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[402] Gerardo. Professor Dühring. Dann eine Klavierlehrerin. Prof. Dühring, siebzig Jahre alt, ganz in Schwarz, langer, weißer Bart, weingerötete Adlernase, goldene Brille, Gehrock und Zylinder, eine Opernpartitur unter dem Arm, tritt ein, ohne anzuklopfen.
GERARDO sich zurückwendend. Was wollen Sie!!
DÜHRING. Herr Kammersänger, ich – ich habe ...
GERARDO. Wie kommen Sie hier herein![402]
DÜHRING. Ich habe zwei Stunden unten auf dem Trottoir gelauert, Herr Kammersänger.
GERARDO sich besinnend. Ach, Sie sind ...
DÜHRING. Zwei volle Stunden habe ich unten auf dem Trottoir gestanden. Was soll ich anderes tun!
GERARDO. Aber liebster, bester Herr, ich habe keine Zeit.
DÜHRING. Ich will Ihnen jetzt nicht die ganze Oper durchspielen.
GERARDO. Ich habe auch gar keine Zeit mehr dazu ...
DÜHRING. Sie haben keine Zeit! Was soll ich denn sagen! Sie sind dreißig Jahre alt. Sehen Sie, Sie haben Glück gehabt in der Kunst. Sie können sich ausleben noch ein ganzes Leben lang, das vor Ihnen liegt. Hören Sie sich nur Ihre Rolle in der Oper an. Sie haben es mir doch versprochen, als Sie herkamen.
GERARDO. Was hilft mir das! Ich bin nicht mein eigener Herr ...
DÜHRING. Ich bitte Sie, ich bitte Sie, mein Herr, ich bitte Sie! Sehen Sie, hier liegt ein Greis vor Ihnen, auf den Knien, der nichts anderes auf der Welt gekannt hat als seine Kunst. Ich weiß, was Sie mir entgegnen, als junger Mann, der wie auf Engelsschwingen emporgehoben ward. Man darf das Glück nicht suchen, wenn es einen finden soll. Glauben Sie, wenn man fünfzig Jahre lang nur einen Gedanken hat, man könnte ein menschliches Mittel anzuwenden vergessen haben? Man wird ein frivoler Mensch und dann wird man wieder ein ernster Mensch; man ist Streber gewesen, man ist ein leichtherziges Kind gewesen und man wird wieder ein ernster Künstler – nicht aus Ehrgeiz, nicht aus Überzeugung, sondern weil man nicht anders kann, weil man dazu verflucht und verdammt ist von einer grausamen Allmacht, der der lebenslängliche Todeskampf ihrer Kreatur ein wohlgefälliges Opfer ist! Ein wohlgefälliges Opfer, sage ich, denn unsereiner empört sich so wenig gegen sein Künstlerlos, wie ein Weiberknecht gegen seine Verführerin, wie der Hund, der die Peitsche bekommt, gegen seinen Herrn.
GERARDO verzweifelt. Ich bin machtlos ...
DÜHRING. Sehen Sie, mein lieber Herr, die Tyrannen des Altertums, Sie wissen, die ihre Sklaven zu ihrer Unterhaltung langsam zu Tode foltern ließen, das waren Kinder,[403] das waren harmlose, unschuldige Engelskinder gegenüber der himmlischen Vorsehung, die diese Tyrannen zu ihrem Ebenbild hat schaffen wollen!
GERARDO. Ich begreife Sie ja vollkommen ...
DÜHRING während ihn Gerardo mehrmals vergeblich zu unterbrechen sucht, ihm durch das Zimmer folgend und ihm wiederholt den Weg zur Tür vertretend. Sie begreifen mich nicht. Sie können mich nicht begreifen. Wo hätten Sie denn die Zeit hernehmen wollen, um mich zu begreifen. Fünfzig Jahre fruchtloser Arbeit, mein Herr, begreifen sich nicht, wenn man ein Lieblingskind des Glückes ist wie Sie. Aber ich will Ihnen ein annäherndes Verständnis zu geben suchen. Sehen Sie, ich bin zu alt, um mir noch das Leben zu nehmen. Das tut man mit fünfundzwanzig Jahren, und da habe ich es versäumt. Ich muß jetzt zu Ende leben, ich habe die sichere Hand nicht mehr. Aber was man in meinem Alter noch tut? Sie fragen mich, wie ich hier hereingekommen. Sie haben Ihren Diener vor die Hoteltür gestellt. Ich habe nicht versucht, vorbeizuschlüpfen, ich weiß seit fünfzig Jahren, daß er mir sagt: der Herr ist nicht zu Hause. Aber ich habe zwei Stunden im Regen mit meiner Partitur hier unten an der Hausecke gestanden, bis er für einen Augenblick hinaufging. Da bin ich ihm nachgegangen, und während Sie hier drinnen mit ihm sprachen, hielt ich mich auf der Treppe verborgen – wo, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Und dann, als er wieder hinunter war, kam ich herein. Das tut ein Mann von meinem Alter gegenüber einem, der sein Enkel sein könnte. Ich bitte Sie, ich bitte Sie, mein Herr, ich bitte Sie, lassen Sie den Moment nicht fruchtlos für mich sein, wenn er Sie auch einen Tag, wenn er Sie eine ganze Woche kostet. Es handelt sich doch auch um Ihren Vorteil. Vor acht Tagen, als Sie zu Ihrem Gastspiel hierherkamen, da versprachen Sie mir, sich die Oper von mir vorspielen zu lassen; und seither bin ich jeden Tag hiergewesen. Entweder hatten Sie Probe oder Damenbesuch. Und jetzt stehen Sie im Begriff, abzureisen, und ich alter Mann soll eine ganze Woche umsonst auf der Straße zugebracht haben! Dabei kostet es[404] Sie ein einziges Wort: »Ich will den Hermann singen.« Dann ist die Oper aufgeführt. Dann danken Sie Gott, daß ich so zudringlich war, denn – Sie singen den Siegfried, Sie singen den Florestan – aber eine dankbarere Partie, gerade für Ihre Mittel dankbarer als den Hermann haben Sie nicht auf Ihrem Repertoir. Mich zieht man dann mit Geschrei aus dem Dunkel hervor, und ich habe vielleicht noch Gelegenheit, der Welt einen Teil dessen zu geben, was ich ihr hätte geben können, wenn sie mich nicht wie einen Aussätzigen von sich gestoßen hätte. Aber der große materielle Ertrag meines Ringens, der fällt doch nur Ihnen ...
GERARDO hat sich schließlich an den Kamin gelehnt und scheint, während er mit der Rechten auf der Marmorplatte trommelt, etwas hinter dem Paravent zu bemerken. Nachdem er sich neugierig orientiert, reckt er plötzlich die Hand aus und zieht eine Klavierlehrerin in grauer Toilette hervor, die er, mit vorgestreckter Faust am Kragen haltend, vor dem Flügel durch zur Mitteltür führt. Nachdem er die Tür hinter ihr geschlossen, zu Dühring. Bitte, sprechen Sie ruhig weiter!
DÜHRING. Sehen Sie, es werden alljährlich zehn schlechte Novitäten aufgeführt, die nach der zweiten Vorstellung unmöglich geworden sind, und alle zehn Jahre einmal eine gute, die sich hält. Und diese Oper ist gut, sie ist bühnenfähig, sie ist ein Kassenerfolg. Wenn Sie wollen, ich kann Ihnen Briefe zeigen, von Liszt, von Wagner, von Rubinstein, in denen diese Männer wie zu einem höheren Wesen zu mir aufblicken. Und warum ist sie bis heute nicht aufgeführt worden? Weil ich nicht auf dem Markte stehe. Ich sage Ihnen, das ist wie bei einem jungen Mädchen, das drei Jahre auf Tanzkränzchen brilliert und sich dabei zu verloben vergißt. Es kommt eine andere Generation. Und Sie kennen ja unsere National-Theater. Das sind Festungswerke, kann ich Ihnen sagen, gegen welche die Bepanzerungen von Metz und Rastatt Botanisierbüchsen sind. Lieber graben sie zehn Leichen aus, als daß sie einen Lebendigen einlassen. Und diese Festungsmauern sind[405] es, über die Sie mir die Hand reichen sollen. Sie sind drinnen mit dreißig Jahren, und ich alter Mann stehe draußen. Sie kostet mein Einlaß ein Wort, und ich kann mir umsonst meinen eisgrauen Schädel einrennen. Deshalb bin ich hier Sehr leidenschaftlich. und wenn Sie kein völliger Unmensch sind, wenn das Glück nicht die letzte Spur künstlerischen Mitempfindens in Ihnen ertötet hat, dann können Sie mich nicht unerhört lassen.
GERARDO. Ich werde Ihnen in acht Tagen Bescheid sagen. Ich werde Ihre Oper durchspielen. Geben Sie sie mir mit.
DÜHRING. Dazu bin ich zu alt, Herr Kammersänger. In acht Tagen, nach Ihrer Zeitrechnung, liege ich längst unter dem Boden. Das habe ich zu oft erlebt. Mit der Faust auf den Flügel schlagend. Hic Rhodus, hic salta! Sehen Sie, vor fünf Jahren wende ich mich an unseren Intendanten, den Grafen Zedlitz. Was bringen Sie mir, mein liebster, bester Herr Professor? – Eine Oper, Exzellenz. – So, Sie haben eine neue Oper geschrieben. Das ist ja prächtig. – Exzellenz, ich habe keine neue Oper geschrieben. Ich habe eine alte Oper geschrieben. Ich habe die Oper vor dreizehn Jahren geschrieben. – Es war nicht diese hier, es war meine »Maria de' Medici«. – Aber warum bringen Sie sie uns denn nicht her? Wir suchen ja was Neues. Wir können uns ja mit dem Alten nicht länger durchschwindeln. Mein Sekretär reist an allen Bühnen herum, ohne daß er was findet, und Sie, der Sie hier leben, Sie entziehen uns Ihre Produktion in vornehmer Weltverachtung! – Exzellenz, sage ich, ich entziehe niemandem etwas, der Himmel ist mein Zeuge. Ich habe die Oper vor dreizehn Jahren Ihrem Vorgänger, dem Grafen Tornow, eingereicht und mußte sie nach drei Jahren selber wieder von der Intendanz abholen, ohne daß jemand einen Blick hineingetan hätte. – Aber so lassen Sie sie uns doch hier, bester Herr Professor. In acht Tagen spätestens haben Sie Bescheid. – Und dabei nimmt er mir meine Partitur unter dem Arm weg und feuert sie – schrumm! – unten in die unterste Tischlade hinein, und da liegt sie noch heute! Da liegt sie noch heute, mein Herr! Ich weißhaariges Kind sage[406] noch zu Hause zu meiner Grete: Man braucht eine neue Oper hier am Theater. Ich bin schon so gut wie aufgeführt! – Ein Jahr vergeht und sie stirbt mir weg – die einzige, die noch ihre Entstehungszeit miterlebt hatte. Schluchzt und trocknet seine Tränen.
GERARDO. Ich muß das lebhafteste Bedauern mit Ihnen haben, aber ...
DÜHRING. Da liegt sie noch heute!
GERARDO. Vielleicht sind Sie wirklich das Kind in weißen Haaren. Ich zweifle in der Tat daran, daß ich Ihnen helfen kann.
DÜHRING in höchster Wut. Aber Sie können einen Greis wie mich auf demselben Pfad, auf dem Sie Ihren Siegesflug zur Sonne tun, neben sich herächzen sehen! Morgen vielleicht liegen Sie vor mir auf den Knien und rühmen sich, mich zu kennen, und heute ist Ihnen des schaffenden Künstlers qualvolles Röcheln ein trauriger Irrtum, und Sie können Ihrer Goldgier nicht die halbe Stunde abknausern, die es bedürfte, um mich meiner Kettenlast zu entledigen!
GERARDO. Spielen Sie bitte, mein Herr! Kommen Sie!
DÜHRING setzt sich an den Flügel, öffnet seine Partitur und schlägt zwei Akkorde an. – Nein, so heißt es nicht. Ich kann es nicht mehr recht lesen. Schlägt drei Akkorde an, dann weiterblätternd. Das ist die Ouvertüre; ich will Sie nicht damit aufhalten. – Hier, sehen Sie, erste Szene ... Schlägt zwei Akkorde an. Hier stehen Sie am Totenbett Ihres Vaters! – Einen Augenblick; ich muß mich erst zurechtfinden ...
GERARDO. Vielleicht haben Sie auch vollkommen recht. Auf jeden Fall täuschen Sie sich über meine Stellung.
DÜHRING spielt eine wirre Orchestration und singt dazu mit tiefer schnarrender Stimme.
Der Tod, der Tod, auch hier im Schlosse,
Wie er in unseren Hütten hauset!
So mäht er groß wie klein ...
Sich unterbrechend. Nein, das ist der Chor. Ich wollte Ihnen den nur vorspielen, weil er sehr gut ist. Jetzt kommen Sie. Setzt mit der Begleitung wieder ein und singt krächzend.[407]
Was ich gelebt bis zu dieser Stunde,
War Morgengrauen. Von tückischen Geistern
Aufs Blut gefoltert, irrt ich umher.
Mein Aug ist tränenleer!
Laß mich nur einmal noch die weißen Haare küssen ...
Sich unterbrechend. Nun?! Da Gerardo nicht antwortet, in wilder Gereiztheit. Diese blutarmen, fadenscheinigen Ochsgenies, die sich heute breitmachen! Die vor lauter sublimer Technik mit zwanzig Jahren steril, impotent geworden! Meistersinger, Philisterseelen, ob im Elend oder in Amt und Würden! Stillen den Hunger aus dem Kochbuch statt aus der Natur! Haben es ihr glücklich abgelauscht – Naivität! Ha, ha! – Schmeckt wie plattiertes Messingbesteck! Fangen damit an, Kunst zu machen statt Leben! – Musizieren für Künstler statt für hungrige Menschen! – Blinde, beschränkte Eintagsfliegen! Jugendliche Greise, denen die Sonne Wagners das Mark aus den Knochen gesogen hat! Ihn heftig am Arm packend. Wenn ich einen Künstler vor mir habe, wissen Sie, wohin ich ihm dann zuerst greife?
GERARDO weicht ängstlich zurück. Na?
DÜHRING sich mit der rechten Hand am Handgelenk der Linken den Puls fühlend. Dann greife ich ihm vor allem hierher! Sehen Sie, hierher! Und wenn er hier nichts hat – bitte, hören Sie weiter. Blätternd. Ich will Ihnen den Monolog nicht fertig spielen. Wir haben ja doch keine Zeit. Hier, Szene drei, Schluß des ersten Aktes. Da kommt das Tagelöhnerkind, das mit Ihnen auf dem Schlosse aufgewachsen, plötzlich zu Ihnen herein. Hören Sie – nachdem Sie von Ihrer hochgeehrten Frau Mutter schon Abschied genommen haben. In der Partitur rasch überlesend. Dämon, wer bist du? – Darf man herein? – Zu Gerardo. Das sagt sie! – Liest weiter. Bärbel! – Ja, ich bin's. Dein Vater ist gestorben? – Dort liegt er. – Spielt und singt in der höchsten Fistel.
Hat mir gar oft meine Locken gestreichelt,
Wo er mich sah, war er freundlich zu mir.[408]
O weh, das ist der Tod,
Die Augen sind geschlossen ...
Sich unterbrechend, Gerardo groß ansehend. Ist das Musik??
GERARDO. Möglich!
DÜHRING zwei Akkorde anschlagend. Ist das nicht mehr als der »Trompeter von Säckingen«?
GERARDO. Ihr Vertrauen zwingt mich, aufrichtig zu sein. Ich kann mir nicht vorstellen, wie meine Verwendung für Sie von Vorteil sein sollte.
DÜHRING. Sie wollen mit andern Worten damit sagen, daß es veraltete Musik ist.
GERARDO. Im Gegenteil! Ich möchte weit eher sagen, daß es moderne Musik ist.
DÜHRING. Oder daß es moderne Musik ist. Verzeihen Sie gütigst, Herr Kammersänger, daß ich mich versprochen habe. Das kann einem in meinem Alter schon passieren. Der eine Intendant schreibt: Wir können die Oper nicht geben, es ist veraltete Musik – und der andere schreibt: Wir können sie nicht geben, es ist moderne Musik. – Auf deutsch heißt das beides dasselbe: Wir wollen keine Oper von Ihnen, weil Sie als Komponist nicht in Frage kommen.
GERARDO. Ich bin Wagnersänger, mein Herr; ich bin nicht Kritiker. Wenn Sie aufgeführt werden wollen, dann wenden Sie sich wohl am besten an diejenigen Herrschaften, die dafür bezahlt werden, daß Sie wissen, was gut und was schlecht ist. Von meinem Urteil in diesen Dingen hält man ebensowenig, davon können Sie fest überzeugt sein, wie man mich als Sänger würdigt und hochschätzt.
DÜHRING. Mein lieber Herr Kammersänger, Sie dürfen mir getrost glauben, daß ich auch nichts von Ihrem Urteil halte. Was kümmert mich Ihr Urteil! Ich kenne doch die Tenoristen. Ich spiele Ihnen die Oper hier vor, damit Sie sagen: Ich will den Hermann singen! Ich will den Hermann singen!
GERARDO. Das hilft Ihnen nichts. Ich muß tun, was man von mir verlangt; dazu bin ich kontraktlich verpflichtet. Sie können eine Woche lang unten auf der Straße stehen. Auf einen Tag mehr oder weniger braucht es Ihnen dabei[409] nicht anzukommen. Wenn ich mit dem nächsten Zuge nicht reise, dann bin ich für diese Welt ruiniert. Vielleicht, daß man in einer anderen Welt kontraktbrüchige Sänger engagiert! Meine Ketten sind enger bemessen als das Geschirr, in dem ein Equipagenpferd geht. Ich habe für den Fremdesten, der mich um materielle Hilfe angeht, eine offene Hand, obschon das, was ich meinem Beruf an Lebensglück opfere, mit fünfmalhunderttausend Francs im Jahr nicht bezahlt ist. Aber verlangen Sie die kleinste Äußerung persönlicher Freiheit von mir, so ist das von einem Sklaven, wie ich es bin, zu viel verlangt. Ich kann Ihren Hermann nicht singen, solange Sie als Komponist nicht in Frage kommen.
DÜHRING. Hören Sie, bitte, weiter. Es wird Ihnen die Lust dazu kommen.
GERARDO knöpft sich den Rock zu. Wenn Sie wüßten, zu wie vielem mir die Lust kommt, was ich mir versagen muß, und wie vieles ich auf mich nehmen muß, wozu ich nicht die geringste Lust habe! Es gibt für mich gar nichts anderes als diese zwei Eventualitäten. Sie waren Ihrer Lebtag ein freier Mann. Wie können Sie sich darüber beklagen, daß Sie nicht auf dem Markte stehen? Warum gehen Sie nicht auf den Markt?
DÜHRING. Der Schacher – das Geschrei – die Gemeinheit – ich habe es hundertmal versucht.
GERARDO. Man muß das tun, was man kann, und nicht das, was man nicht kann.
DÜHRING. Es will alles gelernt sein.
GERARDO. Man muß das lernen, was man lernen kann. Wer bürgt mir dafür, daß es sich mit Ihren Kompositionen nicht ebenso verhält!
DÜHRING. Ich bin Komponist, Herr Kammersänger!
GERARDO. Sie wollen damit sagen, daß Sie Ihre ganze geistige Kraft darauf verwendet haben, um Ihre Opern zu schreiben.
DÜHRING. Ganz recht.
GERARDO. Und es blieb Ihnen natürlich nichts mehr übrig, um Ihre Aufführungen zustande zu bringen.
DÜHRING. Ganz recht.[410]
GERARDO. Die Komponisten, die ich kenne, machen es umgekehrt. Die Opern schreiben sie herunter, und ihre geistigen Kräfte bewahren sie sich, um die Aufführungen zustande zu bringen.
DÜHRING. Das sind Künstler, die ich nicht beneide.
GERARDO. Das beruht auf Gegenseitigkeit, mein Herr. Diese Leute kommen in Betracht. Irgend etwas muß man sein. Nennen Sie mir doch einen berühmten Mann, der nicht in Betracht gekommen wäre! Wenn man nicht Komponist ist, dann ist man eben etwas anderes und braucht deswegen noch nicht unglücklich zu sein. Ich war, bevor ich Wagnersänger wurde, auch etwas anderes, worin mir niemand meine Tüchtigkeit bemängeln durfte und womit ich vollkommen zufrieden war. Das hängt nicht von uns ab, wofür wir in dieser Welt bestimmt sind. Da könnte jeder kommen! Wissen Sie, was ich war, bevor man mich entdeckte? – Ich war Tapeziergehilfe. Sie wissen, was das ist? Geste. Ich klebte die Tapeten an die Wände – mit Kleister. Ich mache vor niemandem ein Geheimnis aus meiner niedrigen Herkunft. Nun denken Sie sich einmal, wenn ich mir nun als Tapeziergehilfe hätte in den Kopf setzen wollen, durchaus Wagnersänger zu werden! – Wissen Sie, was man mit mir getan hätte?
DÜHRING. Man hätte Sie ins Irrenhaus gesteckt.
GERARDO. Und mit vollem Recht. Wer sich nicht mit dem begnügt, was er ist, der bringt es seiner Lebtag zu nichts. Ein gesunder Mensch tut das, worin er Glück hat; hat er Unglück, dann wählt er einen anderen Beruf. Sie führen das Urteil Ihrer Freunde an. Es ist nicht schwer, Anerkennungen zu erhalten, die demjenigen, der sie ausstellt, nichts kosten. Ich bin seit meinem fünfzehnten Jahre für jede Arbeit bezahlt worden und hätte es mir zur Schande angerechnet, wenn ich irgend etwas umsonst hätte tun müssen. – Fünfzig Jahre fruchtlosen Ringens! Das müßte doch den Starrköpfigsten von der Unmöglichkeit seiner Träume überzeugen. Was haben Sie denn dann von Ihrem Leben genossen? Sie haben es sündhaft vergeudet! – Ich habe nie etwas Außergewöhnliches angestrebt; aber das eine kann[411] ich Ihnen versichern, mein Herr, daß ich seit meiner frühesten Kindheit nicht soviel Zeit übrig gehabt habe, um acht Tage auf der Straße zu stehen. Und wenn ich denke, daß ich als alter Mann dazu gezwungen sein sollte – ich spreche nur für meine Person – aber ich kann mir nicht vorstellen, wo ich dann den Mut hernehmen wollte, jemandem unter die Augen zu treten.
DÜHRING. Mit einer solchen Oper in der Hand! – Ich tue es ja nicht für mich, ich tue es für meine Kunst.
GERARDO hohnlachend. Sie überschätzen die Kunst, mein verehrter Herr! Lassen Sie sich von mir sagen, daß die Kunst ganz etwas anderes ist, als was man sich in den Zeitungen darüber weismacht.
DÜHRING. Sie ist mir das Höchste auf Erden!
GERARDO. Die Ansicht besteht nur bei Leuten wie Sie, die ein Interesse daran haben, diese Ansicht zur Geltung zu bringen. Sonst glaubt Ihnen kein Mensch daran! – Wir Künstler sind ein Luxusartikel der Bourgeoisie, zu dessen Bezahlung man sich gegenseitig überbietet. Wenn Sie recht hätten, wie wäre denn dann zum Beispiel eine Oper wie die »Walküre« möglich, die sich um Dinge dreht, deren Bloßstellung dem Publikum in tiefster Seele zuwider ist. Singe ich aber den Siegmund, dann führen die besorgtesten Mütter ihre dreizehn- und vierzehnjährigen Töchterchen hinein. Und ich auf der Bühne habe auch die absolute Gewißheit, daß nicht ein Mensch im Zuschauerraum mehr auf das achtet, was bei uns oben gespielt wird. Wenn die Menschen darauf achteten, würden sie hinauslaufen. Das haben sie getan, solange die Oper neu war. Jetzt haben sie sich daran gewöhnt, es zu ignorieren. Sie bemerken es so wenig, wie sie die Luft bemerken, die sie von der Bühne trennt. Das, sehen Sie, ist die Bedeutung dessen, was Sie Kunst nennen! Dem haben Sie fünfzig Jahre Ihres Lebens geopfert! Wir Künstler hingegen haben die Aufgabe, uns Abend für Abend dem zahlenden Publikum unter diesem oder jenem Vorwand zu produzieren. Das Interesse klammert sich an unser Privatleben ebenso krampfhaft, wie an unser Auftreten. [412] Man gehört mit jedem Atemzuge dem Publikum; und weil wir uns für Geld dazu hergeben, weiß man nie, ob man uns höher vergöttern oder tiefer verachten soll. Erkundigen Sie sich, wie viele gestern im Theater waren, um mich singen zu hören, und wie viele, um mich anzugaffen, wie sie den Kaiser von China angaffen würden, wenn er morgen hierher käme. Wissen Sie, was die künstlerischen Bedürfnisse des Publikums sind? Bravo zu rufen, Blumen und Kränze zu werfen, Unterhaltungsstoff zu haben, sich sehen zu lassen, ah und oh zu sagen, auch mal Pferde auszuspannen – das sind die reellen Bedürfnisse, die ich befriedige. Wenn man mich mit einer halben Million bezahlt, so setze ich dafür eine Legion von Droschkenkutschern, von Schriftstellern, von Putzmacherinnen, von Blumenzüchtern, von Bierwirten in Brot. Das Geld kommt in Umlauf. Das Blut kommt in Umlauf. Die jungen Mädchen verloben sich, die alten Jungfern verheiraten sich, die Gattinnen fallen dem Hausfreund zum Opfer, und die Großmütter bekommen eine Unmenge Stoff zum klatschen. Unglücksfälle und Verbrechen geschehen. An der Kasse wird ein Kind totgetreten, einer Dame wird das Portemonnaie gestohlen, ein Herr im Theater wird vom Wahnsinn befallen. Dadurch verdienen die Ärzte, die Advokaten ... – Bekommt einen Hustenanfall. Und dabei soll ich morgen in Brüssel den »Tristan« singen! – – Ich erzähle Ihnen das alles nicht aus Eitelkeit, sondern um Sie von Ihrem Wahn zu heilen. Der Maßstab für die Bedeutung eines Menschen ist die Welt und nicht die innere Überzeugung, die man sich durch jahrelanges Hinbrüten aneignet. Ich habe mich auch nicht auf den Markt gestellt; man hat mich entdeckt. Es gibt keine verkannten Genies. Wir sind nun einmal nicht die Herren unseres Geschickes; der Mensch ist zum Sklaven geboren!
DÜHRING der in seiner Partitur geblättert hat. Hören Sie sich bitte noch die erste Szene vom zweiten Akt an. Eine Parklandschaft, wissen Sie, wie auf dem berühmten Bild: Embarquement pour Cythère ...[413]
GERARDO. Aber ich sage Ihnen ja, daß ich keine Zeit habe! Und was soll ich denn aus diesen paar abgerissenen Szenen ersehen?
DÜHRING langsam seine Partitur zusammenpackend. Sie beurteilen mich doch wohl nicht ganz richtig, mein Herr. So unbekannt wie Ihnen bin ich doch der übrigen Welt nicht. Man kennt und nennt mich. Sie finden mich auch oft genug von Wagner selber in seinen Schriften erwähnt. Und, sehen Sie, wenn ich heute sterbe, werde ich morgen aufgeführt. Das ist so sicher, wie meine Musik ihren Wert behalten wird. Mein Berliner Verleger schreibt mir auch jeden Tag: Warum sterben Sie denn nun nicht endlich mal!
GERARDO. Ich kann Ihnen nur das eine sagen, daß seit Wagners Tod noch nirgends ein Bedürfnis nach neuen Opern besteht. Mit neuer Musik haben Sie von vornherein sämtliche Kunstinstitute, sämtliche Künstler und das gesamte Publikum zu Feinden. Wenn Sie an die Bühne gelangen wollen, dann schreiben Sie eine Musik, die der heutigen zum Verwechseln ähnlich sieht; kopieren Sie einfach; stehlen Sie Ihre Oper aus allen Wagnerschen Opern zusammen. Dann können Sie mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit darauf rechnen, daß Sie aufgeführt werden. Mein Bombenerfolg von gestern beweist Ihnen, daß die alte Musik noch auf Jahre hinaus vorhält. Und darin denke ich nicht anders als jeder andere Künstler, als jeder Intendant und als das gesamte zahlende Publikum: Warum soll ich mir unnötigerweise Ihre neue Musik einprügeln lassen, nachdem mich die alte so unmenschliche Prügel gekostet hat?!
DÜHRING reicht ihm seine zitternde Hand. Ich fürchte nur, daß ich zu alt dazu bin, um noch stehlen zu lernen. Mit so was muß man als junger Mann anfangen, sonst lernt man es nie.
GERARDO. Seien Sie nicht beleidigt. – Aber – mein verehrter Herr – wenn ich Ihnen – der Gedanke, daß Sie mit dem Leben zu kämpfen haben – Sehr rasch. Ich habe nämlich aus Zufall fünfhundert Mark zuviel bekommen ...
DÜHRING der ihn groß angesehen hat, sich plötzlich zur Tür wendend.[414] Nein, nein, ich bitte, nein. – Sprechen Sie das nicht aus. – Nein, nein, nein! Dazu bin ich nicht hergekommen. – Nein, nein! – Wissen Sie, es hat mal ein großer Weiser gesagt: – Gutmütig sind sie alle! – Nein, Herr Kammersänger – ich habe Ihnen die Oper da nicht vorspielen wollen, um eine – Erpressung zu üben. Dazu ist mir mein Kind zu lieb. – Nein, Herr Kammersänger ... Durch die Mitte ab.
GERARDO der ihn zur Tür geleitet. O bitte. – War mir sehr angenehm.
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