[414] Dreimal blieb Niels Heinrich auf der Straße stehen und starrte Christian ins Gesicht. Hierauf ging er weiter, stieß seine Füße in den Asphalt und rundete seinen Rücken. Anfangs schleppte er sich mühsam, dann wurde der Schritt fester.
Vor Kahles Laden fragte er tonlos höhnisch, ob der Herr bei der Polizei angestellt sei. In dem Fall möge der Herr kurzen Prozeß machen, er seinerseits werde seinen Weg dann schon kennen.
»Nicht deswegen bin ich mit Ihnen gegangen,« erwiderte Christian.
»Also weswegen sonst?« Der Herr rede wieder mal wie 'n Schnösel; der Herr denke immer, man könne ihn mit Redensarten besoffen machen.
»Wohnen Sie hier in dem Hause?« fragte Christian.
Jawoll, da wohne er. Der Herr wünsche vielleicht, sich die stinkige Bude anzugucken? Na, denn immer ran. Er bleibe allerdings nicht lange oben, er wolle sich bißchen adrett machen und denn zum flinken Jottlieb gehen. Der flinke Jottlieb, das sei 'n besseres Lokal mit Mächens und Sekt. Er wolle heute so fünfzehn bis zwanzig Pullen Sekt schmeißen. Man habe es ja dazu. Vorher müsse er aber noch zum Juden Grünbusch in die Pappelallee, was versetzen. Werde dem Herr wohl zu viel werden. Vielleicht nee?
Dies schnarrte er auf der finsteren Treppe in Wut heraus. Aber dahinter war die Siedhölle der Angst.
Das Licht der Straßenlaterne, die dicht vor einem der niedrigen Halbfenster stand, goß grünfahlen Schein in die Stube und ersparte es Niels Heinrich, die Lampe anzuzünden. Er wies darauf hin und bemerkte kichernd, es sei barer Profit, daß die Beleuchtung auf öffentliche Kosten gehe. Er könne die Zeitung im Bett lesen und brauche dann nicht mal einen Huster zu machen beim Einschlafen. Da sehe man, wie ein[415] Kerl Hause, ders zu was hätte bringen können im Leben und nicht auf den Kopf gefallen sei, da sehe mans. Ein Lauseloch sei das, ein Drecknest. Aber jetzt werde die Sache anders werden; jetzt werde er ins »Adlong« ziehen, Zimmer mit Badd, und sich ein Auto kaufen und Wäsche im Nürnberger Bazar oder bei Old England.
Er steckte die Hand in die Hosentasche und ließ ein Klappern hören. Christian hielt, was er sagte, für zusammenhangloses Geschwätz und schwieg.
Niels Heinrich riß den zerknitterten Hemdkragen herunter und warf Rock und Weste aufs Bett. Er öffnete eine Kommodenlade und den Schrank, zog mit erstaunlicher Fixigkeit einen frischen Kragen an, der so hoch war, daß er den Hals wie eine weiße Röhre umpreßte, band eine gelbe Seidenkrawatte um und schlüpfte sodann in ein schwarz und weiß gestreiftes Gilet und einen Rock mit Schößen. Das alles sah neu aus und stach lächerlich von den karierten, befleckten Beinkleidern ab, die er aus irgendeinem Grund zu wechseln unterließ. Auch die Manschetten waren schmutzig.
»Also weswegen?« fragte er plötzlich wieder, und seine Augen flackerten rabiat im grünfahlen Laternenlicht; »weswegen denn? Weswegen jehn Se mir nich von der Pelle?«
»Ich brauche Sie,« antwortete Christian, der an der Tür stehengeblieben war.
»Sie brauchen mir? Wozu denn? Versteh ich nich. Erklären Sie sich man deutlicher, Mensch.« Da Christian schwieg, steigerte er sich giftig zu Haß und Drohung. »Sie wolln mir woll dreckig kommen? Sie nich, verstehn Se, mir nich. Kommen Se mir nich dumm, sonst komm ich Ihnen noch dümmer.«
»Es nutzt nichts, in dieser Art zu sprechen,« sagte Christian. »Sie fassen mein Hiersein und mein ... wie soll ich es ausdrücken, mein Interesse an Ihnen falsch auf. Interesse, nein, das ist nicht das richtige Wort. Aber es kommt ja auf das Wort nicht an. Sie glauben wahrscheinlich, mir wäre es[416] darum zu tun, daß Sie sich dem Gericht stellen, daß Sie das Geständnis, das Sie mir abgelegt haben, dort wiederholen. Aber daran liegt mir nichts, ich versichere es Ihnen, oder es liegt mir nur insofern daran, als ich es um des unschuldigen und, wie man annehmen kann, durch seine Lage und durch seine Gemütsverwirrung sehr unglücklichen Joachim Heinzen willen für wünschenswert hielte. Es muß ihm entsetzlich zumute sein, ich spüre es fortwährend, es geht mir nah, und besonders, seit Sie sich gegen mich ausgesprochen haben. Ich sehe ihn förmlich. Ich sehe ihn, wie wenn er sich bei der Bemühung, an einer steinernen Mauer emporzuklettern, die Finger und die Knie blutig schürfen würde. Er begreift es nicht. Er begreift nicht, daß eine Mauer so steinern und so steil sein kann. Er begreift nicht, was mit ihm vorgeht. Die ganze Welt muß ihm krank erscheinen. Es ist Ihnen offenbar gelungen, ihn in eine so stark nachwirkende Hypnose zu bringen, daß er unter diesem furchtbaren Einfluß die Kontrolle über seine Handlungen verloren hat. Sie haben etwas im Wesen, das an eine solche Gewalt glauben läßt. Ganz bestimmt ist ihm Ihr Name aus dem Gedächtnis entschwunden. Ginge einer hin und flüsterte ihm den Namen ins Ohr, Niels Heinrich Engelschall, er würde vielleicht wie vom Schlag getroffen zusammenstürzen. Das ist natürlich ausgedacht, eine Übertreibung. Aber stellen Sie sich ihn einmal vor. Man muß sich die Menschen und die Dinge vorstellen; die wenigsten tun das, sie schwindeln sich daran vorbei. Ich sehe ihn innerlich so ausgeraubt, so mittellos, daß der Gedanke kaum zu ertragen ist. Sie werden mir entgegenhalten: ein Idiot; ein Unzurechnungsfähiger mit herabgemindertem Sensorium, mehr Tier als Mensch. Es ist das sogar ein Argument, dessen sich die Wissenschaft bedient. Aber es ist ein falsches Argument; die Voraussetzung ist falsch, und der Schluß, den man daraus zieht, ist falsch. Meine Ansicht ist, daß alle Menschen gleich tief empfinden, daß es keine Verschiedenheit[417] in der Schmerzempfindlichkeit gibt. Nur das Bewußtsein davon ist verschieden. Es ist sozusagen kein Unterschied in der Buchführung, es ist ein Unterschied in der Abrechnung.«
Er machte mit gesenktem Kopf einen Schritt gegen Niels Heinrich, der sich nicht rührte, und während ein verschleiertes Lächeln um seine Lippen huschte, fuhr er fort: »Mißdeuten Sie mich nicht. Ich will auf Ihre Entschließungen nicht im mindesten einwirken. Was Sie tun oder unterlassen, ist Ihre persönliche Angelegenheit. Es ist eine Frage des Anstands und der Menschlichkeit, ob man den armen Teufel aus seiner schrecklichen Situation befreien will oder nicht. Was mich betrifft, so bin ich weit davon entfernt, Ihnen eine Handlung zuzumuten, die nicht aus Ihrer eignen Überzeugung stammt. Ich betrachte mich nicht als Vertreter der öffentlichen Ordnung; ich habe nicht dafür zu sorgen, daß die Gesetze befolgt und die Menschen über ein Verbrechen, das sie beunruhigt, aufgeklärt werden. Wozu wäre das nütze? Was würde besser dadurch? Ich will Sie nicht fangen, ich will Sie nicht übertölpeln. Der Gang zu Gericht, die Enthüllung der Tat, die Sühne vor der Welt, die Strafe, was hab ich mit all dem zu schaffen? Nicht deshalb bin ich bei Ihnen.«
Niels Heinrich war es, als drehe sich sein Gehirn mit einem knackenden Geräusch. Er faßte nach der Tischkante und hielt sich fest. Ein Urstaunen war in seinen Mienen. Der Unterkiefer sank herab; er lauschte mit offenem Mund.
»Strafe, was heißt das? Bin ich befugt, Sie der Strafe zuzuführen? List anzuwenden oder Gewalt, damit Sie Strafe erleiden? Es kommt mir nicht einmal zu, Ihnen zu sagen: Sie sind schuldig. Ich weiß es nicht, ob Sie schuldig sind. Ich weiß, daß Schuld da ist, aber ob Sie schuldig sind, und in welchem Verhältnis Sie zur Schuld stehen, kann ich nicht wissen. Nur Sie selbst können es wissen. Nur Sie selbst haben das Maß für das, was Sie getan haben, nicht die, die[418] Ihre Richter sein werden. Auch ich habe kein Maß dafür, aber ich richte nicht. Ich frage mich: Wer darf richten? Ich sehe keinen, ich kenne keinen. Für das Zusammenleben der Menschen ist es vielleicht notwendig, daß gerichtet wird, aber der einzelne gewinnt nichts durch den Richtspruch, an seiner Seele nicht und an seiner Erkenntnis nicht.«
Es war ein bodenloses Schweigen, in welches Niels Heinrich versunken war. Er erinnerte sich plötzlich des Augenblicks, wie es ihn getrieben hatte, die Maschine zu ermorden. Mit völliger Klarheit sah er die ölschwitzenden Stahlteile vor sich, die hurtig schnurrenden Räder, das ganze exakt arbeitende Gefüge, das ihm irgendwo verderblich und feindselig erschienen war. Warum das Bild vor ihm auftauchte, gerade jetzt, und warum er sich seines rachsüchtigen Verlangens mit einem Anflug von Scham entsann, gerade jetzt, begriff er nicht.
Christian sprach: »Das alles spielt also keine Rolle. Sie können ohne Furcht sein. Was ich will, hat damit nichts zu tun. Ich will,« er stockte, zauderte, rang um den Ausdruck, »ich will Sie haben. Ich brauche Sie ...«
»Brauchen mich? Brauchen mich?« murmelte Niels Heinrich, ohne zu verstehen; »wie denn? Wozu denn?«
»Ich kann es nicht erklären, kann es unmöglich erklären,« sagte Christian.
Niels Heinrich lachte auf. Es war ein klangloses, abgebrochenes Haha. Dann ging er mit seinem Stechschritt rund um den Tisch herum. Dann kam wieder das verpreßte, irre Haha.
»Sie haben ein Wesen von der Erde fortgenommen,« sagte Christian leise, »ein Wesen vernichtet, so kostbar, so unersetzlich einzig, daß Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende vergehen werden, bis wieder eines sich bilden kann, das ihm ähnlich oder gleich ist. Wissen Sie das nicht? Jedes lebendige Geschöpf ist wie eine Schraube an einer äußerst wunderbar gebauten Maschine –«[419]
Niels Heinrich fing an so heftig zu zittern, daß Christian es bemerkte. »Was ist Ihnen?« forschte er, »sind Sie unwohl?«
Niels Heinrich griff nach seinem steifen Filzhut, der an einem Nagel hing, und strich mit nervösen Bewegungen darüber hin. »Mensch, Sie machen einen ja ganz unsinnig,« stieß er dumpf hervor.
»Hören Sie nur,« fuhr Christian eindringlich fort, »– an einer wundervoll gebauten Maschine. Nun gibt es aber wichtige Schrauben und minder wichtige. Und dieses Wesen war eine allerwichtigste. So wichtig, daß ich das Gefühl habe, die Maschine ist auf immer beschädigt, seit sie nicht mehr darin funktioniert. Niemand kann einen Bestandteil von solcher Feinheit und Zweckmäßigkeit je wieder herstellen, und wenn auch Ersatz beschafft wird, so ist die Maschine doch nicht mehr das, was sie war. Aber abgesehen von der Maschine, abgesehen von dem Vergleich, haben Sie mir etwas zugefügt, was in Worten nicht gesagt werden kann. Schmerz, Kummer, Traurigkeit, das sind keine Worte dafür. Sie haben mir etwas geraubt, etwas Kostbares, unersetzlich Einziges, und Sie müssen mir etwas dafür geben. Sie müssen mir etwas dafür geben, hören Sie das! Deswegen steh ich da. Deswegen folg ich Ihnen nach. Sie müssen mir etwas dafür geben, was, weiß ich nicht, aber sonst verzweifle ich, sonst werd ich selber zum Mörder!«
Er schlug die Hände vors Gesicht und brach in heiseres, wildes, ungestümes Weinen aus.
Mit bebenden Lippen, kleinlaut, wie ein Kind, stammelte Niels Heinrich: »Ja du großer Heiland, was soll ich Ihnen denn dafür geben?«
Christian weinte und antwortete nicht.
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