Zweite Szene

[121] Wohnzimmer.


FRAU BERGMANN den Hut auf, die Mantille um, einen Korb am Arm, mit strahlendem Gesicht durch die Mitteltür eintretend. Wendla! – Wendla!

WENDLA erscheint in Unterröckchen und Korsett in der Seitentüre rechts. Was gibt's, Mutter?

FRAU BERGMANN. Du bist schon auf, Kind? – Sieh, das ist schön von dir!

WENDLA. Du warst schon ausgegangen?

FRAU BERGMANN. Zieh dich nun nur flink an! – Du mußt gleich zu Ina hinunter, du mußt ihr den Korb da bringen!

WENDLA sich während des folgenden vollends ankleidend. Du warst bei Ina? – Wie geht es Ina? – Will's noch immer nicht bessern?

FRAU BERGMANN. Denk dir, Wendla, diese Nacht war der Storch bei ihr und hat ihr einen kleinen Jungen gebracht.

WENDLA. Einen Jungen? – Einen Jungen! – O das ist herrlich – Deshalb die langwierige Influenza!

FRAU BERGMANN. Einen prächtigen Jungen!

WENDLA. Den muß ich sehen, Mutter! – So bin ich nun zum dritten Male Tante geworden – Tante von einem Mädchen und zwei Jungens!

FRAU BERGMANN. Und was für Jungens! – So geht's eben, wenn man so dicht beim Kirchendach wohnt! – Morgen sind's erst zwei Jahr, daß sie in ihrem Mullkleid die Stufen hinanstieg.

WENDLA. Warst du dabei, als er ihn brachte?

FRAU BERGMANN. Er war eben wieder fortgeflogen. – Willst du dir nicht eine Rose vorstecken?

WENDLA. Warum kamst du nicht etwas früher hin, Mutter?[121]

FRAU BERGMANN. Ich glaube aber beinahe, er hat dir auch etwas mitgebracht – eine Brosche oder was.

WENDLA. Es ist wirklich schade!

FRAU BERGMANN. Ich sage dir ja, daß er dir eine Brosche mitgebracht hat!

WENDLA. Ich habe Broschen genug ...

FRAU BERGMANN. Dann sei auch zufrieden, Kind. Was willst du denn noch?

WENDLA. Ich hätte so furchtbar gerne gewußt, ob er durchs Fenster oder durch den Schornstein geflogen kam.

FRAU BERGMANN. Da mußt du Ina fragen. Ha, das mußt du Ina fragen, liebes Herz! Ina sagt dir das ganz genau. Ina hat ja eine ganze halbe Stunde mit ihm gesprochen.

WENDLA. Ich werde Ina fragen, wenn ich hinunterkomme.

FRAU BERGMANN. Aber ja nicht vergessen, du süßes Engelsgeschöpf! Es interessiert mich wirklich selbst, zu wissen, ob er durchs Fenster oder durch den Schornstein kam.

WENDLA. Oder soll ich nicht lieber den Schornsteinfeger fragen? – Der Schornsteinfeger muß es doch am besten wissen, ob er durch den Schornstein fliegt oder nicht.

FRAU BERGMANN. Nicht den Schornsteinfeger, Kind; nicht den Schornsteinfeger. Was weiß der Schornsteinfeger vom Storch! – Der schwatzt dir allerhand dummes Zeug vor, an das er selbst nicht glaubt ... Wa-was glotzt du so auf die Straße hinunter??

WENDLA. Ein Mann, Mutter – dreimal so groß wie ein Ochse! – mit Füßen wie Dampfschiffe ...!

FRAU BERGMANN ans Fenster stürzend. Nicht möglich! – Nicht möglich! –

WENDLA zugleich. Eine Bettlade hält er unterm Kinn, fiedelt die Wacht am Rhein drauf – – eben biegt er um die Ecke ...

FRAU BERGMANN. Du bist und bleibst doch ein Kindskopf! – Deine alte einfältige Mutter so in Schrecken jagen! – Geh, nimm deinen Hut. Nimmt mich wunder, wann bei dir einmal der Verstand kommt. – Ich habe die Hoffnung aufgegeben.

WENDLA. Ich auch, Mütterchen, ich auch. – Um meinen Verstand ist es ein traurig Ding. – Hab ich nun eine Schwester, die ist seit zwei und einem halben Jahre verheiratet,[122] und ich selber bin zum dritten Male Tante geworden und habe gar keinen Begriff, wie das alles zugeht ... Nicht böse werden, Mütterchen; nicht böse werden! Wen in der Welt soll ich denn fragen als dich! Bitte, liebe Mutter, sag es mir! Sag's mir, geliebtes Mütterchen! Ich schäme mich vor mir selber. Ich bitte dich, Mutter, sprich! Schilt mich nicht, daß ich so etwas frage. Gib mir Antwort – wie geht es zu? – wie kommt das alles? – Du kannst doch im Ernst nicht verlangen, daß ich bei meinen vierzehn Jahren noch an den Storch glaube.

FRAU BERGMANN. Aber du großer Gott, Kind, wie bist du sonderbar! – Was du für Einfälle hast! – Das kann ich ja doch wahrhaftig nicht!

WENDLA. Warum denn nicht, Mutter! – Warum denn nicht! – Es kann ja doch nichts Häßliches sein, wenn sich alles darüber freut!

FRAU BERGMANN. O – o Gott behüte mich! – Ich verdiente ja ... Geh, zieh dich an, Mädchen; zieh dich an!

WENDLA. Ich gehe, ... Und wenn dein Kind nun hingeht und fragt den Schornsteinfeger?

FRAU BERGMANN. Aber das ist ja zum Närrischwerden! – Komm Kind, komm her, ich sag es dir! Ich sage dir alles ... O du grundgütige Allmacht! – nur heute nicht, Wendla! – Morgen, übermorgen, kommende Woche ... wann du nur immer willst, liebes Herz ...

WENDLA. Sag es mir heute, Mutter; sag es mir jetzt! Jetzt gleich! – Nun ich dich so entsetzt gesehen, kann ich erst recht nicht eher wieder ruhig werden.

FRAU BERGMANN. – Ich kann nicht, Wendla.

WENDLA. Oh, warum kannst du nicht, Mütterchen! – Hier knie ich zu deinen Füßen und lege dir meinen Kopf in den Schoß. Du deckst mir deine Schürze über den Kopf und erzählst und erzählst, als wärst du mutterseelenallein im Zimmer. Ich will nicht zucken; ich will nicht schreien; ich will geduldig ausharren, was immer kommen mag.

FRAU BERGMANN. – Der Himmel weiß, Wendla, daß ich nicht die Schuld trage! Der Himmel kennt mich! – Komm in Gottes Namen! – Ich will dir erzählen, Mädchen, wie du[123] in diese Welt hineingekommen. – So hör mich an, Wendla ... ...

WENDLA unter ihrer Schürze. Ich höre.

FRAU BERGMANN ekstatisch. – Aber es geht ja nicht, Kind! – Ich kann es ja nicht verantworten. – Ich verdiene ja, daß man mich ins Gefängnis setzt – daß man dich von mir nimmt ...

WENDLA unter ihrer Schürze. Faß dir ein Herz, Mutter!

FRAU BERGMANN. So höre denn ...!

WENDLA unter ihrer Schürze, zitternd. O Gott, o Gott!

FRAU BERGMANN. Um ein Kind zu bekommen – du verstehst mich, Wendla?

WENDLA. Rasch, Mutter – ich halt's nicht mehr aus.

FRAU BERGMANN. – Um ein Kind zu bekommen – muß man den Mann – mit dem man verheiratet ist ... liebenlieben sag ich dir – wie man nur einen Mann lieben kann! Man muß ihn so sehr von ganzem Herzen lieben, wie – wie sich's nicht sagen läßt! Man muß ihn lieben, Wendla, wie du in deinen Jahren noch gar nicht lieben kannst ... Jetzt weißt du's.

WENDLA sich erhebend. Großer – Gott – im Himmel!

FRAU BERGMANN. Jetzt weißt du, welche Prüfungen dir bevorstehen!

WENDLA. – Und das ist alles?

FRAU BERGMANN. So wahr mir Gott helfe! – – Nimm nun den Korb da und geh zu Ina hinunter. Du bekommst dort Schokolade und Kuchen dazu. – Komm, laß dich noch einmal betrachten – die Schnürstiefel, die seidenen Handschuhe, die Matrosentaille, die Rosen im Haar ... dein Röckchen wird dir aber wahrhaftig nachgerade zu kurz, Wendla!

WENDLA. Hast du für Mittag schon Fleisch gebracht, Mütterchen?

FRAU BERGMANN. Der liebe Gott behüte dich und segne dich! – Ich werde dir gelegentlich eine Handbreit Volants unten ansetzen.[124]


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 121-125.
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