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[186] Das Werk Rudolf Alexander Schröders ist von der edlen Struktur des Kristalls, völlig rein in sich selbst, so wahrhaftigen Seins, daß nur im heilig-klärenden Prozeß des Feuers ein zu ihm selbst Verwandeltes ihm Zuwachs bringen kann. Den Zuwachs, der, dem Kern an Dichte gleich, organisch ihm verschmelzend, unlösbar mit der Urform sich verbindend, sie fortsetzt, steigert, variiert, – niemals aber aus ihr entlassen werden kann. Es ist demnach bei dem Versuch, von einem solchen Werk zu reden, die Linie einer Entwicklung nicht aufweisbar. Seine einzelnen Teile folgen einander, durch keine chronologische Beziehung unter sich verbunden: die Daten ihrer Entstehung sind künstlerisch ohne Belang. Alfred Walter Heymel hat um die Jahrhundertwende die Herausgabe von Dichtungen Schröders als Privatdruck bei der »Insel« veranlaßt; Drucke, die in ihrer Seltenheit heute beinahe unzugänglich geworden sind. Was damals für einen begrenzten Freundeskreis oder in exclusiven Jahrbüchern erschien, begegnet uns heute ab und zu in einer Zeitschrift: in einem Heft des »Inselschiffes« von 1928 etwa Sonette »An die Sixtinische Madonna« – Gedichte, die 1909 das Jahrbuch »Hesperus« gebracht hat. Zwei Jahrzehnte haben diesen Gedichten nichts anhaben können und es gilt zu bedenken, daß sie gefährlicher sein können als zwei Jahrhunderte. Schröders Gedichte stehen zeitlos innerhalb wie außerhalb des Werkes, aber sie sind zugleich voll[186] einer Atmosphäre, die immer noch die unsre ist, die mehr als je die unsre ist; sie sprechen uns auf die persönlichste Weise an, sie haben den Reiz, den tiefgründigen Reiz des neu Gesehenen, des erstmals Dargestellten – sie haben diesen Reiz heute wie sie ihn damals hatten. Sie haben keine Schule gemacht, was, anders ausgedrückt, besagen will, daß die Empfänglichkeit für ihr Besonderes, ihr Einziges uns rein erhalten blieb; das literarische Können der Zeit fand keine Gelegenheit, hier »Technisches« seinem Handgelenk zu assimilieren so wie es, innerhalb seiner begrenzten Möglichkeiten, George und Rilke sich assimilierte. Von dem, was an Schröders Gedichten dieser Gefahr widerstand, wird noch die Rede sein.
Wenn also eine Entwicklung nicht zu verfolgen ist, so muß den beiden ersten Versbüchern, der unter dem Titel »Unmut, ein Buch Gesänge« (1899 im Verlag der Insel bei Schuster und Löffler) erschienenen Sammlung wie auch jener der »Sprüche in Reimen« (1900 gleichfalls im Verlag der Insel bei Schuster und Löffler) doch innerhalb des Werkes eine Sonderstellung eingeräumt werden. Sie halten gleichsam jenen Zustand des Überganges fest, in dem die Grundsubstanz sich ausgeschieden, das Atom sich gebildet hat, unumstößlich schon das Gesetz seiner Gruppierung in sich tragend – es ist der letzte Augenblick des Fließenden, des sich Erzeugenden, des Baustoff-Bildenden. Schon in den Gedichten, die im gleichen Jahr und in den folgenden Jahren in der Zeitschrift »Die Insel« erscheinen, ist dieses sich Bildende Bestand, das Fließende Struktur geworden.[187]
Und damit beginnt die unschätzbare Reihe der Sonette, Oden, Episteln, Elegien, darin der Unmut über die geringe Würde der Welt sich eine reinere Schöpfung formt. Wie allem Leben, das unter großen Gesetzen steht, ergibt sich für Schröder die Einheit von Erkenntnis und Schicksal, der »Daimon« der Griechen. »Sonette zum Andenken an eine Verstorbene« ist ein (1904 erschienener) Band von 364 Sonetten betitelt. Der Tod ist das Maß allen Lebens. Was in Schröders dichterische Welt eingeht, hat vorher seinen Tod bestehen müssen. Leben, gesehen ohne ihn, ist unwirklich, gespenstisch wie ein Ding, das keinen Schatten wirft; es ist frech oder ein frommer Betrug. Diesen Betrug zu verschmähen, hat nichts mit Weltschmerz gemein; es ist die heroische Haltung des Starken, der mit Bewußtsein auf einem verlorenen Posten kämpft: auf einem glaubenlosen vergänglichen Grund für die Fiktion des Ewigen. Das Gesetz der Sittlichkeit erhält seinen tiefen tragischen Wert.
Nicht das allein, was auf Schröders Dichtung eine Zeit hinweisen sollte, die vom Optimismus billiger Moralbegriffe verdrossen, sich der Gesetzlosigkeit ergab und doch, ihrer Gesinnung nach nicht unheroisch, im Gegensatz zu dieser Lässigkeit sich anderswo in eine umso schärfere Zucht genommen hat. Aus dem Aspekt des Todes, der alle Dinge dieser Welt umreißt als ihre Kontur, ergibt sich für Schröders Dichtung jene tiefe Inbrunst des Schauenden, der immer sieht als sähe er mit einem letzten Blick. Dem letzten Blick, dem inniger und leuchtender die Welt sich öffnet. »Der Herbst am Bodensee«, eine Sammlung von Sonetten (von denen 1925 den Druck einer[188] kleinen Auswahl die Bremer Presse der Maximiliangesellschaft anläßlich einer Tagung widmete), ist erfüllt von dieser tieferen Lebensglut, die aus der herbstlichen Nachbarschaft des Todes quillt. Vergänglichkeit eint alles Geschöpf der Natur in einer großen Harmonie: Mensch, Pflanze, Gestirn und den Lauf ihres Schicksals.
Aber nicht nur Quell dieser schwermutvollen Schönheit alles Lebenden ist die Nachbarschaft des Todes, sie ist zugleich Quell einer tiefen, einer heiligen Art von Heiligkeit. »Frei und leicht« schweben die Lieder »An Belinde« (1902), aus Schwermut und Lächeln unlösbar verschlungene Melodie. Ein buntes Seifenblasenspiel aus Witz und Wehmut, bezaubernd graziös, steigen die Gedichte und Erzählungen um »Hama«, das clownhaft-melancholische Pekinghündchen der Titelvignette, empor; – das Wenige, was von Schröders Werk auf dem Weg über die »Zehnte Muse« den Kreis der Adepten durchbrach, die Ballade von »Humsti-Bumsti« etwa oder dem »Schönen Alfred« ist in diesem Band enthalten. – In einer unirdisch dünnen Luft wandeln, »das allerleichteste Gespräch verhandelnd,« schattenhaft seelenlos die Gestalten des »Elysium« (1906), nur schöne leere Gebärde noch, »der Eitelkeiten und der Befleckung bar.« Die tiefe Müdigkeit eines großen Erkennenden, eines Verantwortlichen an der Sinngebung des Lebens, der Schmerz des allzuvielfach Berührbaren haben sich erlöst am sinn- und seelenlosen Wandel jener Unsterblichen, die weder Lust noch Gram berühren kann. – Unverführbar auch der Blick der Sixtinischen Madonna in die weite Leere der Himmel, daraus das Erbarmen des Sohnes wieder den Weg zur Mühsal der Erde antritt.[189]
Auch dem Dichter, dem irdischen Gast im schwerelosen Raum, hat tiefer nur der Abstieg sich vorbereitet: schonungsloser für allen irdischen Zwiespalt hat seinen Blick die Einheit jener Wesenlosen gemacht. Er gleicht, dieser Blick, vor dem der Sehende selbst nun als Gesehener erscheint, der magischen Schwelle, vor der Sein und Erscheinen sich spalten. Das furchtbar doppelgesichtige Antlitz alles Menschlichen ward niemals noch so bis in den Grund durchschaut wie in den Sonetten »Die Zwillingsbrüder« (Privatdruck 1908).
Und wieder, in einem ewigen Gegenspiel der Kräfte, steigt vor dem Zwiespalt der um Erkenntnis Ringenden, durch tausend Spiegelungen ihrer selbst beirrten Seele das »uraltmenschliche Glück« empor, ländlich zu leben und die Gebote der Erde zu halten. »Der Landbau«, eine Elegie als Epistel an Hugo v. Hofmannsthal (1909), preist durch den Wechsel der Jahreszeiten begleitend das enge Geschick des Gesegneten, der »die Götter bedürftig verehrt.« – Die Scholle wächst und wird zum Land der Väter wie sie zum Land der Kinder wird; es wachsen aus der Einsamkeit, der dunkeln Gesetzlosigkeit der Seele Bindung und Pflichten einer menschlichen Gemeinsamkeit gegenüber, einer Gemeinsamkeit, die zum Begriff der Nation sich weitet. Die »Deutschen Oden« (1910) handeln von der Würde der Nation, die immer auch eine Würde des Einzelnen ist – sie sind voll eines prophetischen Kummers einer Zeit gegenüber, die sich in einem Besitz gesichert wähnte, der unsichtbar ihr unter den Händen zerrann. Jede Zeile dieser Oden, vier Jahre vor dem Krieg erschienenen, ist dunkel überhängt von seinem[190] Schatten – rein ist sein Schicksal allein aus seiner innern Notwendigkeit heraus erkannt.
Schröders letzter großer Versband ist, »Widmungen und Opfer« betitelt, 1925 als Druck der Bremer Presse erschienen. Es sind zu einer großen Zusammenkunft Gestalten und Schatten geladen, Mitwandernde einst und Wegbestimmende: solche, von deren Bruderschaft man wieder genesen kann, und jene, die man liebt, »wie man Unsterbliche liebt.« Leben, wie es vom Widerspiel der Kraft getrieben, antithetisch bestimmt, schließlich den ganzen Umkreis des Menschlichen durchlaufen hat, schwillt hier an als eine große Symphonie, aus jenen einzelnen Stimmen zusammenrauschend, »Lust und Zwang in eines schmelzend.« Die strenge Form des Sonettes weicht, wie überströmend von einer ihr unfaßbaren Fülle, der offneren der Ode, der Elegie, dem großen strophischen Gedicht.
So wenig von Schröders Dichtung ausgesagt wäre, mäße man sie allein nach der formalen Leistung, die eine ungeheure, im »geistigen Raum« der deutschen Sprache unvergleichliche ist, – so wenig wäre auch von ihr mitgeteilt, wenn, wie es bisher hier geschehen ist, die Darstellung auf ihren geistig-sittlichen Gehalt sich beschränkte. Denn beides, Geist und Form, sind in Schröders Dichtung im höchsten Sinne eins: der Geist ist Form geworden, die Form ist Geist. Es sei erlaubt, nocheinmal auf das Gleichnis des Eingangs zurückzugreifen: auf das Gesetz des Kristalles, der allein aus der Einheit seiner physikalischen Eigenschaften und seiner Form sich erhält. Schröders Gedichte leben aus einer gleichen reinen Spannung,[191] einer völligen Ausgewogenheit, die sie unberührbar macht. Das Fehlen jeden Epigonentums um sie herum beweist sie, das überall da der großen Leistung sich beigesellt, wo nur ein Gran von Stil, der sich nicht »band«, eine geringe Spur von Übergewicht des Formalen den Einbruch möglich machen. Diese Spannung als Grundgesetz läßt jedem einzelnen Gedicht, jedem einzelnen Zyklus von Gedichten zugleich die Freiheit des für sich allein Bestehenden, nur in sich selbst Gebundenen: Schröders Dichtung umfaßt alle Möglichkeiten sprachlichen Ausdrucks von der fließenden Leichtigkeit des Liedes bis zu der lapidaren Wucht der Sonette, dem orphisch dunkeln Gesang der Oden. In den Gedichten des »Elysium« ist die Sprache, vollkommen durchsichtig und fast karg in ihrer Konstruktion, nahe an die Grenze des Musikalischen herangeführt: ihre episch-logische Bewegung ist auf eine unerklärliche Weise der Wiedergabe eines von allen Fesseln der Kausalität befreiten Zuständlichen dienstbar gemacht.
Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß Schröders formale Begabung in Deutschland ihresgleichen nicht hat und niemals hatte. Es ergibt sich mit Selbstverständlichkeit, daß, wo sie der sprachlichen Nachschöpfung sich zuwendet, sie eine große Vollkommenheit der Leistung erreichen muß. Wo aber dem Künstlerisch-Kritischen so untrennbar das Dichterische verschwistert ist, da wird das Werk der fremden Sprache dem eignen Volk gewonnen wie ein Besitz aus angestammten Rechten. Die deutsche Sprache besitzt so, von Schröder als Eigentum[192] ihr zugebracht, die »Odysse«, Teile der »Ilias«, sie besitzt Oden und Satiren des Horaz als einen lebendigen, zuweilen erstaunlich beziehungsreichen Besitz. Übertragungen von Vergils »Georgika« und den »Eklogen«, Ciceros Gespräch des ältern Cato »Über das Greisenalter« (beide im Verlag der Bremer Presse erschienen) sind betont der Animosität einer gewissen philologischen Strömung gegenübergestellt, die voll einer unfruchtbaren Überheblichkeit die Leistungen der klassischen Latinität allenfalls als pädagogisches Seminar für das Verständnis der Griechen will gelten lassen.
Gleichfalls als Druck der Bremer Presse vor kurzem erschienen ist eine Sammlung Gedichte von Geerten Gossaert, – in Holland, wo Gossaert an der Utrechter Universität lehrt, unter dem mehr als bescheidenen Titel »Experimenten« zusammengefaßt – von Schröder ins Deutsche übertragen. Es bedarf im Grunde nur dieser Tatsache, daß Schröders dichterischer Impuls an Gossaerts Gedichten sich entzündete, um damit schon gesagt zu haben, wie außerordentlich die Strophen Gossaerts sind. Das flämische Sprachgebiet, literarisch so wenig fruchtbar und durch eine Verkettung von Umständen seiner größten Dichtung nur mittelbar teilhaftig, hat in Gossaert den wenigen Lyrikern von Weltgeltung einen Ebenbürtigen zur Seite gestellt. –
Es ist immer das Vorrecht des deutschen Volkes gewesen, seine »Dichter und Denker« nicht zu erkennen. So groß das persönliche Unrecht war, das den Betroffenen damit geschah, rückblickend will uns heute scheinen, als gleiche[193] in früheren Jahrhunderten diese Nicht-Beachtung in etwas auch der Fruchtbarkeit eines überschwänglich keimträchtigen Bodens, reich genug, sich dann und wann in ungenützten Früchten zu vergeuden. Heute ist dieser Boden dürr, daß, was aus ihm gedeiht, in sich eines übergroßen Kampfes um seine Selbstbehauptung bedarf, vor dem die Frage der Wirkung an Bedeutung verloren hat. Der geistige Mensch lebt heute absoluter als je, seine bloße geistige Existenz ist Entscheidung, die einer Teilnahme der Allgemeinheit niemals weniger bedurfte als heute. Niemals bedurfte die Allgemeinheit dieser Entscheidung mehr, als sie ihrer heute bedarf. Und also schiene es auch an der Zeit, Schröders Werk aus seiner bibliophilen Verzauberung zu erlösen, darin als Vorrecht Allzu-Weniger es Vielen vorenthalten bleibt.[194]
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