Vierte Szene

[150] Korrektionsanstalt. – Ein Korridor. – Diethelm, Reinhold, Ruprecht, Helmuth, Gaston und Melchior.


DIETHELM. Hier ist ein Zwanzigpfennigstück!

REINHOLD. Was soll's damit?

DIETHELM. Ich leg es auf den Boden. Ihr stellt euch drum herum. Wer es trifft, der hat's.[150]

RUPRECHT. Machst du nicht mit, Melchior?

MELCHIOR. Nein, ich danke.

HELMUTH. Der Joseph!

GASTON. Er kann nicht mehr. Er ist zur Rekreation hier.

MELCHIOR für sich. Es ist nicht klug, daß ich mich separiere. Alles hält mich im Auge. Ich muß mitmachen – oder die Kreatur geht zum Teufel. – – Die Gefangenschaft macht sie zu Selbstmördern. – – Brech ich den Hals, ist es gut! Komme ich davon, ist es auch gut! Ich kann nur gewinnen. – Ruprecht wird mein Freund, er besitzt hier Kenntnisse. – Ich werde ihm die Kapitel von Judas Schnur Thamar, von Moab, von Lot und seiner Sippe, von der Königin Basti und der Abisag von Sunem zum besten geben. – Er hat die verunglückteste Physiognomie auf der Abteilung.

RUPRECHT. Ich hab's!

HELMUTH. Ich komme noch!

GASTON. Übermorgen vielleicht!

HELMUTH. Gleich! – Jetzt! – O Gott, o Gott ...

ALLE. Summa – summa cum laude!!

RUPRECHT das Stück nehmend. Danke schön!

HELMUTH. Her, du Hund!

RUPRECHT. Du Schweinetier?

HELMUTH. Galgenvogel!!

RUPRECHT schlägt ihn ins Gesicht. Da! Rennt davon.

HELMUTH ihm nachrennend. Den schlag ich tot!

DIE ÜBRIGEN rennen hinterdrein. Hetz, Packan! Hetz! Hetz! Hetz!

MELCHIOR allein, gegen das Fenster gewandt. – Da geht der Blitzableiter hinunter. – Man muß ein Taschentuch drumwickeln. – Wenn ich an sie denke, schießt mir immer das Blut in den Kopf. Und Moritz liegt mir wie Blei in den Füßen. – – – Ich gehe zur Redaktion. Bezahlen Sie mich per Hundert; ich kolportiere! – sammle Tagesneuigkeiten – schreibe – lokal – – ethisch – – psychophysisch ... man verhungert nicht mehr so leicht. Volksküche, Café Temperence. – Das Haus ist sechzig Fuß hoch und der Verputz bröckelt ab ... Sie haßt mich – sie haßt mich, weil ich sie der Freiheit beraubt. Handle ich, wie ich will, es bleibt Vergewaltigung. –[151] Ich darf einzig hoffen, im Laufe der Jahre allmählich ... Über acht Tage ist Neumond. Morgen schmiere ich die Angeln. Bis Sonnabend muß ich unter allen Umständen wissen, wer den Schlüssel hat. – Sonntag abend in der Andacht kataleptischer Anfall – will's Gott, wird sonst niemand krank! – Alles liegt so klar, als wär es geschehen, vor mir. Über das Fenstergesims gelang ich mit Leichtigkeit – ein Schwung – ein Griff – aber man muß ein Taschentuch drumwickeln. – – Da kommt der Großinquisitor. Ab nach links.


Dr. Prokrustes mit einem Schlossermeister von rechts.


DR. PROKRUSTES. ... Die Fenster liegen zwar im dritten Stock und unten sind Brennesseln gepflanzt. Aber was kümmert sich die Entartung um Brennesseln. – Vergangenen Winter stieg uns einer zur Dachluke hinaus, und wir hatten die ganze Schererei mit dem Abholen, Hinbringen und Beisetzen ...

DER SCHLOSSERMEISTER. Wünschen Sie die Gitter aus Schmiedeeisen?

DR. PROKRUSTES. Aus Schmiedeeisen – und da man sie nicht einlassen kann, vernietet.


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 150-152.
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