niedrige, Häßliche nicht; und sie blieb. Doch dies Bleiben war Warten. Ein Gefühl der Unentrinnbarkeit war über sie gekommen, keineswegs ausgehend von den Meuterern und ihrem verbrecherischen Wüten, sondern vom Geiste her und von der tiefen Logik der Dinge.

Eines Abends stieg sie auf den Turm mit der goldenen Treppe. Auf der Plattform oben über die dunkeln Baumwipfel und Meer und Land schauend, gewahrte sie im Norden den Horizont dunkelrot besäumt. In einen Spitzenschleier gehüllt[406] stand sie und verfolgte sinnend das Anschwellen der Glut, ohne daß Sorge oder die Frage nach der Ursache an sie rührte. Sie hatte ein durchdringendes Gefühl des Schicksals und beugte sich fatalistisch.

Susanne wartete im Saal der arabischen Fresken. Mit ihrem Derwischgang auf und ab schreitend, kämpfte sie gegen verdüsternde Befürchtungen. Die Flamme brannte nieder: was geschah mit Lukas Anselm? Das Um-ihn-Wissen und Für-ihn-Sein war in den Jahren des Glanzes und der Erfüllung nicht schwächer in ihr geworden. Das Werk, die Tänzerin, der er Art und Atem eingehaucht, hatte ihr als Zeugnis für ihn gegolten, nach wie vor, und als Kunde von ihm. Und jetzt, was wurde da? Dunkelheit kroch her; der Golem hielt inne in seinem entzückenden Spiel. Erlahmte und erkaltete die Hand, die ihn geformt hatte und befehligte? War der erhabene Geist müde geworden und besaß er die Kraft in die Ferne nicht mehr? War das Ende gekommen?

Eva trat ein, stutzte bei Susannes Anblick und setzte sich auf eine Ottomane, zu deren Häupten Stöcke mit leuchtenden Hortensien aufgestellt waren, die man jeden Morgen auswechselte. Sie war durchkältet vom Seewind; die Augen in den tiefgemeißelten Höhlen blickten streng. »Was willst du?« fragte sie.

»Ich glaube, wir sollten abreisen,« sagte Susanne, »länger zu zögern, wäre nicht klug. Die kleine Militärabteilung, die von Yalta unterwegs ist, würde uns bei einem Überfall auf das Schloß wenig nützen.«

»Wovor fürchtest du dich?« entgegnete Eva; »fürchtest du dich vor Menschen?«

»Ja, ich fürchte mich vor Menschen. Und Menschen gegenüber ist Furcht wohl am Platz, scheint mir. Nimm deine Phantasie zu Hilfe und denke ihre Körper, ihre Stimmen. Wir sollten reisen.«

»Es ist töricht, sich vor Menschen zu fürchten,« beharrte[407] Eva, stützte den Arm auf ein Kissen und den Kopf in die Hand.

Susanne sagte: »Aber auch du hast Furcht. Oder was ist es? Was geht mit dir vor? Hast du Furcht? Wovor hast du Furcht?«

»Furcht ... ja, ich habe Furcht,« murmelte Eva; »wovor? Ich weiß es nicht. Vor Schatten und vor Träumen. Es ist eine Abwesenheit in mir. Meine Schutzgottheit ist abwesend. Das macht Furcht.«

Susanne erbebte bei diesen Worten der Bestätigung. »Soll ich die Koffer packen lassen?« fragte sie demütig.

Die Frage überhörend, fuhr Eva fort: »Die Furcht entsteht aus der Schuld. Siehst du, ich gehe herum und bin schuldig. Ich öffne mein Kleid, weil mir enge drin wird, und bin schuldig. Ich greife nach der blauen Blüte da, und bin schuldig. Ich sinne und sinne, grüble und grüble, und kann den Grund nicht finden. Den innersten, untersten, ich kann ihn nicht finden.«

»Schuldig?« stammelte Susanne bestürzt, »du, schuldig? Was meinst du? Was redest du? Kind, du bist krank! Süße, Einzige, du wirst mir krank.« Sie stürzte vor Eva hin, umschlang den zarten Leib und schaute mit den feuchtschwimmenden Beerenaugen zu ihr empor. »Laß uns fortgehen, Herz, laß uns wieder zu den Freunden gehen. Ich wußte es ja, dies Land wird dich töten. Die Wildnis von gestern, die du umgezaubert hast in ein lügenhaftes Paradies, sie hat noch die ganze Bosheit abgeschiedener und verdammter Erde. Steh auf und lächle, Süße; steh auf. Ich will mich ans Klavier setzen und Schumann spielen, den du liebst. Ich will einen Spiegel bringen, damit du dich anschaust und siehst, daß du noch schön bist. Wer ist schuldig, der noch so schön ist?«

Eva schüttelte schwermütig den Kopf. »Schönheit?« fragte sie, »Schönheit? Du willst mich betrügen um mein Gefühl mit deiner Schönheit. Ich weiß nichts von ihr, und wenn sie[408] etwas Wirkliches ist, so ist sie ohne Segen. Nein, von Schönheit rede nicht. Ich habe zu viel an mich gerissen, zu viel in zu kurzer Zeit, zu viel geraubt, zu viel verbraucht, zu viel vergeudet. Zu viel Menschen, zu viel Seelen, zu viel anvertrautes Pfand. Ich konnte es nicht halten und tragen. Was ich wünschte, wurde erfüllt. Je maßloser ich wünschte, je rascher kam die Erfüllung. Da war Ruhm, da war Liebe, da war Reichtum, da war Macht, da war Dienst von Sklaven, da war Anbetung, alles, alles; so viel, um drin zu wühlen wie in einem Haufen kostbarer Steine. Ich wollte emporkommen, von wie tief, das weißt du; es nahm mich auf Flügel. Ich wollte Hindernisse zerbrechen; als ich mich dazu anschickte, waren sie nicht mehr da. Ich wollte mich hingeben für eine große Idee, und mir wurde geglaubt, kaum daß ich begonnen hatte, um sie zu ringen. Man verkündete mich, und ich war noch der Lehre bedürftig. Zu früh, zu früh, zu viel, zu viel. Millionen opfern ihr Teuerstes, angstvoll und andächtig, nur um nicht fortgeschwemmt zu werden von der Klippe, die sie sich erobert; ich war wie Aladdin, vor dem die Ifrids das Knie beugen noch vor dem Befehl. Den einzigen, dessen Herz mir Widerstand geleistet – weshalb, war ihm selber ein Geheimnis, – habe ich von mir gestoßen und mißkannt. Jeder Schritt ein Schritt in die Schuld; jede Sehnsucht Schuld; jeder Dank eine Schuld; jede Stunde der Lust eine Schuld; jedes Genießen ein Verarmen, jedes Hinauf ein Sturz.«

»Frevlerin,« murmelte Susanne, »aus Übermut und Überdruß sündigst du gegen dich und dein Geschick.«

»Wie du mich quälst,« antwortete Eva; »wie ihr mich alle quält, Männer und Weiber. Wie unfruchtbar ich durch euch werde. Wie mich eure Stimmen quälen, eure Augen, eure Worte und Gedanken. Ihr lügt so leichtsinnig. Ihr wollt nicht hören, Wahrheit ist euch verhaßt. Wer seid ihr denn? Wer bist du denn, du? Ah, Susanne ist dein Name, Susanne. Ich kenne dich nicht. Ein Du bist du. Quälst mich, weil[409] du ein Du bist. Geh doch. Hab ich verlangt, daß du bei mir sein sollst? Ich muß zu mir hinein, und du willst mich hindern? Ich sage dir, ich bleibe, und wenn sie mir das Haus über dem Kopf abbrennen.«

Sie sprach dies mit verschlossener Leidenschaftlichkeit, erhob sich, machte sich los von der schluchzenden Gefährtin und ging in ihr Schlafgemach.

Eine Stunde später stürzte Susanne bleich und mit wirren Haaren herein. »Es wird Ernst,« rief sie der noch wachen und bei der verhängten Lampe sinnenden Herrin zu; »sie nähern sich dem Schloß. Labourdemont hat nach Yalta telephoniert; man hat geraten, daß wir uns schleunigst entfernen. Seit einer Viertelstunde ist übrigens die Leitung zerstört. Ich komme aus der Garage, das Auto wird in zwanzig Minuten vorfahren. Schnell, schnell, solang es noch Zeit ist.«

Gelassen sagte Eva: »Kein Anlaß zu Lärm und Geschrei. Beruhige dich. Die Erfahrung hat in ähnlichen Fällen bewiesen, daß man durch Flucht nur die Leute zur Plünderung und Vernichtung reizt. Sollten sie die Vermessenheit so weit treiben und hier eindringen, so werde ich ihnen entgegentreten und mit ihren Anführern verhandeln. Es ist das Richtige und das Natürliche. Ich bleibe, werde aber niemand zwingen, dasselbe zu tun.«

»Du bist sehr im Irrtum, wenn du glaubst, ich zittre für mich,« antwortete Susanne, plötzlich vollkommen trocken und gefaßt; »bleibst du, so bleibe ich selbstverständlich auch. Verlieren wir also kein Wort darüber.« Und sie reichte der Herrin das Gewand, das sie stumm gefordert hatte.

Man vernahm hastiges Laufen, Zurufe, das Schnurren des Autos, Hundegebell. Monsieur Labourdemont ging im Vorsaal erregt auf und ab. Der Gendarmeriewachtmeister sprach vor der Auffahrtstreppe laut mit seinen Leuten. Eva setzte sich gleichmütig an den Toilettentisch und ließ sich von Susanne das Haar aufstecken. Das Rauschen des Meeres drang durch[410] die offenen Fenster. Dies schwere, schleifende Geräusch wurde auf einmal durch das Knattern von Gewehrfeuer unterbrochen.

Danach entstand eine kleine Stille. Labourdemont klopfte an die Tür des Schlafgemachs. Es sei keine Minute mehr zu versäumen, rief er mit dem Knäuel der Angst in der Kehle. »Teile ihm das Notwendige mit,« befahl Eva; Susanne ging hinaus und kehrte nach kurzer Weile mit einem düsteren Lächeln auf den Lippen zurück. Eva schaute sie fragend an. »Panik,« sagte Susanne achselzuckend; »es läßt sich denken. Sie sind ratlos.«

Abermals Zurufe, bestürzte, verworrene. Schein von Lichtern dann; leise Kommandos. Dann quollen Schreie aus der Stille. Zugleich ein Johlen von Hunderten. Plötzlich krachte es, als würde ein Holztor zerschmettert. Das Gebell der Hunde wurde verschlungen von Geprassel und gleich darauf folgendem ohrenzerreißenden Johlen, Pfeifen und Heulen. Eine Feuergarbe loderte; das Gemach war rot. Susanne stand rot in der Mitte; ihre Augen waren glasig, das Gesicht eine Maske.

Eva trat ans Fenster. Bäume und Büsche waren in Glut getaucht. Der Herd des Feuers war den Blicken entzogen. Der Platz vor dem Schloß war leer, die Wachmannschaft verschwunden. Sie hatten es für aussichtslos erkannt, der Übermacht der Meuterer beizukommen, und waren geflüchtet. Auch von den Dienern Evas war keiner mehr zu sehen. Ungewisse Schatten wälzten sich im lohenden Dunkel fauchend näher. Aus allen Richtungen knallten Schüsse. Scherbengeklirr ertönte; es waren die Glashäuser, gegen die Steine geschleudert wurden. Da brachen von links und rechts her, das Haus umflutend, Männermassen aus der feurigen Dämmerung, die von Sekunde zu Sekunde mehr in satte Brandhelle überging. Es war ein wüstes Gewimmel von Armen, Rümpfen und Köpfen, ein tobender, ungestüm sich vorwärtsschiebender[411] Hause, dessen Brüllen, Gurren und Pfeifen die Luft erschütterte.

»Geh fort vom Fenster!« murmelte Susanne rauh flehend.

Eva rührte sich nicht. Da blickten einige empor und gewahrten sie. Ein unverständliches Wort durchlief die wirbelnde Menge. Viele blieben stehen, aber während sie hinaufstarrten, wurden sie von Nachdrängenden weitergeschoben. Als die Bewegung vor der Freitreppe brach und zu einem Schwanken verebbte, trat Stille ein.

»Geh fort vom Fenster!« flehte Susanne mit erhobenen Händen.

Scharlachfarbene Gesichter, dichtgedrängt, waren gegen Eva gekehrt. Mann an Mann schoben sie sich auf dem weiten Halbrund vor dem Schloß, die Menge nahm zu wie dunkle Flüssigkeit in einem Gefäß, das sich füllt. Die Hintersten zerstampften den Rasen und die Beete, rissen Büsche aus, stürzten Statuen um. Die meisten trugen die Uniform der Kriegsmarine, aber es befand sich auch Pöbel aus den Städten darunter, raub- und mordgieriges Gelichter, Mitglieder der schwarzen Hundert. Sie waren bewaffnet mit Gewehren, Säbeln, Knütteln, Revolvern, Eisenstangen, Äxten, und eine große Anzahl war betrunken.

Das unverständliche Wort gellte neuerdings über die Köpfe. Die treibende Bewegung fing als Wirbel wieder an. Fäuste schraubten sich hoch. Ein Schuß wurde abgefeuert; Susanne schrie erstickt: die Ampel über dem Bett zersplitterte. Eva trat vom Fenster zurück. Sie schauderte. Sie machte ein paar Schritte, nahm geistesabwesend einen Apfel von einer Schale. Er entfiel ihrer Hand und rollte auf dem Boden weiter.

Sie drangen ins Haus. Man hörte Axthiebe, Scharren vieler Schritte, Aufreißen von Türen. Sie suchten.

»Wir Unglücklichen,« flüsterte Susanne und ergriff mit beiden Händen Evas Arm, als stoße sie jemand ins Wasser.[412]

»Laß,« wehrte Eva ab, »laß. Ich will versuchen, mit ihnen zu reden. Ihnen Mut zu zeigen, wird genügen.«

»Geh nicht, um Gottes willen, geh nicht!« beschwor Susanne.

»Laß, sag ich dir. Ich sehe keinen Ausweg sonst. Verbirg dich du und laß mich.«

Sie ging königlich. Sie wußte vielleicht um das Urteil, das gefällt war. Über die Schwelle tretend, hatte sie ein eisiges Gefühl der Entscheidung. Sie schritt verhängten Blickes. Der Weg schien weit; er erregte Ungeduld in ihr. Aus Flammenschein und dem schwachdurchleuchteten Grau prallten Menschen auf sie zu, wichen zurück, umstellten sie, wichen zurück. Der Adel der Gestalt bezwang sie noch. Aber dahinter rasten, geiferten Dämonen und wühlten sich Bahn zu ihr. Sie sprach russische Worte. Das brandige Wirrsal der Köpfe und Schultern wogte überwirklich auf und nieder. Sie sah Hälse, Bärte, Zähne, Fäuste, Ohren, Augen, Stirnen, Adern, Fingernägel. Mienen verschwammen; das Ganze der Gesichter zerloderte. Im Übungssaal prasselte Feuer. Beilhiebe zertrümmerten Kostbares. Rauch füllte die Gänge. Geschrei von Wahnwitzigen tobte. Eva wandte sich.

Es war zu spät. Da wirkte kein Zauber eines Blickes und einer Gebärde mehr. Da war Raserei des Elements.

Sie lief; gazellenhaft leicht. Hinter ihr plumpe Schritte, Lungen, die laut pumpten. Sie gelangte zur Treppe des viereckigen Turms, dieses Gebildes ihrer Laune. Sie lief hinan. Als sie höher kam, funkelten die vergoldeten Stufen im ersten Tageslicht. Die Hand glitt am Geländer reibungslos; das bemalte Email, Erzeugnis ihrer Laune, fühlte sich kühl und beschwichtigend an. Die Verfolger knurrten wie Wölfe. Das Licht hob sie. Sie stürzte in den silbernen Morgen hinauf, erblickte brennende Gebäude, die sich im Wind bogen, das Meer. Die Verfolger wälzten sich nach wie ein Gliederhaufen, ein Polyp mit Haaren, Nasen und gefletschten Zähnen.

Sie schwang sich auf die Brüstung. Arme langten nach ihr.[413] Höher! Könnte man doch höher! Den Himmel belagerten Wolken. Einst war es anders gewesen. Sterne hatten getröstet, ein herrlich entfaltetes Firmament. Die Erinnerung blieb nur eine Sekunde. Hände griffen, an ihre Brust krallten sich Finger. Vier, sechs, acht Armpaare streckten sich aus; ein letztes Besinnen, eine letzte Anstrengung, ein letzter Seufzer, die Luft wich sausend, sie stürzte ...

Auf Marmorfliesen lag ihre Leiche. Der wunderbarste Körper, zu blutigem Brei entformt. Die gebrochenen Augen leer aufgeschlagen, ohne Tiefe, ohne Wissen, ohne Sinn. Von der Brüstung oben heulten die Menschenwölfe gierig und enttäuscht; unten fielen andre über die Tote her. Sie rissen die Gewänder vom Leib und steckten sie wie Fahnenfetzen auf Stangen und Zweige.

Auf der Schwelle des Schlafzimmers ihrer Herrin lag erschlagen Susanne Rappard.

Als das Werk der Plünderung und Zerstörung beendet war, zog der wilde Haufe ab. Über den nackten, besudelten Leichnam der Tänzerin hatte zuletzt ein barmherzig Schamvoller eine Pferdedecke geworfen.

Es ging aber bis zum Abend noch ein Mann auf der Trümmerstätte umher, einsam, in einsamer Not. Er trug das Kleid eines Popen und in den Zügen, auch er, das Mal erfüllten Schicksals. Und die in später Stunde kamen, ihn zu suchen und zu holen, grüßten ihn ehrfürchtig, denn er galt ihnen als der Heilige des Volkes und der Prophet des neuen Reiches.

Er sagte zu ihnen: »Ich habe euch belogen, ich bin ein schwacher Mensch wie ihr.«

Darauf wiegten sie die Köpfe, und einer antwortete: »Väterchen Iwan Michailowitsch, mache unsre Hoffnung nicht zuschanden und geleite uns in unsrer Schwäche.«

Da blickte der Heilige des Volkes auf die Leiche, die wenige Schritte entfernt zwischen ausgerissenen Blumen und verkohlten Trümmern unter der Pferdedecke lag und sagte: »So laßt uns denn bis zum Ende gehen.«

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 403-414.
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