Sechstes Kapitel

[197] Wie der Graf seinen Argwohn übertrieb, so übertrieb Schwinger die Gutmütigkeit: er mutmaßte nicht einmal etwas Strafbares in der entdeckten Zusammenkunft, und in der festen Überredung, daß seinem Freunde Unrecht geschehe, tröstete er ihn unterwegs und ermahnte ihn zur gelassnen Ertragung eines Unglücks, das ihm Jakobs Bosheit und seine eignen Verdienste vermutlich zugezogen hätten. – »Durch Standhaftigkeit allein kannst du deine schadenfrohen Feinde demütigen: laß dir nicht eine Klage über dein Schicksal entwischen! Leide und freue dich ihnen zum Trotze über deine Leiden! Ein Kopf und so viele Tätigkeit, wie du besitzest, überwinden Feinde und Schicksal« – so sagte der gute Mann und ging mit ihm zu seines Vaters Hause hinein.

Er vermutete von seiten der Eltern einige sehr betrübte Auftritte, wenn er ihnen Heinrichs Verweisung ankündigen würde, und machte sich deshalb auf eine Trostpredigt gefaßt: wie erstaunte er, daß er mitten in seinen Tröstungen verstummte, als sich das Gesicht des alten Herrmanns immer mehr aufheiterte, je mehr er von dem gesprochnen Urteil über seinen Sohn erfuhr. Er ließ vor Freude Schwingern nicht ausreden, sondern fiel seinem Sohn um den Hals und rief in unaufhörlichem Vergnügen: »So ist mir's recht! so ist mir's gelegen! Nun kann etwas aus dir werden, Junge! Ich hab es dem Grafen mit dem Teufel Dank gewußt, daß er dich zu einem Stockfische machen wollte, wie er samt allen den Schlaraffengesichtern ist, die ihm den ganzen Tag die Pfoten küssen und den Rockzipfel lecken. Nun kann etwas aus dir werden. Fort mit dir, in die weite Welt! Wer da nicht klug wird, ist eine Gans von Hause aus: so ist dein Vater zum gescheiten Kerle geworden.« –

Schwingern drückte er so dankbar die Hand, als wenn er die[197] glücklichste Botschaft überbracht hätte, ließ ihm nicht Ruhe, bis er sich niedersetzte und eine Pfeife mit ihm zu rauchen versprach. »Nillchen«, rief er, »Nillchen!«

Nillchen antwortete nicht. Fama, die in solchen kleinen Städten nur in die Posaune zu hauchen braucht, um etwas, das in den verborgensten Kammern eines Hauses vorgefallen ist, zu jedermanns Wissenschaft zu bringen, hatte das Urteil des Grafen, so warm, als es aus seinem Munde hervordrang, in jedes Paar Ohren, das nicht taub war, von einem Ende des Städtchens bis zum andern ausgerufen, und das arme Nillchen, dem dieser Ruf auch in die Ohren geschallt hatte, sank in einem der Ohnmacht ähnlichen Schrecken dahin, als sie in der Küche – ihrem gewöhnlichen Zufluchtsort bei bedrängten Umständen – Schwingers Botschaft hörte. Kein schrecklicher Unglück konnte ihr in der Welt begegnen als eine solche Beschimpfung, und ihre Augen strömten wie aufgezogene Schleusen von ihrem weiblichen Tränenvorrate große Bäche dahin.

»Nillchen! Nillchen!« rief der Mann noch einmal voller Ungeduld, lief in die Küche und zog sie bei dem Arme in die Stube. Schwinger, als er ihre Betrübnis wahrnahm, setzte sich in Positur, seine Trostpredigt bei ihr anzubringen: allein der Mann hieß ihn schweigen. »Was da?« sprach er, »was trösten, betrüben und Possen! – Nillchen, ich habe heute große Freude an meinem Sohne erlebt: ich will mir mit dem Herrn da eine Güte dafür tun. Hier hast du einen ganzen Gulden: geh zum Apotheker und laß dir von seinem besten Weine und von seinem besten Knaster soviel geben, als er dir dafür geben kann: und zwei Pfeifen, so lang wie ich! Der Tag ist so gut wie dein Geburtstag, Heinrich. – Und Nillchen!« fuhr er fort, als er sie schluchzen hörte, »wenn du noch einmal so ein Gesicht machst und so grunzest und nicht gleich freundlich aussiehst wie ein Maikätzchen, mit dem Ohrzipfel nagle ich dich hier an den Tisch an. Geh, und komme gleich wieder!«

Schwinger wollte die Gasterei höflich verbitten: allein Herrmann versicherte ihm, daß er ihn einmal mitten in einer[198] Predigt öffentlich in der Kirche einen Schurken nennen wollte, wenn er sein Traktament nich annähme; und er mußte sich darein fügen.

Wein, Tabak und Pfeifen langten an, und das Gastgebot wurde eröffnet. Nillchen setzte sich in den Winkel, um ungestört ihrem Kummer nachzuhängen: ihr Mann foderte sie zum Trinken auf, sie schlug es seufzend aus. – »Nillchen!« fuhr er auf, »dich soll der Teufel holen, wenn du nicht in der Minute lustig wirst: dem Grafen zum Trotze soll's heute hoch bei uns zugehn. Herr Schwinger! Sie klimpern ja auf dem Klavier: spielen Sie auf! Nillchen soll mit mir tanzen.«

Schwinger wurde mit Gewalt zum Klavier geführt und ihm befohlen, einen lustigen, extralustigen Tanz zu spielen. Nillchen wollte entwischen: allein er faßte sie bei dem Arme, daß sie vor Schmerz schrie, und schleppte sie, die lange Pfeife im Munde, tanzend die Stube auf und nieder. Sie wollte nicht trinken, und er flößte ihr das Glas ein. Der goldne Trank tat seine Wirkung: sie fühlte ihr Herz um ein Glas Wein leichter und ging diesem Tröstungsmittel, nachdem sie es einmal gekostet hatte, so lange nach, bis ihr der Kopf so schwer wurde, als ihr vorher das Herz gewesen war. Der alte Herrmann hatte die ausgeleerte Flasche durch eine andre ersetzt, und die ganze Gesellschaft war aufgeräumt wie an einem Hochzeitstage. Schwinger wartete die Lustbarkeit nicht bis zum höchsten Grade des Vergnügens ab, sondern stahl sich hinweg, um einen Versuch zu machen, ob sich nicht bei der Gräfin für Heinrichen ein Reisegeld oder vielleicht gar eine kleine Pension auswirken ließ, wenigstens so lange, bis er sein Unterkommen gefunden hätte.

Auch war er in seinem Gesuche glücklich: er paßte gerade die Zeit ab, als die Gräfin von Tafel in ihr Zimmer ging, stellte sich ihr in den Weg und bat nur um einige Minuten Audienz. Die Gräfin, die bei dieser Unterredung eine Fürbitte für den exilierten Heinrich vermutete und besorgte, daß auch andre sie vermuten möchten, sah sich auf allen Seiten um, ob nicht etwa eine Kreatur von dem Maulesel in der Nähe sei, und da sich kein solches gefährliches Tier blicken[199] ließ, erlaubte sie ihm – aber noch immer nur verstohlnerweise –, sie in ihr Zimmer zu begleiten. Das Gespräch eröffnete sich zwar auch mit einigen, doch sehr gemäßigten Vorwürfen über Schwingers schlechte Aufsicht, doch gestund sie ihm selbst zu, daß ihr Gemahl sich in seinem Argwohne übereilt oder vielmehr von Heinrichs Feinden habe zur Übereilung verführen lassen. Der nämliche Mund, der dem Verwiesenen vorher in des Grafen Gegenwart alles Verdienst abgesprochen und zum unwürdigen Buben erniedrigte, stimmte itzt mit Schwingern in sein Lob ein: sie bedauerte ihn, hoffte, daß die Entfernung von seinen Feinden zu seinem Glücke gereichen werde, und als Schwinger auf den eigentlichen Punkt kam und sie um eine Beisteuer für ihn bat, so wurde sie durch seine Vorstellungen und seine Freundschaft für den jungen Menschen so gerührt, daß sie lebhaft wünschte, etwas zu seinem Fortkommen beitragen zu können. Schwinger fachte die glimmende Empfindlichkeit vollends an, dankte in seines Freundes Namen für ihre bisherigen Wohltaten mit vieler Beredsamkeit und setzte hinzu, daß er ihm ein kleines Monatsgeld aus seinem eignen Beutel bestimmt habe. Nun fing sie Feuer: sie hielt es für entehrend, daß der Informator eine Wohltätigkeit fortsetzen sollte, die sie angefangen hatte. – »Sie sollen ihm nichts geben«, sagte sie, »ich verbiete es Ihnen. Er soll das Monatsgeld von mir empfangen: hab ich so weit für ihn gesorgt, will ich's auch weiter tun. Aber es bleibt unter uns beiden: wenn ein Wort davon zu meines Gemahls Ohren kömmt, so hört die Wohltat auf.« –

Sie gab ihm darauf vier Louisdor Reisegeld für Heinrichen und die Versicherung ihrer Gnade, wenn sie der junge Mensch durch seine Aufführung verdienen werde: Schwinger bat um einen Tag Urlaub, um seinen Freund zu begleiten, erhielt ihn, doch unter der Bedingung, niemanden es merken zu lassen, schaffte, sobald alle Anhänger der Gegenpartei zu Bette waren, Heinrichs Sachen zu seinen Eltern, brachte die Nacht bei ihm zu, um ihn in aller Frühe in seiner Verweisung bis zum letzten Dorfe der Herrschaft zu begleiten.[200]

Bei Heinrichen wurden durch diese Güte alle Schmerzen der Trennung von neuem aufgewiegelt: sosehr ihn auch sein Vater durch Beispiel und Ermahnungen zur Lustigkeit ermunterte, so blieb er doch sprachlos, niedergeschlagen, und oft, wenn er's am wenigsten vermutete, überwältigte ihn die Betrübnis bis zu Tränen. Schwinger tat ihm den Vorschlag, sich nach Dresden zu wenden, weil er ihm an zwei dortige Freunde, beide Advokaten, Empfehlungsbriefe mitgeben könne, die ihm vorderhand, bis sich etwas Beßres fände, den Platz eines Schreibers verschaffen sollten: Heinrich, der einmal von der Baronesse gehört hatte, daß man sie nach Dresden tun wolle, ergriff den Vorschlag mit solcher Hastigkeit, daß Schwinger darüber stutzte. Der Vater war durch den Wein in die einwilligende Laune versetzt worden: die Mutter konnte vor Traurigkeit weder billigen noch verwerfen. Sie saß im Winkel, den Kopf niederhängend, und benetzte die netteltuchne Schürze mit ihren Zähren: der Alte saß am Tische, nickte und schnarchte: Schwinger schrieb die Briefe, und Heinrich, der sich nicht entschließen konnte, sich niederzulegen, saß tiefsinnig in einer andern Ecke: seine Einbildungskraft schweifte durch die Gefilde seines künftigen Glücks oder Unglücks und wurde nicht selten durch Intermezzos von Schluchzen und Weinen unterbrochen. Schwinger, als er mit seiner Arbeit fertig war, konnte auch zu keinem Schlafe gelangen und vermehrte die stumme, betrübte und nur silbenweise sprechende Gruppe durch eine neue stumme Person.

Um die Abschiedsszene weniger angreifend zu machen, wollte er die Mutter entfernen und dann heimlich mit ihm fortwischen: aber es war unmöglich. Als man sich zum Abmarsche in Bereitschaft setzte, fiel der alte Herrmann dem Sohne um den Hals. »Junge!« sagte er, »mach es wie dein Vater! Lebe in den Tag hinein und lerne nichts mehr, als du brauchst, um zu leben! Lerne eine Profession, ein Handwerk, eine Kunst, alles, was du willst und was du umsonst lernen kannst! Nur laß dir nicht den Satan durch den Kopf fahren, daß du ein Gelehrter oder ein vornehmes Tier werden[201] willst! Oder ich erkenne dich nicht für meinen Sohn. Ich bin aus meines Vaters Hause mit acht Groschen gegangen und fortgekommen: ich gebe dir sechzehn; und du bist nicht wert, daß dich die Sonne bescheint, wenn du über Not klagst. Nimm dich vor vornehmen Leuten und Dummköpfen in acht: geh ihnen aus dem Wege wie dein Vater! Nun packe dich und leb wohl!«

Die Mutter konnte den Abschied nicht aushalten und wollte sich in die Küche begeben: doch ihr Mann zog sie zurück. »Nillchen«, rief er mit drohendem Finger, »wenn du nicht gleich lachst, so prügle ich dich wie eine Korngabe. Lache! sag ich dir.« – Sie wurde erbittert, riß sich los und wanderte in die Küche, dem Sammelplatze ihrer Tränen.

Unterwegs stellte ihm Schwinger das Reisegeld der Gräfin zu, doch ohne etwas von dem versprochnen Monatsgelde zu entdecken: auf dem Dorfe, wo sie scheiden wollten, erkundigte er sich nach der Post, bezahlte einen Platz für ihn und wies ihm eine Stube an, wo er ein paar Tage warten sollte, bis sie abgehen würde. Nachmittags schlich er sich davon:

den Schmerz des Abschiedes traute er sich nicht auszuhalten. Auf dem Rückwege faßte er den Entschluß, Heinrichen, sobald er eine Pfarrstelle haben würde, zu sich zu nehmen;und mit diesem Vorsatze ging er ins Schloß wie ein Witwer ins Trauerhaus zurück.

Schwinger hatte bei Heinrichen eine Betrübnis bemerkt, die er anfangs auf niemanden als auf sich selbst zog: noch bei dem Abschiede trug er ein außerordentliches Verlangen, wenigstens auf ein paar Minuten wieder ins Schloß zurückkehren zu dürfen: er wünschte das mit so vieler Sehnsucht und so zitternder Ängstlichkeit, daß Schwinger selbst nunmehr Argwohn schöpfte: doch da seine wiederholten Fragen nichts Bestimmtes aus ihm herauszubringen vermochten, so maß er's derjenigen Liebe bei, die ein Ort für sich in uns erweckt, an welchem man sich die ersten sechzehn Jahre seines Lebens wohl befunden hat. Du guter Schwinger! Dem Orte gehörte nicht der zwanzigste Teil des Schmerzes: Ulrike und die verhinderte Flucht mit ihr war der ganze verborgene[202] Kummer. Indessen gab der Verwiesene den Plan noch nicht auf: mit der schmeichelnden Aussicht, daß sie nach Dresden zu einer alten Anverwandtin kommen, daß er dort zu einem Glücke gelangen und es mit ihr teilen werde – mit tausend solchen Hoffnungen, denen nur ein sechzehnjähriger, der Welt unkundiger Mensch einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit geben kann, stieg er auf die Post! Der Postknecht schwang die Peitsche, und die Reise ging fort.[203]

Quelle:
Johann Karl Wezel: Hermann und Ulrike. Leipzig 1980, S. 197-204,206.
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