Selbstbildnisse
Bemerkungen zu einem Buch

[174] Unsere Zeit hat in den Ansprüchen der Masse wie in denen der Geistigen eine betonte Neigung zum Menschen. Zwar ließ er, Maß alles Gegebenen, sich niemals völlig ausschalten, doch hatte er Geltung vor allem in seiner Eigenschaft als Träger einer religiösen, politischen, geschichtlichen oder kunstgeschichtlichen Entwicklung als des Primären und eigentlich Bedeutsamen. Heute reizt seine Persönlichkeit, das Phänomen seiner Begabung, mehr, als es die Linie des historischen Ablaufs tut. Die Verschiebung des Schwerpunktes hat eine neue Form der Betrachtung gezeitigt: Das Organisatorische tritt darin zurück zugunsten des Anekdotischen, der Episode; sie gibt das neue Bild voll gefährlicher Spannung.

Zweideutig, Gewinn und Verlust, ist das Ergebnis wie alles Ergebnis in einer gelockerten Zeit. Nach der einen Seite hin ist das Persönliche in einen aufdringlichen Vordergrund gerückt. Am Heros reizt das Menschliche und meistens Allzu-Menschliche und schafft erwünschte Annäherung aus einer niederen Gemeinsamkeit. Für die andere Seite steigt aus der Anonymität des Menschlichen erschütternder und größer das Ewige auf, Leistung und Schicksal. Dichter unserer Tage haben, auf wenig Seiten, Gestalt und Ereignis in eine früher ungekannte, oft bis ins Körperliche gehende Faßbarkeit gerückt, Zusammenhänge in einem tieferen Sinne spürbar gemacht und seelisch übermittelt, als es der Wissenschaft je möglich war. Dafür[174] ist natürlich alle Freiheit des »Sehens durch ein Temperament« gegeben; kann eine Willkür den Leser bedrohen, der keine Grenzen gezogen sind, sich jedes Bild und Gleichnis zu machen.

Ernst Benkard hat zwei schöne Bücher herausgegeben: dem »Ewigen Antlitz«, einer Sammlung von Totenmasken aus sechs Jahrhunderten, ist eine Zusammenstellung von Selbstbildnissen vom 15. bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts gefolgt (Verlag Heinrich Keller, Berlin). Beide Bücher sind voll Witterung für das Menschliche innerhalb des Historischen und Künstlerischen. Sie sind dichterisch auf eine zurückhaltende Art, die es zu einer Synthese mit der Wissenschaft kommen läßt. Benkard folgt in beiden Fällen streng der zeitlichen Entwicklung. Aber indem er diese Entwicklung nach allen Seiten, nicht der kunsthistorischen allein, sich auswirken läßt, schafft er die höchst spürbare Atmosphäre einer Zeit und ihrer Menschen; im »Selbstbildnis« die ihrer bedeutendsten künstlerischen Vertreter.

Bei seiner Annäherung an den psychologischen Komplex seines Themas hält Benkard die Ansicht, als sei der Künstler im Selbstbildnis zunächst sein billigstes Modell gewesen, für eine »fable convenue«, die er der Widerlegung für würdig achtet. Dem Leser, der heute nach seinem Buche greift, tut er sicherlich Unrecht damit. Das große Erstaunen liegt anderswo. Der Mensch von heute wird, dem Problem der Selbstdarstellung gegenüber, es für das dem Künstler Nächstliegende und Anziehendste halten. Nicht nur um des Reizes alles Persönlichen willen, dem er so sehr gefügig ist, sondern vor allem, weil ihm die[175] Auseinandersetzung mit sich selbst zur Notwendigkeit geworden ist. Weil große Teile der Kunst für ihn solche Auseinandersetzung bedeuten und weil er darum in der darstellenden Kunst das Selbstbildnis als reinste und ursprünglichste Form einer solchen Auseinandersetzung anzusehen geneigt ist. In der Selbstverständlichkeit der Annahme liegt sein großer, sein größter Irrtum.

Und er beginnt nun unter Benkards Führung den langen Weg, der zu dieser Stufe einer von ihm a priori vorhanden geglaubten menschlichen und künstlerischen Freiheit führt. Benkard hat diesen Weg in verschiedene Strecken eingeteilt: »Unfreiheit« heißt er die erste, etwa zu Raffaels Zeiten endende. Aber auch ihr sind einige Tafeln noch vorgerückt: ein Ausschnitt aus dem »Verlöbnis des Arnolfini« des Jan van Eyck ist die erste. Und hier in diesem Bild, das gleichzeitig voll einer breiten in sich beruhenden Größe und voll einer geistreichen Überlegenheit ist, erleben wir beinahe mit Bestürzung den ersten, gleichsam verheimlichten und zögernden Eintritt des Künstlers in sein Werk. Der Maler hat an der Rückwand des dargestellten Zimmers einen Spiegel angebracht. Eine Tür der unsichtbaren Vorderwand hat sich darin geöffnet: zwei Männer treten ein. Eine zu ihren Häupten angebrachte Signatur besagt, der eine von ihnen sei Jan van Eyck gewesen.

Den zweiten Ansatz zur Selbstdarstellung, beglaubigt durch ein Spruchband, das von ihren Händen sich wegrollt, finden wir in der Gestalt des Fra Filippo Lippi auf der wenig jüngeren »Krönung Mariä« in den Uffizien. Entsprechend der bürgerlichen Funktion eines Trauzeugen[176] des van Eyck im »Verlöbnis des Arnolfini«, dieser Darstellung aus dem mehr zum Soziologischen orientierten nördlichen (französisch-burgundischen) Kulturkreis, tritt in die damals fast ausschließlich religiöse Malerei der italienischen Kunst das Selbstbildnis des Malers als Teilnehmers am religiösen Zeremoniell. In beiden Fällen gleicht das Verhältnis des Künstlers zu sich selbst einer Art Betrachtung aus der Vogelschau, fern jedem egozentrischen oder psychologischen Interesse. Er sieht sich selbst nicht anders denn als Glied, als Mitträger der Struktur seiner Zeit, so sehr dieses Sehen an sich schon das erste Anzeichen einer Lockerung ist. Der Kopf des Fra Filippo Lippi ist rührend in seiner unendlichen Harmlosigkeit, er ist vollkommen von außen gesehen, nichts als das sorgsam wiedergegebene Abbild einer Erscheinungsform, zu der eine innigere Beziehung nicht besteht. Die leibliche und geistige Gebundenheit ist eine absolute: die ungeheure Glaubenskraft des mittelalterlichen Menschen beruhte auf ihr und schon der Begriff des Genies schiene ihr todeswürdige Ketzerei.

Die nächsten Jahrzehnte bringen die verhältnismäßig häufige Wiederkehr von Gestalten der Künstler in der »assistenza« religiöser Darstellungen. Ihre menschliche Existenz sucht Einlaß; das erste Bewußtsein der persönlichen Leistung, erste dunkle Abwehr der Vergänglichkeit machen sich geltend. Gleichzeitig neigen die biblischen Vorgänge sich zum Profanen: die Fresken des Ghirlandajo sind eine Spiegelung des Lebens der florentinischen Gesellschaft – es ist natürlich, daß die Personendarstellung dabei langsam dem Charakter des Porträts sich nähert[177] und dabei auch den Künstler als Mitteilnehmer an diesem Leben einbegreift. Trotzdem bedarf es noch gewisser Übergangsformen, bis die Freiheit zur Selbstdarstellung außerhalb einer Gemeinschaft der »assistenza« gefunden ist: Perugino hat an der Wand eines Pfeilers des Collegio del Cambio zu Perugia ein Bildnis von sich selbst angebracht, als körperhafte Signatur des von ihm ausgemalten Raumes gewissermaßen. Und Pinturicchio hat auf einer Verkündigungsszene an einer Wand hängend ein gerahmtes männliches Bildnis ins Bild gemalt, das sich durch eine Tafel als Selbstporträt ausweist.

Am Ende dieser Epoche steht Raffael und über die Dauer seines Schaffens hinweg stagnierte die Entwicklung des Selbstbildnisses. Für seine Kunst, die nach sphärischen Harmonien ging, die eine maßlose Verklärung war, hatte der Mikrokosmos des Einzelwesens keine Geltung, unabhängig von der Befangenheit der Zeit. Doch ist uns in der »Schule von Athen« ein Doppelbildnis voll des Reizes tiefgründiger Gegensätze überkommen: Antlitz des Raffael, in himmlische Leere lächelnd, und daneben irdischbegehrlich, sinnlich verzehrt, das üppige Gesicht des Giovanni Bazzi, genannt Sodoma.

Die »erste Entfaltung« geschieht in der nördlichen Kunst. Dürer leitet sie ein: als Dreizehnjähriger zieht er den ersten rührenden Umriß seiner kindlichen Erscheinung. So ganz und gar ist Dürer Mensch der Neuzeit, daß er in seinen späteren Selbstbildnissen schon mit dem Wunsch zur Wirkung, zur Steigerung des Physiognomisch-Eindrucksvollen sich gegenübersteht. Er tut es mit der selbstsicheren Überlegenheit des isolierten modernen Menschen,[178] während um ihn der Trieb zur Selbstbetrachtung noch vielfach aus der Abkehr vom Leben und der Bängnis eines nahen Todes keimt: Burgkmair hat ein Doppelbildnis von sich und seiner Frau gemalt, darauf ihnen aus einem Spiegel zwei Totenköpfe entgegenschauen. Er ist ein Jahr nach Vollendung des Bildes gestorben. Andrea del Sarto und Holbein d.J. sind ihrem Angesicht gegenübergetreten, kurz ehe sie der Pest erlagen. Vor diesen Bildnissen ergreift die Magie einer Zwiesprache, die, im Irdischen verstummt, in die Unendlichkeit sich fortsetzt. Der Kopf des Selbstporträts steht auch hier nicht allein, in einem völlig neuen Sinn: er ist gleichzeitig Sehender und Gesehener, zweifach und doch in sich unlösbar vereint. Am tiefsten ergreift Holbeins Porträt: der glänzende Maler des hochmütigen und grausamen Geschlechtes der Tudors, der hier mit einer ungeheuern Gleichgültigkeit sich an- und durchsieht, einer Gleichgültigkeit, die schon etwas von der erhabenen Gleichgültigkeit des Todes in sich trägt.

Benkard fügt an diese Stufe erster Entfaltung die zweite der »Sozialen Emanzipation«. Sie nimmt als Bewegung von Italien aus ihren Ursprung, wenngleich im Norden sich Dürer selbstherrlich aus der Zunft erlöst hat, seine Tracht der Kleidung des Adels angleicht und in den Niederlanden fürstliche Ehren genießt. In Italien bemüht sich Michelangelo um den Nachweis seiner adeligen Abstammung. Der Weg des Künstlers drängt weiter aus der Anonymität; das Bewußtsein der Begnadung, der Einzigartigkeit der Leistung erfüllen ihn mit Anspruch auf die Beachtung und Ehre der Welt. In dieser Epoche der Entwicklung[179] und Übersteigerung persönlichen Geltungsbedürfnisses entstehen Selbstbildnisse Tizians, Velasquez' und Rembrandts in Stil und Haltung der Granden ihrer Zeit. Van Dyck stellt auf dem bekannten Doppelbildnis seine geschmeidige und raffinierte Eleganz mit sehr viel Ironie neben die derbe Krafterscheinung des Grafen Bristol.

Die Bemühung um soziale Geltung wurde gegenstandslos, nachdem für den Künstler die Kluft zwischen den Ständen sich ausgeglichen hatte. Er begann in einem tiefern Sinne sich zu suchen; die Anerkennung seiner Umwelt, die ihn aus ihren sozialen Gesetzen entließ, steigerte in ihm die leidenschaftliche Teilnahme für seinen Sonderfall: das Tragische seiner Existenz, das Schicksalhafte seiner Begabung wurden ihm Anlaß der Betrachtung. Benkard läßt diese Selbstbildnisse des Barock zusammengefaßt in die »Emanzipation des Gefühls« sich folgen. Auf Pomp und Anspruch höfischer Gebärde, Bekenntnis zum leidvollen Schicksal alles Menschlichen: des gealterten Tizian erschütterndes Greisenhaupt, van Dycks und Velasquez' nun so viel schwerere Gesichter. Die erste Ironie, das erste mitleidvolle Lächeln wird lebendig auf den Porträts des Salvatore Rosa, des Lorenzo Lippi. Die beiden hohnvollen Gesichter Rembrandts, zerspringend in Gelächter. Carlo Dolci beschließt die Reihe: er hält neben seinem schwermütigen Antlitz uns ein Blatt mit eben diesem Kopf, verzerrt ins Komische, entgegen. Es ist die erste Karikatur im Selbstbildnis oder der Ansatz dazu: und gerade die große Zurückhaltung, Verzicht auf jede gröbere Übertreibung machen diese Ironie in einer seltenen Weise angreifend und schmerzlich.[180]

Der Überschwang des Barock und seine Ekstatik besänftigen sich in der klassizistischen Richtung, die der Franzose Nicolas Poussin einleitet. Eine geistige und seelische Disziplin schafft »Gleichgewicht und bürgerliche Mitte«. Die niederländische Kunst hat ihre Blütezeit: ihr Realismus, ihre Liebe zum Detail begünstigen die Nüchternheit der Selbstdarstellung eines Frans Hals, eines Gerard Dou, eines Adriaen Brouwer. Wir begegnen noch einmal Rembrandts und Velasquez' gebändigtem Gesicht; wir müssen Rembrandt, der jeden Weg zu Ende ging, noch in der Maske eines gepreßten und grobschlächtigen Handwerkers erleben. In Gerard Terborch hat das Kleinbürgerliche mit seiner Bemühung um Würde und Sicherheit des Auftretens sich ein wenig ins Lächerliche begeben.

Im Frankreich Ludwigs XIV. wird der Künstler, eingeordnet an sich schon ins Bürgerliche, von der äußerst geschickten Verwaltungstechnik ergriffen und dem administrativen System als »Beamter« einverleibt. Es entsteht die »Académie Royale de Peinture«; mit ihr der Begriff der »ästhetischen Autorität«, als deren Vertreter die Künstler sich zu sehen lieben. Aus den Selbstporträts dieser Zeit spricht eine dekorativ aufgebauschte Mittelmäßigkeit, eine gesättigte Selbstzufriedenheit, die kaum ein historisches Interesse erwecken können. Ein Bildnis des Andrea Pozzo, für jene Zeit reaktionär, weil es noch im Übermaß des Barock ausschwingt, zeigt den Künstler sonderbar schräg und beinahe schwindelerregend zwischen Höhe und Tiefe eines Kuppelgewölbes auf einer Balustrade sitzend – erste bewußte Beziehung des Individuums zu der Unendlichkeit des Raumes.[181]

Benkard hat sein Werk über das Selbstbildnis bis zum Beginn des achtzehnten Jahrhunderts geführt. Er hat historische und andere Gründe für seinen »Hiatus« an dieser Stelle, aber er wird es nicht verübeln, wenn wir das Werk jenseits der Kluft, die hier zwischen Abschluß und Beginn einer Entwicklung liegt, von ihm zu unseren Tagen fortgeführt wünschten. Das große Verdienst seiner Darstellung liegt begründet in ihrer Skepsis, einer Skepsis, die auf eine seltene Weise positiv wird. Benkards Behauptungen sind von einer äußersten Vorsicht, häufiger Andeutungen als Feststellungen. Er sieht seinen Gegenstand von allen Seiten, ohne Voreingenommenheit und niemals zugunsten einer Theorie. Er scheut sich nicht, die Situation, wie sie zu Beginn seines Buches sich darstellt, an seinem Ende fragwürdig erscheinen zu lassen. Und so ergibt sich aus einem vielfältigen Hin und Her, aus Strömung und Gegenströmung ein überzeugendes Abbild des Lebens, dieses Lebens, das im Grunde ungreifbar und niemals eindeutig ist.[182]

Quelle:
Maria Luise Weissmann: Gesammelte Dichtungen, Pasing 1932, S. 174-183.
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