Erste Szene

[116] Abend auf Melchiors Studierzimmer. Das Fenster steht offen, die Lampe brennt auf dem Tischs. – Melchior und Moritz auf dem Kanapee.


MORITZ. Jetzt bin ich wieder ganz munter, nur etwas aufgeregt. – Aber in der Griechischstunde habe ich doch geschlafen wie der besoffene Polyphem. Nimmt mich wunder, daß mich der alte Zungenschlag nicht in die Ohren gezwickt. – Heut früh wäre ich um ein Haar noch zu spät gekommen. – Mein erster Gedanke beim Erwachen waren die Verba auf μι. – Himmel – Herrgott – Teufel – Donnerwetter, während des Frühstücks und den Weg entlang habe ich konjugiert, daß mir grün vor den Augen wurde. – Kurz nach drei muß ich abgeschnappt sein. Die Feder hat mir noch einen Klecks ins Buch gemacht. Die Lampe qualmte, als Mathilde mich weckte, in den Fliederbüschen unter dem Fenster zwitscherten die Amseln so lebensfroh – mir ward gleich wieder unsagbar melancholisch zumute. Ich band mir den Kragen um und fuhr mit der Bürste durchs Haar. – – Aber man fühlt sich, wenn man seiner Natur etwas abgerungen!

MELCHIOR. Darf ich dir eine Zigarette drehen?

MORITZ. Danke, ich rauche nicht. – Wenn es nun nur so weiter geht! Ich will arbeiten und arbeiten, bis mir die Augen zum Kopf herausplatzen. – Ernst Röbel hat seit den Ferien schon sechsmal nichts gekonnt; dreimal im Griechischen, zweimal bei Knochenbruch; das letztemal in der Literaturgeschichte. Ich war erst fünfmal in der bedauernswerten Lage; und von heute ab kommt es überhaupt nicht mehr vor! – Röbel erschießt sich nicht. Röbel hat keine Eltern, die ihm ihr Alles opfern. Er kann, wann er will, Söldner, Cowboy oder Matrose werden. Wenn ich durchfalle, rührt meinen Vater der Schlag, und Mama kommt ins Irrenhaus. So was erlebt man[116] nicht! – Vor dem Examen habe ich zu Gott gefleht, er möge mich schwindsüchtig werden lassen, auf daß der Kelch ungenossen vorübergehe. Er ging vorüber – wenngleich mir auch heute noch seine Aureole aus der Ferne entgegenleuchtet, daß ich Tag und Nacht den Blick nicht zu heben wage. – Aber nun ich die Stange erfaßt, werde ich mich auch hinaufschwingen. Dafür bürgt mir die unabänderliche Konsequenz, daß ich nicht stürze, ohne das Genick zu brechen.

MELCHIOR. Das Leben ist von einer ungeahnten Gemeinheit. Ich hätte nicht übel Lust, mich in die Zweige zu hängen. – Wo Mama mit dem Tee nur bleibt!

MORITZ. Dein Tee wird mir guttun, Melchior! Ich zittre nämlich. Ich fühle mich so eigentümlich vergeistert. Betaste mich bitte mal. Ich sehe – ich höre – ich fühle viel deutlicher und doch alles so traumhaft – oh, so stimmungsvoll. – Wie sich dort im Mondschein der Garten dehnt, so still, so tief, als ging er ins Unendliche. – Unter den Büschen treten umflorte Gestalten hervor, huschen in atemloser Geschäftigkeit über die Lichtungen und verschwinden im Halbdunkel. Mir scheint, unter dem Kastanienbaum soll eine Ratsversammlung gehalten werden. – Wollen wir nicht hinunter, Melchior?

MELCHIOR. Warten wir, bis wir Tee getrunken.

MORITZ. – Die Blätter flüstern so emsig. – Es ist, als hörte ich Großmutter selig die Geschichte von der ›Königin ohne Kopf‹ erzählen. – Das war eine wunderschöne Königin, schön wie die Sonne, schöner als alle Mädchen im Land. Nur war sie leider ohne Kopf auf die Welt gekommen. Sie konnte nicht essen, nicht trinken, konnte nicht sehen, nicht lachen und auch nicht küssen. Sie vermochte sich mit ihrem Hofstaat nur durch ihre kleine weiche Hand zu verständigen. Mit den zierlichen Füßen strampelte sie Kriegserklärungen und Todesurteile. Da wurde sie eines Tages von einem Könige besiegt, der zufällig zwei Köpfe hatte, die sich das ganze Jahr in den Haaren lagen und dabei so aufgeregt disputierten, daß keiner den andern zu Wort kommen ließ. Der Oberhofzauberer nahm nun den kleineren der beiden und setzte ihn der Königin auf. Und siehe, er stand ihr[117] vortrefflich. Darauf heiratete der König die Königin, und die beiden lagen einander nun nicht mehr in den Haaren, sondern küßten einander auf Stirn, auf Wangen und Mund und lebten noch lange lange Jahre glücklich und in Freuden ... Verwünschter Unsinn! Seit den Ferien kommt mir die kopflose Königin nicht aus dem Kopf. Wenn ich ein schönes Mädchen sehe, seh ich es ohne Kopf – und erscheine mir dann plötzlich selber als kopflose Königin ... Möglich, daß mir noch mal einer aufgesetzt wird.


Frau Gabor kommt mit dem dampfenden Tee, den sie vor Moritz und Melchior auf den Tisch setzt.


FRAU GABOR. Hier, Kinder, laßt es euch munden. Guten Abend, Herr Stiefel; wie geht es Ihnen!

MORITZ. Danke, Frau Gabor. – Ich belausche den Reigen dort unten.

FRAU GABOR. Sie sehen aber gar nicht gut aus. – Fühlen Sie sich nicht wohl?

MORITZ. Es hat nichts zu sagen. Ich bin die letzten Abende etwas spät zu Bett gekommen.

MELCHIOR. Denke dir, er hat die ganze Nacht durchgearbeitet.

FRAU GABOR. Sie sollten so etwas nicht tun, Herr Stiefel. Sie sollten sich schonen. Bedenken Sie Ihre Gesundheit. Die Schule ersetzt Ihnen die Gesundheit nicht. – Fleißig spazierengehn in der frischen Luft! Das ist in Ihren Jahren mehr wert als ein korrektes Mittelhochdeutsch.

MORITZ. Ich werde fleißig spazierengehn. Sie haben recht. Man kann auch während des Spazierengehens fleißig sein. Daß ich noch selbst nicht auf den Gedanken gekommen! – Die schriftlichen Arbeiten müßte ich immerhin zu Hause machen.

MELCHIOR. Das Schriftliche machst du bei mir; so wird es uns beiden leichter. – Du weißt ja, Mama, daß Max von Trenk am Nervenfieber darniederlag! – Heute mittag kommt Hänschen Rilow von Trenks Totenbett zu Rektor Sonnenstich, um anzuzeigen, daß Trenk soeben in seiner Gegenwart gestorben sei. – »So?« sagt Sonnenstich, »hast du von letzter Woche her nicht noch zwei Stunden[118] nachzusitzen? – Hier ist der Zettel an den Pedell. Mach, daß die Sache endlich ins reine kommt! Die ganze Klasse soll an der Beerdigung teilnehmen.« – Hänschen war wie gelähmt.

FRAU GABOR. Was hast du da für ein Buch, Melchior?

MELCHIOR. »Faust.«

FRAU GABOR. Hast du es schon gelesen?

MELCHIOR. Noch nicht zu Ende.

MORITZ. Wir sind gerade in der Walpurgisnacht.

FRAU GABOR. Ich hätte an deiner Stelle noch ein, zwei Jahre damit gewartet.

MELCHIOR. Ich kenne kein Buch, Mama, in dem ich soviel Schönes gefunden. Warum hätte ich es nicht lesen sollen.

FRAU GABOR. – Weil du es nicht verstehst.

MELCHIOR. Das kannst du nicht wissen, Mama. Ich fühle sehr wohl, daß ich das Werk in seiner ganzen Erhabenheit zu erfassen noch nicht imstande bin ...

MORITZ. Wir lesen immer zu zweit; das erleichtert das Verständnis außerordentlich!

FRAU GABOR. Du bist alt genug, Melchior, um wissen zu können, was dir zuträglich und was dir schädlich ist. Tu, was du vor dir verantworten kannst. Ich werde die erste sein, die es dankbar anerkennt, wenn du mir niemals Grund gibst, dir etwas vorenthalten zu müssen. – Ich wollte dich nur darauf aufmerksam machen, daß auch das Beste nachteilig wirken kann, wenn man noch die Reife nicht besitzt, um es richtig aufzunehmen. – Ich werde mein Vertrauen immer lieber in dich als in irgend beliebige erzieherische Maßregeln setzen. – – Wenn ihr noch etwas braucht, Kinder, dann komm herüber, Melchior, und rufe mich. Ich bin auf meinem Schlafzimmer.


Ab.


MORITZ. – Deine Mama meinte die Geschichte mit Gretchen.

MELCHIOR. Haben wir uns auch nur einen Moment dabei aufgehalten!

MORITZ. Faust selber kann sich nicht kaltblütiger darüber hinweggesetzt haben!

MELCHIOR. Das Kunstwerk gipfelt doch schließlich nicht in dieser Schändlichkeit! – Faust könnte dem Mädchen die Heirat versprochen, könnte es daraufhin verlassen haben, er[119] wäre in meinen Augen um kein Haar weniger strafbar. Gretchen könnte ja meinethalben an gebrochenem Herzen sterben. – Sieht man, wie jeder darauf immer gleich krampfhaft die Blicke richtet, man möchte glauben, die ganze Welt drehe sich um P ... und V ...!

MORITZ. Wenn ich aufrichtig sein soll, Melchior, so habe ich nämlich tatsächlich das Gefühl, seit ich deinen Aufsatz gelesen. – In den ersten Ferientagen fiel er mir vor die Füße. Ich hatte den Ploetz in der Hand. – Ich verriegelte die Tür und durchflog die flimmernden Zeilen, wie eine aufgeschreckte Eule einen brennenden Wald durchfliegt – ich glaube, ich habe das meiste mit geschlossenen Augen gelesen. Wie eine Reihe dunkler Erinnerungen klangen mir deine Auseinandersetzungen ins Ohr, wie ein Lied, das einer als Kind einst fröhlich vor sich hin gesummt und das ihm, wie er eben im Sterben liegt, herzerschütternd aus dem Mund eines andern entgegentönt. – Am heftigsten zog mich in Mitleidenschaft, was du vom Mädchen schreibst. Ich werde die Eindrücke nicht mehr los. Glaub mir, Melchior, Unrecht leiden zu müssen ist süßer, denn Unrecht tun! Unverschuldet ein so süßes Unrecht über sich ergehen lassen zu müssen, scheint mir der Inbegriff aller irdischen Seligkeit.

MELCHIOR. – Ich will meine Seligkeit nicht als Almosen!

MORITZ. Aber warum denn nicht?

MELCHIOR. Ich will nichts, was ich mir nicht habe erkämpfen müssen!

MORITZ. Ist dann das noch Genuß, Melchior?! – Das Mädchen, Melchior, genießt wie die seligen Götter. Das Mädchen wehrt sich dank seiner Veranlagung. Es hält sich bis zum letzten Augenblick von jeder Bitternis frei, um mit einem Male alle Himmel über sich hereinbrechen zu sehen. Das Mädchen fürchtet die Hölle noch in dem Moment, da es ein erblühendes Paradies wahrnimmt. Sein Empfinden ist so frisch wie der Quell, der dem Fels entspringt. Das Mädchen ergreift einen Pokal, über den noch kein irdischer Hauch geweht, einen Nektarkelch, dessen Inhalt es, wie er flammt und flackert,[120] hinunterschlingt ... Die Befriedigung, die der Mann dabei findet, denke ich mir schal und abgestanden.

MELCHIOR. Denke sie dir, wie du magst, aber behalte sie für dich. – Ich denke sie mir nicht gern ...


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 116-121.
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