Erster Auftritt

[281] Lulu. Alwa, gleich darauf Schön.


ALWA links vorn, füllt zwei Gläser mit Champagner und Rotwein. Seit ich für die Bühne arbeite, habe ich kein Publikum so außer Rand und Band gesehen.

LULU unsichtbar, hinter der spanischen Wand. Geben Sie mir nicht zuviel Rotwein. – Sieht er mich heute?

ALWA. Mein Vater?

LULU. Ja.

ALWA. Ich weiß nicht, ob er im Theater ist.

LULU. Er will mich wohl gar nicht sehen?

ALWA. Er hat so wenig Zeit.

LULU. Seine Braut nimmt ihn in Anspruch.

ALWA. Spekulationen. Er gönnt sich keine Ruhe. – Da Schön eintritt. Du? Eben sprechen wir von dir.

LULU. Ist er da?

SCHÖN. Du ziehst dich um?

LULU über die spanische Wand wegsehend, zu Schön. Sie schreiben in allen Zeitungen, ich sei die geistvollste Tänzerin, die je die Bühne betreten, ich sei eine zweite Taglioni und was weiß ich, und Sie finden mich nicht einmal geistvoll genug, um sich davon zu überzeugen![281]

SCHÖN. Ich habe soviel zu schreiben. Du siehst, daß ich recht hatte. Es waren kaum mehr Plätze zu haben. – Du mußt dich etwas mehr im Proszenium halten!

LULU. Ich muß mich erst an das Licht gewöhnen.

ALWA. Sie hat sich strikte an ihre Rolle gehalten.

SCHÖN zu Alwa. Du mußt deine Darsteller besser ausnützen! Du verstehst dich noch nicht genug auf die Technik. Zu Lulu. Als was kommst du jetzt?

LULU. Als Blumenmädchen ...

SCHÖN zu Alwa. In Trikots?

ALWA. Nein. In fußfreiem Kleid.

SCHÖN. Du hättest dich lieber nicht mit dem Symbolismus einlassen sollen!

ALWA. Ich sehe der Tänzerin auf die Füße.

SCHÖN. Es kommt darauf an, worauf das Publikum sieht! Eine Erscheinung wie sie hat deine symbolistischen Hanswurstiaden gottlob nicht nötig.

ALWA. Das Publikum sieht nicht danach aus, als ob es sich langweilte!

SCHÖN. Natürlich! Weil ich in der Presse seit sechs Monaten auf ihren Erfolg hingearbeitet habe. – War der Prinz hier?

ALWA. Es war niemand hier.

SCHÖN. Wer wird eine Tänzerin zwei Akte hindurch in Regenmänteln auftreten lassen!

ALWA. Wer ist denn der Prinz?

SCHÖN. – Wir sehen uns noch?

ALWA. Bist du allein?

SCHÖN. Mit Bekannten. – Bei Peters?

ALWA. Um zwölf?

SCHÖN. Um zwölf.


Ab.


LULU. Ich hatte schon daran verzweifelt, daß er je kommen werde!

ALWA. Lassen Sie sich durch seine griesgrämigen Nörgeleien nicht beirren. Wenn Sie nur ja darauf achten wollen, daß Sie Ihre Kräfte nicht vor Beginn der letzten Nummer vergeuden.


Lulu tritt hinter der spanischen Wand vor in antikem, fußfreiem, ärmellosem weißen Kleid mit

rotem Saum,[282] einen bunten Kranz im Haar, einen Korb voll Blumen in den Händen.


LULU. Er scheint es gar nicht gemerkt zu haben, wie geschickt Sie Ihre Darsteller ausnützen!

ALWA. Ich werde doch im ersten Akt nicht Sonne, Mond und Sterne verpaffen.

LULU das Glas an den Lippen. Sie enthüllen mich gradatim.

ALWA. Ich wußte doch, daß Sie sich darauf verstehen, Kostüme zu wechseln.

LULU. Hätte ich meine Blumen so vor dem Alhambracafé verkaufen wollen, man hätte mich schon gleich in der ersten Nacht hinter Schloß und Riegel gesetzt.

ALWA. Warum denn?! Sie waren ein Kind!

LULU. Wissen Sie noch, wie ich zum erstenmal in Ihr Zimmer trat?

ALWA nickt. Sie trugen ein dunkelblaues Kleid mit schwarzem Samt.

LULU. Man mußte mich verstecken und wußte nicht wo.

ALWA. Meine Mutter lag damals schon seit zwei Jahren auf dem Krankenbett ...

LULU. Sie spielten Theater und fragten mich, ob ich mitspielen wolle.

ALWA. Gewiß! Wir spielten Theater!

LULU. Ich sehe Sie noch, wie Sie die Figuren hin und her schoben.

ALWA. Es war mir noch lange die entsetzlichste Erinnerung, wie ich mit einemmal klar in die Verhältnisse sah.

LULU. Da wurden Sie eisig gemessen gegen mich.

ALWA. Ach Gott – ich sah etwas so unendlich hoch über mir Stehendes in Ihnen. Ich hegte vielleicht eine höhere Verehrung für Sie als für meine Mutter. Denken Sie, als meine Mutter starb – ich war siebzehn Jahre alt –, da trat ich vor meinen Vater und forderte ihn auf, daß er Sie augenblicklich zu seiner Frau mache, sonst müßten wir uns duellieren.

LULU. Das hat er mir damals erzählt.

ALWA. Seit ich älter bin, kann ich ihn nur noch bemitleiden. Er wird mich nie begreifen. Da phantasiert er sich eine kleine Diplomatie zusammen, die mich dazu bestimmen soll, seiner Verheiratung mit der Komtesse entgegenzuarbeiten.[283]

LULU. Blickt sie denn immer noch so unschuldig in die Welt hinaus?

ALWA. Sie liebt ihn; das ist meine Überzeugung. Ihre Familie hat alles in Bewegung gesetzt, um sie zum Rücktritt zu veranlassen. Ich glaube nicht, daß ihr ein Opfer auf dieser Welt zu groß wäre um seinetwillen.

LULU hält ihm ihr Glas hin. Noch etwas, bitte.

ALWA ihr einschenkend. Sie trinken zuviel.

LULU. Er soll an meinen Erfolg glauben lernen! Er glaubt an keine Kunst. Er glaubt nur an Zeitungen.

ALWA. Er glaubt an nichts.

LULU. Er hat mich ans Theater gebracht, damit sich eventuell jemand findet, der reich genug ist, um mich zu heiraten.

ALWA. Nun ja! Was braucht uns das zu kümmern!

LULU. Mich soll es freuen, wenn ich mich in das Herz eines Millionärs hineintanzen kann.

ALWA. Gott verhüte, daß man Sie uns entführt!

LULU. Sie haben doch die Musik dazu komponiert.

ALWA. Sie wissen, daß es immer mein Wunsch war, ein Stück für Sie zu schreiben.

LULU. Ich bin aber gar nicht für die Bühne geschaffen.

ALWA. Sie sind als Tänzerin auf die Welt gekommen.

LULU. Warum schreiben Sie Ihre Stücke denn nicht wenigstens so interessant, wie das Leben ist?

ALWA. Weil uns das kein Mensch glauben würde.

LULU. Wenn ich mich nicht besser aufs Theaterspielen verstände, als man auf der Bühne spielt, was hätte aus mir werden wollen.

ALWA. Ich habe Ihre Rolle doch mit allen erdenklichen Unmöglichkeiten ausgestattet.

LULU. Mit solchem Hokuspokus lockt man in der Wirklichkeit noch keinen Hund vom Ofen.

ALWA. Mir ist es genug, daß sich das Publikum in die wahnsinnigste Aufregung versetzt sieht.

LULU. Ich möchte mich aber gern selbst in die wahnsinnigste Aufregung versetzt sehen!


Trinkt.


ALWA. Dazu scheint Ihnen auch nicht viel mehr zu fehlen.

LULU. Wie können Sie sich darüber wundern, da mein Auftreten doch einen höheren Zweck hat! Es gehen schon[284] einige da unten ganz ernstlich mit sich zu Rate. – Ich fühle das, ohne daß ich hinsehe.

ALWA. Wie fühlen Sie denn das?

LULU. Keiner ahnt was vom andern. Jeder meint, er sei allein das unglückliche Opfer.

ALWA. Wie können Sie denn das fühlen?

LULU. Es läuft einem so ein eisiger Schauer am Körper herauf.

ALWA. Sie sind unglaublich ...


Eine elektrische Klingel tönt über der Tür.


LULU. Mein Tuch ... Ich werde mich im Proszenium halten!

ALWA ihr einen breiten Schal über die Schultern legend. Hier ist Ihr Tuch.

LULU. Er soll nichts mehr für seine schamlose Reklame zu fürchten haben.

ALWA. Wahren Sie Ihre Selbstbeherrschung!

LULU. Gebe Gott, daß ich einem den letzten Funken Verstand zum Kopf hinaustanze. Ab.


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 281-285.
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