[369] Eine Dachkammer ohne Mansarden. Zwei große Scheiben in der Flucht des Daches öffnen sich nach oben. Rechts und links vorn je eine schlechtschließende Tür. Im linken Proszenium eine zerrissene graue Matratze. Rechts vorn ein wackliger Blumentisch, auf dem eine Flasche und eine qualmende Petroleumlampe stehen. Rechts hinten in der Ecke eine alte Chaiselongue; neben der Mitteltür ein durchsessener Strohsessel. Man hört den Regen aufs Dach schlagen; unter der Dachluke steht eine mit Wasser gefüllte Schale. Vorn auf der Matratze liegt Schigolch in langem grauen Paletot. Auf der Chaiselongue in der Ecke liegt Alwa Schön, in einen Plaid gewickelt, dessen Riemen über ihm an der Wand hängt.
SCHIGOLCH. Der Regen trommelt zur Parade.
ALWA. Ein stimmungsvolles Wetter für ihr erstes Auftreten! – Mir träumte eben, wir dinierten zusammen in den Olympiasälen. Bianetta war noch mit dabei. Das Tischtuch triefte auf allen vier Seiten von Champagner.
SCHIGOLCH. Yes, yes – und mir träumte von einem Weihnachtspudding.
LULU in halblangem Haar, das ihr offen über die Schultern fällt, erscheint barfuß, in abgerissenem schwarzen Kleide in der Türe rechts vorn.
SCHIGOLCH. Wo bleibst du denn, mein Kind? – Du hast dir wohl erst noch die Haare gebrannt?
ALWA. Sie tut das nur, um alte Erinnerungen aufzufrischen.
LULU. Wenn man sich an einem von euch wenigstens etwas wärmen könnte!
ALWA. Willst du denn deine Pilgerfahrt barfuß antreten?
SCHIGOLCH. Der erste Schritt kostet immer allerhand Ächzen und Stöhnen. Vor zwanzig Jahren war das um kein Haar besser; und was hat sie seitdem gelernt! Die Kohlen müssen nur erst angefacht sein. Wenn sie acht Tage dabei[369] ist, halten sie keine zehn Lokomotiven mehr in unserer ärmlichen Dachkammer.
ALWA. Die Schüssel läuft schon über.
LULU. Wo soll ich denn hin mit dem Wasser?
ALWA. Gieß es zum Fenster hinaus.
LULU steigt auf einen Stuhl und leert die Schale durch die Dachluke hinaus. Es scheint doch, der Regen will endlich nachlassen.
SCHIGOLCH. Du vertrödelst die Stunde, wo die Kommis vom Abendessen nach Hause gehen.
LULU. Wollte Gott, ich läge schon irgendwo, wo mich kein Fußtritt mehr weckt!
ALWA. Das wünschte ich mir auch. Wozu dieses Leben noch in die Länge ziehen! Laßt uns lieber heute abend noch in Frieden und Eintracht zusammen verhungern. Es ist ja doch die letzte Station.
LULU. Warum gehst denn du nicht hin und schaffst uns was zu essen?! Du hast in deinem ganzen Leben noch keinen Pfennig verdient!
ALWA. Bei diesem Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Türe jagt!?
LULU. Aber mich! Ich soll euch mit dem bißchen Blut, das ich noch in den Gliedern habe, den Mund stopfen.
ALWA. Ich rühre keinen Happen an von dem Geld.
SCHIGOLCH. Laß sie nur gehen. Ich sehne mich noch nach einem Weihnachtspudding; dann habe ich genug.
ALWA. Und ich sehne mich noch nach einem Beefsteak und einer Zigarette, dann sterben! – Mir träumte eben von einer Zigarette, wie sie noch nie geraucht worden ist.
SCHIGOLCH. Sie sieht uns lieber vor ihren Augen verenden, als daß sie sich eine kleine Freude macht.
LULU. Die Menschen auf der Straße lassen mir eher Mantel und Rock in den Händen, ehe sie umsonst mitgehen. Hättet ihr meine Kleider nicht verkauft, dann brauchte ich wenigstens das Laternenlicht nicht zu scheuen. Ich möchte das Weib sehen, das in den Lumpen, die ich am Leib trage, noch was verdient.
ALWA. Ich habe nichts Menschliches unversucht gelassen. Solange ich noch Geld hatte, brachte ich Nächte damit hin, Tabellen aufzubauen, mit denen man den perfektesten[370] Falschspielern gegenüber hätte gewinnen müssen. Und dabei verlor ich Abend für Abend mehr, als wenn ich die Goldstücke eimerweise hinausgeschüttet hätte. Dann bot ich mich den Kurtisanen an; aber die nehmen keinen, den ihnen die Justiz nicht vorher abgestempelt hat. Und das sehen sie einem auf den ersten Blick an, ob man Beziehungen zum Fallbeil hat oder nicht.
SCHIGOLCH. Yes, yes.
ALWA. Ich habe mir keine Enttäuschung erspart; aber wenn ich Witze machte, dann lachten sie über mich selbst; wenn ich mich so anständig gab, wie ich bin, dann wurde ich geohrfeigt; und wenn ich es mit Gemeinheiten versuchte, dann wurden sie so keusch und jungfräulich, daß mir vor Entsetzen die Haare zu Berge standen. Wer die menschliche Gesellschaft nicht überwunden hat, der findet kein Vertrauen bei ihnen.
SCHIGOLCH. Willst du nicht vielleicht endlich deine Stiefel anziehen, mein Kind? – Ich glaube, ich werde in dieser Behausung nicht mehr viel älter werden. In den Zehenspitzen habe ich schon seit Monaten kein Gefühl mehr. – Gegen Mitternacht werde ich im Lokal unten noch einige Schnäpse trinken. Gestern sagte mir die Wirtin, ich hätte noch ernstliche Aussicht, ihr Geliebter zu werden.
LULU. In des drei Teufels Namen, ich gehe hinunter!
Sie nimmt die Flasche vom Blumentisch und setzt sie an den Mund.
SCHIGOLCH. Damit man dich auf eine halbe Stunde weit kommen riecht!
LULU. Ich trinke nicht alles.
ALWA. Du gehst nicht hinunter, mein Weib! Du gehst nicht hinunter! Ich verbiete es dir!
LULU. Was willst du deinem Weibe verbieten, wenn du dich selbst nicht ernähren kannst?
ALWA. Wer ist daran schuld?! Wer anders als meine Frau hat mich auf das Krankenlager gebracht.
LULU. Bin ich krank?
ALWA. Wer hat mich in den Kot geschleift? – Wer hat mich zum Mörder meines Vaters gemacht?
LULU. Hast du ihn erschossen? – Er hat nicht viel verloren, aber wenn ich dich dort liegen sehe, dann möchte ich mir[371] beide Hände dafür abhacken, daß ich mich so gegen meine Vernunft versündigt habe! –
Sie geht nach rechts in ihre Kammer.
ALWA. Sie hat es mir von ihrem Casti-Piani übermacht. Sie selbst ist längst nicht mehr dafür erreichbar.
SCHIGOLCH. Solche Teufelsracker können gar nicht früh genug mit dem Erdulden anfangen, wenn bis zum Schluß noch Engel daraus werden sollen.
ALWA. Sie hätte als Kaiserin von Rußland geboren werden müssen. Da wäre sie an ihrem Platz gewesen. Eine zweite Katharina die Zweite.
Lulu kommt mit einem Paar ausgetretener Stiefletten aus ihrer Kammer zurück und setzt sich auf die Diele, um sie anzuziehen.
LULU. Wenn ich nur nicht kopfüber die Treppe hinunterstürze! – Hu, wie kalt! – – Gibt es etwas Traurigeres auf dieser Welt als ein Freudenmädchen!
SCHIGOLCH. Geduld, Geduld! Es muß nur erst der richtige Zug ins Geschäft kommen.
LULU. Mir soll's recht sein; um mich ist es nicht mehr schade. Sie setzt die Flasche an. Das heizt ein! – O verflucht! Sie geht durch die Mitteltür ab.
SCHIGOLCH. Wenn wir sie kommen hören, müssen wir uns solange in meinen Verschlag verkriechen.
ALWA. Es ist ein Jammer um sie! – Wenn ich zurückdenke – ich bin doch gewissermaßen mit ihr aufgewachsen.
SCHIGOLCH. Solange ich lebe, hält sie jedenfalls noch vor.
ALWA. Wir verkehrten anfangs miteinander wie Bruder und Schwester. Mama lebte damals noch. Ich traf sie eines Morgens zufällig bei der Toilette. Doktor Goll war zu einer Konsultation gerufen worden. Ihr Friseur hatte mein erstes Gedicht gelesen, das ich in der »Gesellschaft« hatte drucken lassen –: »Hetz deine Meute weit über die Berge hin; sie kehrt wieder von Schweiß und von Staub bedeckt ...«
SCHIGOLCH. O yes!
ALWA. Und dann kam sie in rosa Tüll – sie trug nichts darunter als ein weißes Atlasmieder – auf den Ball beim spanischen Gesandten. Doktor Goll schien seinen nahen Tod[372] zu ahnen. Er bat mich, mit ihr zu tanzen, damit sie keine Tollheiten anstellte. Derweil wandte Papa kein Auge von uns, und sie sah während des Walzers über meine Schulter weg nur nach ihm. Nachher hat sie ihn erschossen. Es ist unglaublich.
SCHIGOLCH. Ich zweifle nur stark daran, daß noch einer anbeißt.
ALWA. Ich möchte es auch niemandem raten!
SCHIGOLCH. Dieses Rindvieh!
ALWA. Sie hatte damals, obgleich sie als Weib schon vollkommen entwickelt war, den Ausdruck eines fünfjährigen, munteren, kerngesunden Kindes. Sie war damals auch nur drei Jahre jünger als ich; aber wie lang ist das nun schon her! Trotz ihrer fabelhaften Überlegenheit in Fragen des praktischen Lebens ließ sie sich von mir den Inhalt von »Tristan und Isolde« erklären; und wie entzückend verstand sie sich dabei aufs Zuhören. – Aus dem Schwesterchen, das sich in seiner Ehe noch wie ein Schulmädchen fühlte, wurde dann eine unglückliche hysterische Künstlersfrau. Aus der Künstlersgattin wurde dann die Frau meines seligen Vaters; aus der Frau meines Vaters wurde dann meine Geliebte. Das ist nun einmal so der Lauf der Welt, wer will dagegen aufkommen.
SCHIGOLCH. Wenn sie vor den Herren mit ehrlichen Absichten nur nicht Reißaus nimmt und uns statt dessen einen Obdachlosen heraufbringt, mit dem sie ihre Herzensgeheimnisse ausgetauscht hat.
ALWA. Ich küßte sie zum erstenmal in ihrer rauschenden Brauttoilette; aber nachher wußte sie nichts mehr davon. Trotzdem glaube ich, daß sie in den Armen meines Vaters schon an mich gedacht hat. Oft kann es ja nicht gewesen sein. Er hatte seine Glanzzeit hinter sich, und sie betrog ihn mit Kutscher und Stiefelputzer. Aber wenn sie sich ihm gab, dann stand ich vor ihrer Seele. Dadurch hat sie auch, ohne daß ich mich dessen versehen konnte, diese furchtbare Gewalt über mich erlangt.
SCHIGOLCH. Da sind sie!
Man hört schwere Tritte die Treppe heraufkommen.[373]
ALWA emporfahrend. Ich will das nicht erleben! Ich werfe den Kerl hinaus!
SCHIGOLCH rafft sich mühsam auf, nimmt Alwa am Kragen und pufft ihn nach links. Vorwärts, vorwärts! Wie soll ihr der Junge seinen Kummer beichten, wenn wir zwei uns hier herumwälzen.
ALWA. Aber wenn er ihr Gemeinheiten zumutet!
SCHIGOLCH. Und wenn, und wenn! Was will er ihr denn noch zumuten! Er ist auch nur ein Mensch wie wir.
ALWA. Wir müssen die Tür auflassen.
SCHIGOLCH Alwa in den Verschlag stoßend. Unsinn! – Kusch dich!
ALWA im Verschlag. Ich werde es schon hören! Gnade ihm der Himmel!
SCHIGOLCH schließt die Kammer. Von innen. Maul halten!
ALWA von innen. Der soll sich vorsehen.
Lulu öffnet die Mitteltür und läßt Herrn Hunidei eintreten. Herr Hunidei ist ein Mann von hünenhafter Gestalt, glattrasiertem, rosigen Gesicht, himmelblauen Augen und freundlichem Lächeln. Er trägt Havelock und Zylinder und trägt
in der Hand den triefenden Schirm.
LULU. Hier ist meine Wohnung.
HERR HUNIDEI legt den Zeigefinger auf den Mund und sieht Lulu bedeutungsvoll an. Darauf spannt er seinen Schirm auf und stellt ihn im Hintergrund zum Trocknen auf die Diele.
LULU. Sehr behaglich ist es hier allerdings nicht.
HERR HUNIDEI kommt nach vorn und hält ihr die Hand vor den Mund.
LULU. Was wollen Sie mir damit zu verstehen geben?
HERR HUNIDEI legt ihr die Hand vor den Mund und hält den Zeigefinger an seine Lippen.
LULU. Ich weiß nicht, was das bedeutet.
HERR HUNIDEI hält ihr rasch den Mund zu.[374]
LULU sich freimachend. Wir sind hier ganz allein. Es hört uns kein Mensch.
HERR HUNIDEI legt den Zeigefinger an die Lippen, schüttelt verneinend den Kopf, zeigt auf Lulu, öffnet den Mund wie zum Sprechen, zeigt auf sich und dann auf die Türe.
LULU für sich. Herr Gott – das ist ein Ungeheuer!
HERR HUNIDEI hält ihr den Mund zu. Darauf geht er nach hinten, faltet seinen Havelock zusammen und legt ihn über den Stuhl neben der Tür. Dann kommt er mit grinsendem Lächeln nach vorn, nimmt Lulu mit beiden Händen beim Kopf und küßt sie auf die Stirn.
SCHIGOLCH hinter der halboffenen Tür links vorn. Bei dem ist eine Schraube los.
ALWA. Er soll sich vorsehen!
SCHIGOLCH. Etwas Trostloseres hätte sie nicht heraufbringen können.
LULU zurücktretend. Ich hoffe, Sie werden mir etwas schenken!
HERR HUNIDEI hält ihr den Mund zu und drückt ihr ein Goldstück in die Hand.
LULU besieht das Goldstück und wirft es aus einer Hand in die andere.
HERR HUNIDEI sieht sie unsicher fragend an.
LULU. Na ja, es ist schon gut! Steckt das Geld in die Tasche.
HERR HUNIDEI hält ihr rasch den Mund zu, gibt ihr einige Silberstücke und wirft ihr einen gebieterischen Blick zu.
LULU. Ei, das ist schön von Ihnen!
HERR HUNIDEI springt wie wahnsinnig im Zimmer umher, fuchtelt mit den Armen in der Luft herum und starrt verzweiflungsvoll gen Himmel.
LULU nähert sich ihm vorsichtig, schlingt den Arm um ihn und küßt ihn auf den Mund.
HERR HUNIDEI macht sich lautlos lachend von ihr los und blickt fragend umher.[375]
LULU nimmt die Lampe vom Blumentisch und öffnet die Tür zu ihrer Kammer.
HERR HUNIDEI tritt lächelnd ein, indem er unter der Tür seinen Hut lüftet.
Die Bühne ist finster bis auf einen Lichtstrahl, der aus der Kammer durch die Türspalte dringt. – Alwa und Schigolch kriechen auf allen vieren aus ihrem Verschlag.
ALWA. Sind sie weg?
SCHIGOLCH hinter ihm. Warte noch!
ALWA. Hier hört man nichts.
SCHIGOLCH. Das hat man oft genug gehört!
ALWA. Ich will vor ihrer Türe knien.
SCHIGOLCH. Dieses Muttersöhnchen! Er drückt sich an Alwa vorbei, tappt über die Bühne, nimmt Herrn Hunideis Havelock vom Stuhl und durchsucht die Taschen.
ALWA hat sich vor Lulus Kammertür geschlichen.
SCHIGOLCH. Handschuhe – sonst nichts! Er kehrt den Havelock um, durchsucht die inneren Taschen und zieht ein Buch heraus, das er an Alwa gibt. Sieh mal nach, was das ist!
ALWA hält das Buch in den Lichtstrahl, der aus der Kammer dringt, und entziffert mühsam das Titelblatt. Ermahnungen für fromme Pilger und solche, die es werden wollen. – Sehr hilfreich! – Preis zwei Schilling, sechs Pence.
SCHIGOLCH. Der scheint mir ganz von Gott verlassen zu sein. Legt den Mantel wieder über den Stuhl und tastet sich nach dem Verschlag zurück. Es ist nichts mit diesen Leuten. Die Nation hat ihre Glanzzeit hinter sich.
ALWA. Das Leben ist nie so schlimm, wie man es sich vorstellt.
Er kriecht ebenfalls nach dem Verschlag zurück.
SCHIGOLCH. Nicht einmal ein seidenes Halstuch hat der Kerl. Und dabei kriechen wir in Deutschland vor dem Pack auf dem Bauch.
ALWA. Komm, laß uns wieder verschwinden.
SCHIGOLCH. Sie denkt eben nur an sich selbst und nimmt den ersten, der ihr in den Weg läuft. Hoffentlich vergißt der Hund sie Zeit seines Lebens nicht.
[376] Schigolch und Alwa verkriechen sich in ihren Verschlag und schließen die Türe hinter sich. Darauf tritt Lulu ein und setzt die Lampe auf den Blumentisch.
LULU. Werden Sie mich wieder besuchen?
Herr Hunidei hält ihr den Mund zu. Lulu blickt in einer Art Verzweiflung gen Himmel und schüttelt den Kopf. Herr Hunidei hat seinen Havelock übergeworfen und nähert sich ihr mit grinsendem Lächeln. Sie wirft sich ihm an den Hals, worauf er sich sachte losmacht, ihr die Hand küßt und sich zur Türe wendet. Sie will ihn begleiten, er winkt ihr aber, zurückzubleiben und verläßt geräuschlos das Gemach.
Schigolch und Alwa kommen aus ihrem Verschlag.
LULU tonlos. Hat mich der Mensch erregt!
ALWA. Wieviel hat er dir gegeben?
LULU ebenso. Hier ist alles! Nimm! Ich gehe wieder hinunter.
SCHIGOLCH. Wir können noch wie die Prinzen hier oben leben.
ALWA. Er kommt zurück.
SCHIGOLCH. Dann laß uns nur gleich wieder abtreten.
ALWA. Er sucht sein Gebetbuch; hier ist es. Es muß ihm aus dem Mantel gefallen sein.
LULU aufhorchend. Nein, das ist er nicht. Das ist jemand anders.
ALWA. Es kommt jemand herauf. Ich höre es ganz deutlich.
LULU. Jetzt tappt jemand an der Tür. – Wer mag das sein?
SCHIGOLCH. Wahrscheinlich ein guter Freund, dem er uns empfohlen hat. – Herein!
Die Gräfin Geschwitz tritt ein. Sie ist in ärmlicher Kleidung und trägt eine Leinwandrolle in der Hand.
DIE GESCHWITZ. Wenn ich dir ungelegen komme, dann kehre ich wieder um. Ich habe allerdings seit zehn Tagen mit keiner menschlichen Seele gesprochen. Ich muß dir nur gleich sagen, daß ich kein Geld bekommen habe. Mein Bruder hat mir gar nicht geantwortet.
SCHIGOLCH. Jetzt möchten gräfliche Gnaden gerne ihre Füße unter unseren Tisch strecken?[377]
LULU tonlos. Ich gehe wieder hinunter!
DIE GESCHWITZ. Wo willst du in dem Aufzug hin? – Ich komme trotzdem nicht ganz mit leeren Händen. Ich bringe dir etwas anderes. Auf dem Wege hierher bot mir ein Trödler noch zwölf Schillinge dafür. Ich brachte es nicht übers Herz, mich davon zu trennen. Aber du kannst es verkaufen, wenn du willst.
SCHIGOLCH. Was haben Sie denn da?
ALWA. Lassen Sie doch mal sehen. Er nimmt ihr die Leinwandrolle ab und entrollt sie, sichtlich erfreut. Ach ja, mein Gott, das ist ja Lulus Porträt!
LULU aufschreiend. Und das bringst du Ungeheuer hierher? – Schafft mir das Bild aus den Augen! Werft es zum Fenster hinaus!
ALWA plötzlich wie neu belebt, sehr vergnügt. Warum nicht gar! Diesem Porträt gegenüber gewinne ich meine Selbstachtung wieder. Es macht mir mein Verhängnis begreiflich. Alles wird so sonnenklar, was wir erlebt haben. Etwas elegisch. Wer sich diesen blühenden, schwellenden Lippen, diesen großen unschuldsvollen Kinderaugen, diesem rosig-weißen strotzenden Körper gegenüber in seiner bürgerlichen Stellung sicher fühlt, der werfe den ersten Stein auf uns.
SCHIGOLCH. Man muß es annageln. Es wird einen ausgezeichneten Eindruck auf unsere Kundschaft machen.
ALWA sehr geschäftig. Da drüben steckt schon ein Nagel dafür in der Wand.
SCHIGOLCH. Wie kommen Sie denn zu der Akquisition?
DIE GESCHWITZ. Ich habe es damals in eurer Wohnung heimlich aus der Wand geschnitten, nachdem ihr fort wart.
ALWA. Schade, daß am Rande die Farbe abgeblättert ist! Sie haben es nicht vorsichtig genug aufgerollt.
Er befestigt das Bild mit dem oberen Rande an einem Nagel, der in der Wand steckt.
SCHIGOLCH. Es muß unten noch einer durch, wenn es halten soll. Die ganze Etage bekommt ein eleganteres Aussehen.
ALWA. Laßt mich nur, ich weiß schon, wie ich es mache.
Er reißt verschiedene Nägel aus der Wand, zieht sich den linken Stiefel aus und schlägt die Nägel mit dem Stiefelabsatz durch den Rand des Bildes in die Mauer.[378]
SCHIGOLCH. Es muß nur erst wieder eine Weile hängen, um richtig zur Geltung zu kommen. Wer sich das angesehen hat, der bildet sich nachher ein, er sei in einem indischen Harem.
ALWA seinen Stiefel wieder anziehend, sich stolz aufrichtend. Ihr Körper stand auf dem Höhepunkt seiner Entfaltung, als das Bild gemalt wurde. Die Lampe, liebes Kind! Mir scheint, es ist außergewöhnlich stark nachgedunkelt.
DIE GESCHWITZ. Es muß ein eminent begabter Künstler gewesen sein, der das gemalt hat!
LULU wieder vollkommen ruhig mit der Lampe vor das Bild tretend. Hast du ihn denn nicht gekannt?
DIE GESCHWITZ. Nein; das muß lange vor meiner Zeit gewesen sein. Ich höre nur zuweilen noch abfällige Bemerkungen von euch darüber, daß er sich in seinem Verfolgungswahn den Hals abgeschnitten habe.
ALWA das Porträt mit Lulu vergleichend. Der kindliche Ausdruck in den Augen ist trotz allem, was sie seitdem erlebt hat, noch ganz derselbe. In freudiger Erregung. Aber der frische Tau, der die Haut bedeckt, der duftige Hauch vor den Lippen, das strahlende Licht, das sich von der weißen Stirne aus verbreitet, und diese herausfordernde Pracht des jugendlichen Fleisches an Hals und Armen ...
SCHIGOLCH. Das alles ist mit dem Kehrichtwagen gefahren. Sie kann mit Selbstbewußtsein sagen: Das war ich mal! Wem sie heute in die Hände gerät, der macht sich keinen Begriff mehr von unserer Jugendzeit.
ALWA munter. Gott sei Dank merkt man den fortschreitenden Verfall nicht, wenn man fortwährend miteinander verkehrt. Leicht hinwerfend. Das Weib blüht für uns in dem Moment, wo es den Menschen auf Lebenszeit ins Verderben stürzen soll. Das ist nun einmal so seine Naturbestimmung.
SCHIGOLCH. Unten im Laternenschimmer nimmt sie es noch mit einem Dutzend Straßengespenster auf. Wer um diese Zeit noch eine Bekanntschaft machen will, der sieht überhaupt mehr auf Herzenseigenschaften als auf körperliche Vorzüge. Er entscheidet sich für das Paar Augen, aus denen am wenigsten Diebsgelüste funkeln.[379]
LULU ebenso vergnügt wie Alwa. Ich werde es ja sehen, ob du recht hast. Adieu.
ALWA in jähem Zorn. Du gehst nicht mehr hinunter, so wahr ich lebe!
DIE GESCHWITZ. Wo willst du hin?
ALWA. Sie will sich einen Kerl heraufholen.
DIE GESCHWITZ. Lulu!
ALWA. Sie hat es heute schon einmal getan.
DIE GESCHWITZ. Lulu, Lulu, ich gehe mit, wohin du gehst!
SCHIGOLCH. Wenn Sie Ihre Knochen auf Zinsen legen wollen, dann suchen Sie sich bitte Ihr eigenes Revier aus.
DIE GESCHWITZ. Lulu, ich geh dir nicht von der Seite! Ich habe Waffen bei mir.
SCHIGOLCH. Verflucht noch mal! Gräfliche Gnaden legen es darauf an, mit unserem Speck zu fischen!
LULU. Ihr bringt mich um! Ich halte es hier nicht mehr aus!
DIE GESCHWITZ. Du brauchst nichts zu fürchten. Ich bin bei dir!
Lulu mit der Gräfin Geschwitz durch die Mitte ab.
SCHIGOLCH. Sackerment, Sackerment, Sackerment!
ALWA wirft sich wimmernd auf seine Chaiselongue. Ich glaube, ich habe vom Diesseits nicht mehr viel Gutes zu erwarten.
SCHIGOLCH. Man hätte das Frauenzimmer an der Kehle zurückhalten müssen. Sie vertreibt alles, was Odem hat mit ihrem aristokratischen Totenschädel.
ALWA. Sie hat mich aufs Krankenlager geworfen und mich von außen und innen mit Dornen gespickt!
SCHIGOLCH. Dafür hat sie allerdings auch genug Courage für zehn Mannsleute im Leib.
ALWA. Keinen Verwundeten wird der Gnadenstoß jemals dankbarer finden als mich!
SCHIGOLCH. Wenn sie mir damals nicht den Springfritzen in meine Wohnung gelockt hätte, dann hätten wir ihn heute noch auf dem Hals.
ALWA. Ich sehe ihn über meinem Haupte schweben, wie Tantalus den Zweig mit goldenen Äpfeln.
SCHIGOLCH auf seiner Matratze. – Willst du die Lampe nicht ein wenig hinaufschrauben?
ALWA. Ob wohl ein schlichter Naturmensch in seiner Wildnis[380] auch so unsäglich leiden kann? – Mein Gott, mein Gott, was habe ich aus meinem Leben gemacht!
SCHIGOLCH. Was hat das Hundewetter aus meinem Havelock gemacht! – Mit fünfundzwanzig Jahren habe ich mir zu helfen gewußt!
ALWA. Es hat nicht jeder meine herrliche, sonnige Jugendzeit gekostet!
SCHIGOLCH. Ich glaube, sie geht gleich aus. – Bis sie zurückkommen, wird es hier wieder dunkel wie im Mutterleib.
ALWA. Ich suchte mit klarstem Zielbewußtsein den Verkehr mit Menschen, die nie in ihrem Leben ein Buch gelesen haben. Ich klammerte mich mit aller Selbstverleugnung und Begeisterung an diese Elemente, um zu den höchsten Höhen dichterischen Ruhmes emporgetragen zu werden. Die Rechnung war falsch. Ich bin der Märtyrer meines Berufes. Seit dem Tode meines Vaters habe ich nicht einen einzigen Vers mehr geschrieben.
SCHIGOLCH. Wenn sie nur nicht zusammengeblieben sind. – Wer kein dummer Junge ist, der geht sowieso nicht mit zweien.
ALWA. Sie sind nicht zusammengeblieben!
SCHIGOLCH. Das hoffe ich. Sie hält sich die Person im Notfall mit Fußtritten vom Leib.
ALWA. Der eine, aus der Hefe hervorgegangen, ist der gefeiertste Mann seiner Nation; und der andere, im Purpur geboren, liegt in der Grundhefe und kann nicht sterben.
SCHIGOLCH. Jetzt kommen sie!
ALWA. Und wie selige Stunden gemeinsamer Schaffensfreude hatten sie miteinander erlebt!
SCHIGOLCH. Das können sie jetzt erst recht. – Wir müssen uns wieder verkriechen.
ALWA. Ich bleibe hier.
SCHIGOLCH. Was bedauerst du sie denn eigentlich? – Wer sein Geld ausgibt, hat auch seine guten Gründe dafür!
ALWA. Ich habe den moralischen Mut nicht mehr, um mich wegen einer lumpichten Summe Geldes in meiner Behaglichkeit stören zu lassen.
Er verkriecht sich unter seinem Plaid.
SCHIGOLCH. Noblesse oblige! Ein anständiger Mensch tut, was er seiner Stellung schuldig ist.
Verbirgt sich in dem Verschlag.[381]
LULU die Tür öffnend. Komm nur herein, Schatz!
Kungu Poti, Erbprinz von Uahubee, in hellem Überrock, hellen Beinkleidern, weißen Gamaschen, gelben Knopfstiefeln und grauem Zylinder, tritt ein. Seine Sprache läßt die spezifisch afrikanischen Zischlaute hören und ist von vielfachem Rülpsen unterbrochen.
KUNGU POTI. God dam – ist sehr dunkel im Treppenhaus!
LULU. Hier ist es heller, süßes Herz! – Ihn an der Hand nach vorn ziehend. Komm, komm!
KUNGU POTI. Aber kalt ist hier. Sehr kalt.
LULU. Trinkst du einen Schnaps?
KUNGU POTI. Schnaps? – Immer trink ich Schnaps! – Schnaps ist gut!
LULU gibt ihm die Flasche. Ich weiß nicht, wo das Glas ist.
KUNGU POTI. Macht nichts. Setzt die Flasche an und trinkt. Schnaps! – Viel Schnaps!
LULU. Sie sind ein hübscher junger Mann.
KUNGU POTI. Mein Vater ist Kaiser von Uahubee. Ich habe hier sechs Frauen, zwei spanische, zwei englische, zwei französische. Well – ich liebe nicht meine Frauen. Immer soll ich Bad nehmen, Bad nehmen, Bad nehmen ...
LULU. Wieviel schenken Sie mir.
KUNGU POTI. Goldstück! – Du kannst glauben, du wirst haben Goldstück! – Goldstück! – Immer schenken Goldstück!
LULU. Sie können es mir später geben; aber zeigen Sie es mir.
KUNGU POTI. Ich nie bezahlen vorher.
LULU. Aber zeigen können Sie es mir doch!
KUNGU POTI. Nicht verstehen! Nicht verstehen! – Komm Ragapsischimulara! Lulu um die Taille fassend. Komm!
LULU wehrt sich aus Leibeskräften. Lassen Sie mich los! Lassen Sie mich los!
Alwa hat sich mühsam vom Lager aufgerafft, schleicht von hinten an Kungu Poti heran und reißt ihn am Rockkragen zurück.
KUNGU POTI wendet sich rasch nach Alwa um. Oh! Oh! Hier ist Mörderhöhle! – Komm, Freund, will dir geben Schlafmittel! Er schlägt ihn mit einem Totschläger über den Kopf, worauf Alwa stöhnend zusammenbricht. Hier[382] hast du Schlafmittel! Hier hast du Opium! – Schöne Träume kommen! Schöne Träume! Darauf gibt er Lulu einen Kuß, auf Alwa zeigend. Träumt von dir, Ragapsischimulara! – Schöne Träume! – Zur Tür eilend. Hier ist Türe!
Ab.
LULU. – – Ich werde doch nicht hierbleiben?! – – Wer hält es denn jetzt hier noch aus! – – Lieber hinunter auf die Straße! – Ab.
Schigolch kommt aus seinem Verschlag.
SCHIGOLCH über Alwa gebeugt. – – Blut! – Alwa! – – Man muß ihn beiseite schaffen. – Hopp! – Sonst nehmen unsere Bekannten Anstoß an ihm. Alwa! Alwa! – Wer da nicht mit sich im klaren ist –! – Entweder oder; sonst wird's leicht zu spät! – – Ich will ihm Beine machen. Er zündet ein Streichholz an und steckt es ihm unter den Kragen. Da sich Alwa nicht regt. Er will seine Ruhe haben. – Aber hier wird nicht geschlafen. Er schleift ihn am Genick in Lulus Kammer. Darauf versucht er die Lampe hinaufzuschrauben. Für mich wird es nun auch bald Zeit, sonst kriegt man unten im Lokal keinen Weihnachtspudding mehr. Weiß Gott, wann die von ihrer Vergnügungstour zurückkommen. – Lulus Bild ins Auge fassend. Die versteht die Sache nicht. Die kann von der Liebe nicht leben, weil ihr Leben die Liebe ist. – Da kommt sie! Ich werde ihr mal ins Gewissen reden ...
Die Tür geht auf und die Gräfin Geschwitz tritt ein.
SCHIGOLCH. Wenn Sie Nachtquartier bei uns nehmen wollen, dann geben Sie bitte ein wenig acht, daß hier nichts gestohlen wird.
DIE GESCHWITZ. Wie dunkel es hier ist!
SCHIGOLCH. Es wird noch viel dunkler. – Der Herr Doktor haben sich schon zur Ruhe gelegt.
DIE GESCHWITZ. Sie schickt mich voraus.
SCHIGOLCH. Das ist vernünftig. – Wenn jemand nach mir fragt, ich sitze unten im Lokal. –
Ab.
DIE GESCHWITZ allein. Ich will mich neben die Tür setzen. Ich will alles mit ansehen und nicht mit der Wimper zucken. Sie setzt sich auf den Strohsessel neben die Tür.[383] – Die Menschen kennen sich nicht – sie wissen nicht, wie sie sind. Nur wer selber kein Mensch ist, der kennt sie. Jedes Wort, das sie sagen, ist unwahr, erlogen. Das wissen sie nicht, denn sie sind heute so und morgen so, je nachdem ob sie gegessen, getrunken und geliebt haben oder nicht. Nur der Körper bleibt auf einige Zeit, was er ist, und nur die Kinder haben Vernunft. Die Großen sind wie die Tiere; keines weiß, was es tut. Wenn sie am glücklichsten sind, dann jammern sie, dann stöhnen sie und im tiefsten Elend freuen sie sich jedes winzigen Happens. Es ist sonderbar, wie der Hunger den Menschen die Kraft zum Unglück nimmt. Wenn sie sich aber gesättigt haben, dann machen sie sich die Welt zur Folterkammer, dann werfen sie ihr Leben für die Befriedigung einer Laune weg. – Ob es wohl einmal Menschen gegeben hat, die durch Liebe glücklich geworden sind? Was ist denn ihr Glück anders, als daß sie besser schlafen und alles vergessen können? – Herr Gott, ich danke dir, daß du mich nicht geschaffen hast wie diese. – Ich bin nicht Mensch; mein Leib hat nichts gemeines mit Menschenleibern. Habe ich eine Menschenseele! Zerquälte Menschen tragen ein kleines enges Herz in sich; ich aber weiß, daß es nicht mein Verdienst ist, wenn ich alles hingebe, alles opfre ...
Lulu öffnet die Tür und läßt Doktor Hilti eintreten. Die Geschwitz bleibt, ohne von beiden bemerkt zu werden, regungslos neben der Tür sitzen.
LULU munter. Komm nur herein! Komm! – Du bleibst bei mir die Nacht?
DR. HILTI. Abär iach habä niacht mähr, dän fühnf Schielingä bei miar; iach nämma nia mähr miet, wän iach ausgähä.
LULU. Das ist genug, weil du es bist! Du hast so treue Augen! – Komm, gib mir einen Kuß!
DR. HILTI. Hiemäl, Härgoht, Töüfäl, Kräuzpataliohn ...
LULU. Ich bitte dich, schweig doch!
DR. HILTI. Beim Töüfäl, äs ischt nämliach tas ärschte Mol tas iach miet einäm Mädachän gähä. Tu kchanscht miar gloubän. Sakchärmänt, iach hätä miar tas gahnz andärsch gädahcht![384]
LULU. Bist du verheiratet?
DR. HILTI. Hiemäl, Hagäl, worum meinscht tu, iach sei värheurotet? – Nein, iach birn Prifot-Tozänt; iach läsä Philossoffie ahn där Unifärsität. Sakchärmänt, iach bien nämliach ous einär oltän Basler Bodriziär-Fomiliä; iach ärhielt als Studänt nur zwoi Franckchen Toschängält und tas kchohntä iach bessär anwänden als füar Mädachän.
LULU. Deshalb warst du nie bei einer Frau?
DR. HILTI. Äbän ja! Äbän! Abär iach brouchä äs itzt; iach habä miach heutä Obänd värsprochän miet oinär Basler Bodriziärsdochtär. Sie ischt hiär Kchindärmädchön.
LULU. Ist deine Braut hübsch?
DR. HILTI. Ja, sie hat zwoi Millionän. – Iach bien sähr gespahnt, wia äs miach dunkchän wird.
LULU ihr Haar zurückwerfend. Ich habe wirklich Glück! Sie erhebt sich und nimmt die Lampe. Wenn es Ihnen also recht ist, Herr Privatdozent ...?
Sie führt Dr. Hilti in ihre Kammer.
DIE GESCHWITZ zieht einen kleinen schwarzen Revolver aus ihrer Tasche und hält ihn sich gegen die Stirn. ... Komm, komm – Geliebter!
DR. HILTI reißt von innen die Tür auf und stürzt heraus. O verreckchte Chaib – do lit eine drin!
LULU die Lampe in der Hand, hält ihn am Ärmel. Bleib bei mir!
DR. HILTI. Ä Todtnige! – Ä Liach?
LULU. Bleib bei mir, bleib bei mir!
DR. HILTI sich losmachend. Ä Liach lit do in – Himmel, Stärne, Chaib!
LULU. Bleib bei mir!
DR. HILTI. Wo got's do usse? Die Geschwitz erblickend. Und das isch de Tüfel!
LULU. Ich bitte dich, bleib!
DR. HILTI. Chaibe, verchaibeti Chaiberei – O du ewige Hagel! –
Durch die Mitte ab.
LULU. Bleib! – Bleib!
Sie stürzt ihm nach.
DIE GESCHWITZ allein, läßt den Revolver sinken. Lieber erhängen! – Wenn sie mich heute in meinem Blute liegen sieht, weint sie mir keine Träne nach. Ich war ihr immer nur das gefügige Werkzeug, das sich zu den schwierigsten[385] Arbeiten gebrauchen ließ. Sie hat mich vom ersten Tage an aus tiefster Seele verabscheut. – Springe ich nicht lieber von der Brücke hinunter? Was mag kälter sein, das Wasser oder ihr Herz? – Ich würde träumen, bis ich ertrunken bin. – – Lieber erhängen! – Erstechen? – Hm, es kommt nichts dabei heraus. – – Wie oft träumte mir, daß sie mich küßt! Noch eine Minute nur; da klopft eine Eule ans Fenster, und ich erwache. – – Lieber erhängen! Nicht ins Wasser; das Wasser ist zu rein für mich. Plötzlich auffahrend. Da! – Da! Da ist es! – Rasch noch, bevor sie kommt! Sie nimmt den Plaidriemen von der Wand, steigt auf den Sessel, befestigt den Riemen an einem Haken, der im Türpfosten steckt, legt sich den Riemen um den Hals, stößt mit den Füßen den Stuhl um und fällt zur Erde. – – Verfluchtes Leben! – Verfluchtes Leben! – – Wenn es mir noch bevorstände? – Laß mich einmal nur zu deinem Herzen sprechen, mein Engel! Aber du bist kalt! – Ich soll noch nicht fort! Ich soll vielleicht auch einmal glücklich gewesen sein. – Höre auf ihn, Lulu; ich soll noch nicht fort! – Sie schleppt sich vor Lulus Bild, sinkt in die Knie und faltet die Hände. Mein angebeteter Engel! Mein Lieb! Mein Stern! – Erbarm dich mein, erbarm dich mein, erbarm dich mein!
Lulu öffnet die Türe und läßt Jack eintreten. Er ist ein Mann von gedrungener Figur, von elastischen Bewegungen, blassem Gesicht, entzündeten Augen, hochgezogenen, starken Brauen, hängendem Schnurrbart, dünnem Knebelbart, zottigen Favorits und feuerroten Händen mit vernagten Fingernägeln. Sein Blick ist auf den Boden geheftet. Er trägt dunklen Überrock und kleinen runden Filzhut.
JACK die Geschwitz bemerkend. Wer ist das?
LULU. Das ist meine Schwester, Herr. Sie ist verrückt. Ich weiß nicht, wie ich sie loswerden soll.
JACK. Du scheinst einen schönen Mund zu haben.
LULU. Den hab ich von meiner Mutter.
JACK. Danach sieht er aus. – Wieviel willst du? – Viel Geld hab ich nicht übrig.[386]
LULU. Wollen Sie denn nicht die ganze Nacht hierbleiben?
JACK. Nein, ich habe keine Zeit. Ich muß nach Haus.
LULU. Sie können doch morgen zu Hause sagen, Sie hätten den letzten Omnibus verpaßt und hätten bei einem Freund übernachtet.
JACK. Wieviel willst du?
LULU. Ich verlange keinen Goldklumpen, aber doch – ein kleines Stück.
JACK wendet sich zur Tür. Guten Abend! Guten Abend!
LULU hält ihn zurück. Nein, nein! Bleiben Sie um Gottes willen!
JACK geht an der Geschwitz vorbei und öffnet den Verschlag. Warum soll ich bis morgen hierbleiben? – Das klingt verdächtig! – Wenn ich schlafe, kehrt man mir die Taschen um.
LULU. Nein, das tu ich nicht! Das tut niemand! – Gehen Sie deshalb nicht wieder fort! Ich bitte Sie darum!
JACK. Wieviel willst du?
LULU. Dann geben Sie mir die Hälfte von dem, was ich sagte!
JACK. Nein, das ist zuviel. – Du scheinst noch nicht lange dabei zu sein?
LULU. Heute zum erstenmal. – Sie reißt die Geschwitz, die sich immer auf den Knien halb gegen Jack aufgerichtet hat, an dem Riemen, den sie um den Hals trägt, zurück. Willst du dich kuschen!
JACK. Laß sie in Ruh! – Das ist nicht deine Schwester. Sie ist in dich verliebt. Er streichelt der Geschwitz wie einem Hunde den Kopf. Armes Tier!
LULU. Was starren Sie mich auf einmal so an?!
JACK. Ich beurteilte dich nach der Art, wie du gehst. Ich sagte mir, die muß einen gutgebauten Körper haben.
LULU. Wie kann man denn so etwas sehen?
JACK. Ich sah sogar, daß du einen hübschen Mund hast. – Ich habe aber nur ein Silberstück bei mir.
LULU. Nun ja, was macht das! Gib es mir nur!
JACK. Du mußt mir aber die Hälfte herausgeben, damit ich morgen früh den Omnibus nehmen kann.
LULU. Ich habe nichts in der Tasche.
JACK. Sieh nur mal nach! Such deine Taschen durch! – Nun, was ist das? Laß mich's sehen![387]
LULU hält ihm die Hand hin. Das ist alles, was ich habe.
JACK. Gib mir das Geldstück!
LULU. Ich wechsle es morgen früh; dann gebe ich dir die Hälfte!
JACK. Nein, gib mir das ganze.
LULU gibt es ihm. In Gottes Namen! – Aber nun komm auch! Sie nimmt die Lampe.
JACK. Wir brauchen kein Licht, der Mond scheint.
LULU stellt die Lampe weg. Wie Sie meinen. Sie fällt Jack um den Hals. Ich tu Ihnen nichts zuleide! Ich habe Sie so gern! Lassen Sie mich nicht länger betteln!
JACK. Mir soll's recht sein. Er folgt ihr in Schigolchs Verschlag.
Die Lampe erlischt. Auf der Diele unter den beiden Fenstern erscheinen vom Mondlicht zwei viereckige grelle Flecke. Im Zimmer ist alles deutlich erkennbar.
DIE GESCHWITZ allein, spricht wie im Traum. Dies ist der letzte Abend, den ich mit diesem Volk verbringe. – Ich kehre nach Deutschland zurück. Meine Mutter schickt mir das Reisegeld. – Ich lasse mich immatrikulieren. Ich muß für Frauenrechte kämpfen, Jurisprudenz studieren.
LULU barfuß in Hemd und Unterrock, reißt schreiend die Tür auf und hält sie außen zu. Hilfe! – Hilfe!
DIE GESCHWITZ stürzt nach der Tür, zieht ihren Revolver und richtet ihn, Lulu hinter sich drängend, gegen die Tür; zu Lulu. Laß los!
Jack reißt, zur Erde gebückt, die Tür von innen auf und rennt der Geschwitz ein Messer in den Leib.
Die Geschwitz knallt einen Schuß gegen die Decke und bricht wimmernd zusammen.
JACK entreißt ihr den Revolver und wirft sich gegen die Ausgangstür. God dam! Ich habe noch keinen hübscheren Mund gesehen. Der Schweiß trieft ihm aus den Haaren, seine Hände sind blutig. Er keucht aus tiefster Brust und starrt mit aus dem Kopf tretenden Augen zu Boden.
Lulu, zitternd an allen Gliedern, blickt wild umher. Plötzlich ergreift sie die Flasche, zerschlägt sie am Tisch und stürzt, den abgebrochenen Hals in der Hand, auf Jack los.
[388] Jack hat den rechten Fuß emporgezogen und schleudert Lulu auf den Rücken. Darauf hebt er sie vom Boden auf.
LULU. Nein, nein! – Erbarmen! – Mörder! – Polizei! – Polizei!
JACK. Sei ruhig! Du entkommst mir nicht mehr!
Er trägt sie in den Verschlag.
LULU von innen. Nein! – Nein! – Nein! – – O! – O ...
JACK kommt nach einer Weile zurück und setzt die Schale auf den Blumentisch. Das war ein Stück Arbeit! – Sich die Hände waschend. Ich bin doch ein verdammter Glückspilz! Sieht sich nach einem Handtuch um. Nicht einmal ein Handtuch haben die Leute hier! – Eine furchtbare ärmliche Höhle! – Er trocknet seine Hände am Unterrock der Geschwitz ab. Dies Ungeheuer ist ganz sicher vor mir! – Zur Geschwitz. Mit dir ist es auch bald zu Ende. Durch die Mitte ab.
DIE GESCHWITZ allein. Lulu! – Mein Engel! – Laß dich noch einmal sehen! – Ich bin dir nah! Bleibe dir nah – in Ewigkeit! In die Ellenbogen brechend. O verflucht! – Sie stirbt.
Ausgewählte Ausgaben von
Die Büchse der Pandora
|
Buchempfehlung
Die beiden »Freiherren von Gemperlein« machen reichlich komplizierte Pläne, in den Stand der Ehe zu treten und verlieben sich schließlich beide in dieselbe Frau, die zu allem Überfluss auch noch verheiratet ist. Die 1875 erschienene Künstlernovelle »Ein Spätgeborener« ist der erste Prosatext mit dem die Autorin jedenfalls eine gewisse Öffentlichkeit erreicht.
78 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro