Siebentes Kapitel

[262] Itzt hatte er unter so mancherlei Freuden, Ängstlichkeiten, Täuschungen, Hoffnungen, Arbeit und Kummer einen ganzen Winter in Dresden zugebracht, Ulriken sehnlich erwartet, und noch war sie nicht da, wenigstens nicht für ihn da, weil er sie nicht zu finden wußte. Der Frühling erschien, und noch hatte er sie nicht gefunden. Mit dem Aufleben der Natur wachten auch seine Triebe und Tätigkeit zu ihrer alten Stärke auf: das Aktenschreiben wurde ihm auf einmal eine Last, die wie ein Alpengebirge drückte: die Einsperrung, die er bei der Erstorbenheit des Winters nur wenig fühlte, machte itzt seine Stube zum Gefängnis: die ganze Welt wurde ihm zu enge. Die Frau mochte rufen und schreien, soviel sie[262] wollte – seine Feder ruhte: sie mochte noch sooft fragen, wohin er ginge – er ging: sie mochte schelten, drohen und strafen – er achtete nichts, widersprach ihr mutig und behauptete hartnäckig die Freiheit, ausgehn zu können, wenn es ihm beliebte, und der Doktor unterstützte seine Ansprüche, soviel er vermochte. Er schweifte wieder herum wie ein Papilion, der aus der zersprengten Hülle eben hervorgeflattert ist: er freute sich der muntern Saat, des hervorbrechenden Laubes, der wirtschaftlichen Tätigkeit in Feldern und Weinbergen, der allgemeinen Emsigkeit, die ihm aus der reizenden Landschaft ein Paradies machte.

Bei allen Freuden trug er doch eine Unruhe mit sich herum, die ihn überredete, daß er unter allen diesen wirksamen Geschöpfen das unglücklichste sei: er beneidete die Ackersleute, die so vergnügt mit lautem Pfeifen hinter dem Pfluge dreinschritten, mit niemandem unzufrieden als mit ihren Pferden: ein Trupp froher Landmädchen, die mit froher Geschäftigkeit den Acker reinigten oder lachend und scherzend ein andres Geschäfte verrichteten, versetzte ihn in Traurigkeit, und ein Bauerkerl, der mit einer dickstämmigen Dorfvenus schäkerte, erregte seine Galle.

Sein Weg führte ihn an einem heitern, sonnichten Nachmittage durch die Felder nach dem Plauenschen Grunde hin, den er itzt zum ersten Male kennenlernte: er folgte, ohne es recht zu wollen, der Menge Menschen, die eben damals ihren Spaziergang dorthin taten. In sich vertieft, wurde er allmählich von einem nahenden Wassergeräusche erweckt, und ringsum betäubte ihn das Konzert rauschender Wasserstürze klappernder Mühlen und des herabschießenden Flößholzes, das in den schäumenden Strudel mit hohlem Getöse hineinstürzte, verschwand, weit jenseit des Schaumes wieder langsam emporkam und sanft dahinschwamm. Auf einer Seite nackte Felsen, auf der andern Berge mit Gesträuch und Busch, vor sich eine Fläche mit Holz, wie mit schwimmenden Nachen bedeckt – es schien ihm der Eingang in den Wohnsitz eines Gottes zu sein: er ging längst den Felsen hin, und seine begleitenden Spaziergänger verließen ihn schon,[263] als wenn sie sich nicht in das Heiligtum der Natur getrauten. Er trat auf die zweite Brücke, und vor ihm stand ein Amphitheater, das in der Schöpfung nur einmal wurde. Auf der linken Seite dunkelbraune, glattgeschnittne Felsenwände, schief wie Kulissen einer Schaubühne hintereinandergestellt, aus dem Flusse, der sich an ihrem Fuße in wirbelnden Wallungen bricht, zu den Wolken gerade emporsteigend; rechts am Flusse der phantastisch geschlungne Weg mit strauchichten, rauhen Bergen, die mit den Felsenwänden sich zu vereinigen scheinen, um die Szene zu schließen; in der Mitte das ausgespannte Wasser; im Rücken und vorwärts Brausen und Getöse bald in leisen Pianos, bald mit der angestrengtesten Stärke, in wechselnden Solos und betäubenden Chören – er staunte, mit melancholischem Schauer verweilte er bei dem herrlichen Anblicke, in tiefer Empfindung verloren, und nur mit Mühe riß er sich los. Auch hier schien er noch mehr von den Menschen Abschied zu nehmen: der größte Teil ging zurück, und nur zwei Einsame folgten ihm in verschiedenen Entfernungen, so tiefsinnig, als wenn sie eine Not in diesen Grund tragen oder eine Geliebte in ihm suchen wollten. Durch vielfache Wendungen des auf– und niedersteigenden Wegs ging er, den Fluß unaufhörlich zur Linken, unter fernem und nahem Wassergetöse dahin: itzt stiegen jenseit des sprudelnden Stroms zween waldichte Berge empor, boten sich freundschaftlich die Arme und ließen unter ihnen eine breite aufsteigende Kluft – er sah in ihr hinauf und erblickte Gebäude: bald lehnte zur Rechten ein öder, unfruchtbarer, zerrissner Bergrücken mit fauler Bequemlichkeit da und trug auf seinen Schultern ein Dorf, von welchem Häuser, Leimwände und Strohdächer einzeln und in Gruppen über die Bergkrümmungen herabschielten: itzt schloß sich die Aussicht ganz, er glaubte in einer weiten Felsenhöhle zu sein, aus welcher ein Fluß strömte – plötzlich wand sich der Weg um einen hervorstehenden Berg und öffnete ein breites, mit Birken rings umschlossnes Tal: itzt war diese Seite eine bergichte Wüste und jene ein lachender Hain, schnell wurde der Hain zum kahlen Felsengebirge und aus der Wüste ein bearbeiteter,[264] bepflanzter Berg: hier stunden längs am Wasser hin versilberte Weiden, in künstlichen Reihen gepflanzt, hinter ihnen im aufsteigenden Gebüsche herrschte die völlige Unordnung der Natur: dort lehnte am Fuß einer Steinklippe ein Gärtchen voll junger Obstbäume, in weiße, blinkende Stäbe eingezäunt, dort hing eins, vom zerrissnen Dornzaune umgeben, mitten an einem schroffichten, dürren Berge, und mühsam schwebte dort zwischen Steinen ein arbeitsames Weib und behackte mit weitausgeholtem Schlage, der Natur zum Trotz, ein Beetchen für die kleinen Bedürfnisse ihrer Tafel: ihre Kinder klimmten auf Händen und Füßen an den vielzackichten Felsen hinan, während daß die ältern Brüder sich schon auf der äußersten Spitze wiegten und mit lautem Händeklatschen der furchtsamen Schwestern lachten, wenn sie mit den ausweichenden Steinen weit zurückgleiteten und schrien, als wenn's dem jungen Leben gölte, ewig kletterten und ewig zurücktaumelten.

Der Schauplatz war leer, still, melancholisch tot, nichts als das fortwährende Geräusch des strudelnden Wassers hörbar – hie und da eine klappernde Mühle, selten ein vorüberschießender Landmann, der aus der Stadt zur wartenden Familie zurückeilte oder betrübt dem Arzt die Bezahlung für seine gestorbne Hausfrau hineintrug, noch seltner ein langsam wandelnder Fruchtwagen! – außer diesen Unterbrechungen lag hier unter dem engen Horizonte die tiefste Einsamkeit ausgebreitet: Schweigen und Brausen war ihre Sprache – eine Sprache, die so tief in Herrmanns Herze eindrang, daß ihm schauerte: mit Zittern und Furcht stand er da, die Einsamkeit fesselte ihn an, und die Furcht drängte ihn von ihr hinweg: er suchte eine Anhöhe, stieg aus dem frischen Schatten zu ihr hinan und schaute aus dem Sonnenglanze in die düstere Tiefe, das einzige Meisterstück der Natur, hinab. Auch die beiden Spaziergänger, die ihm anfangs folgten, waren umgekehrt, der Träumer ganz allein.

»O wie ist dies Tal so still und wie mein Herz so unruhig!« – war sein erster Ausruf, als er eine Weile ernsthaft hinabgesehn hatte. – »Von Leidenschaften gepeinigt, gepeitscht[265] wie der Strudel, der hier vor mit schäumt! – So soll ich dann ewig im Staube mich wälzen, ewig ein unwirksamer Nichtsnütziger bleiben? nimmermehr eine Tat tun, die mir nur einen Kranz der Ehre erwirbt? durchs Leben dahinschleichen, mir immer helfen lassen und niemandem helfen können? ein Lastträger in der Welt sein, zu den niedrigsten Arbeiten verdammt? – O die glücklichen Sterblichen, die Antonine, die Aurele und die gleich ihnen sich den Dank einer halben Welt und aller künftigen Zeiten verdienen konnten! Warum mußte ich nun der einzige sein, der in rühmlicher Tätigkeit gern alle Adern seines Leibes zersprengen möchte und doch wie ein Ackergaul im langweiligen Karren ziehen soll? – Das Herz möchte mir springen vor überströmender Wirksamkeit; und da sitz ich, angefesselt am Blocke, muß dienen und arbeiten und sehe dessen kein Ende: kein Ende, wie ich's wünschte! Was hilft's, wenn ich jahrelang mich um den kümmerlichen Bissen Nahrung quäle? – ich bleibe doch ein Verachteter, ein Auswurf der Menschheit, der nie besitzen darf, was er liebt: Ulrike bleibt doch ein unerringbares Gut, nach dem ich nicht einmal ohne Beschimpfung sterben kann. Sie wird mich vergessen lernen, weil sie sich meiner nicht erinnern darf: sie wird mich verachten, weil man ihr die Liebe verwehrt. – Aber ich muß meinem Schicksal entgegenarbeiten! ich muß mich stemmen, ihm trotzen und wider seinen Willen erlangen, was ich will. – Fort mit mir, so weit mich meine Füße tragen! Wo das Land fehlt, mag es ein Schiff tun! Entweder alles, was ich wünsche, oder gar nichts! Mag ich auf dem Lande oder im Meere umkommen! es kömmt doch immer nur ein Elender um, den niemand beklagt, weil ihn niemand kennt.« –

Er sprang auf, eilte die Anhöhe herab mit allen Bewegungen trostloser Wut, daß ihm der losgetretene Kies haufenweise nachrollte, ging mit heftigen Schritten am Wasser zurück: Höhlen, Klüfte, Büsche, Felsen, alles war für ihn vernichtet, selbst die Musik des Wassers nicht hörbar für ihn: alle Sinne hatten sich auf den einzigen Punkt seiner Seele zurückgezogen, wo seine unbefriedigte Ehrbegierde nagte: sein einziger[266] Gedanke war: ›Ich bin der unglücklichste Sterbliche‹ – und seine ganze Empfindung bestund in dem schmerzlichen Gefühle seiner Unglückseligkeit. Den Kopf voll so schwarzer Schatten, wie die Felsen um ihn über das Tal deckten, das nämliche Getöse, Brausen und Rauschen in allen seinen Adern, wie von dem dahinschießenden Flusse in den Felsen widerhallte, in der entsetzlichsten, menschenfeindlichsten Stimmung des Geistes, langte er bei der großen Mühle an: unter dem Getöse des Wassers, das über die Räder dahinstürzte, schallten Menschenstimmen, lautes mutiges Gelächter hervor – er hätte umkehren mögen, so zurückscheuchend, so abstoßend war für ihn der Ton. Er schlug die Augen auf und erblickte Menschengesichter, zwei gutgekleidete Frauenzimmer, die an der Mühle saßen, eine ältliche Dame, die zurückgelehnt schlief, und eine junge, die mit einem Stäbchen im Sande spielte. – ›O des widrigen Anblicks!‹ dachte er, ›wie die Ruhe aus dem schlafenden Gesichte lacht, wie das Mädchen so zufrieden tändelt! Ist denn so viel Glück auf der Erde, daß man so zufrieden sein kann?‹ – Mit neidischer Bitterkeit dachte er es und kehrte das Gesicht von ihnen. Itzt war er vor ihnen: ein Rest von seiner verfinsterten Menschenliebe lenkte seine Augen auf die Damen: die junge sah auf, beider Blick blieb aufeinander hängen – er stund – ging. – ›Wäre das nicht Ulrike? – Sie ist es!‹ – Seine täuschende Einbildung ließ ihn zweimal das Zischeln ihrer Stimme hören – itzt schon wieder! – itzt hörte er gar seinen Namen nennen! – sein Traum zwang ihn umzukehren. Die junge Dame stund auf, und noch war er vier völlige Schritte von ihr, als sie auf ihn hervorschoß, mit beiden Armen um seinen Hals! Da standen sie beide, fest umklammert, als wenn eine Gottheit sie zu freundschaftlichen Bäumen einwurzeln ließ! Keins sprach, keins bewegte sich. Ein Mühlbursch, der an der Tür lehnte und die stumme Umarmung mit ansah, glaubte sich aus Pflicht verbunden, die alte Dame zu wecken, zupfte sie am Ärmel und zeigte, als sie schnarchend auffuhr, mit dem Finger nach dem umarmten Paare. Die Alte ergriff den Spazierstock, der neben ihr lag, wackelte mit schlaftrunkner[267] Eilfertigkeit hin und riß an Ulriken mit solcher Gewalt, daß sie beiden die Erschütterung eines elektrischen Schlages mitteilte: ihre Stärke reichte nicht zu, sie zu trennen, sondern sie mußte den Mühlburschen zu Hülfe rufen. Durch Vermittelung seiner nervichten Hände brachte er sie auseinander, faßte, auf Befehl der Alten, die Baronesse in seine bestaubten Arme und trug sie in die Mühle, ohne der häufigen Hiebe zu achten, die ihm Ulrikens Unwille mit der Faust auf die breite Nase versetzte. Heinrich fiel ihm ohne Anstand in den Rücken und schlug auf ihn los, daß eine dicke Mehlwolke aus der grauen Jacke herausfuhr: alles umsonst! der Bursche ließ seine Beute nicht fahren. Heinrich, in seinem Zorne, gerade auf die alte Dame los! doch wie er sich nach ihr wandte, hielt sie hinter seinem Rücken ihren Rückzug in die Mühle – schnapp! war die Tür verschlossen.

Was zu tun? Den sämtlichen Mühltruppen zu widerstehn, fühlte er sich zu schwach: auch schien ihm Gewalt überhaupt zu nichts nütze. Kurz bedacht, entschloß er sich voranzugehn, um den Weg zu gewinnen und dann in einer kleinen Entfernung hinter Ulriken in die Stadt zu schleichen und so ihre Wohnung zu erfahren. »Wenn ich nur diese weiß«, sagte er sich, »dann sollen mich Millionen Mühlbursche und Tanten und Vettern nicht abhalten!« – Er setzte sich in den Marsch und wanderte mit so behenden Schritten, daß er sich kein einziges Mal umsah, ob ihm Ulrike folgte. Erst in einer kleinen Entfernung vom Schlage sah er eine Kutsche hinter ihm dreinwackeln, die er für dieselbe erkannte, welche nicht weit von dem Schauplatze seiner Wiedererkennung hielt: er erblickte die Baronesse darinne, verdrießlich in einen Winkel gedrückt; und nun wanderte er mutig hinterdrein. Sobald der Kutscher auf dem Pflaster war, schlug er die Pferde an, sie trabten dahin, um eine Ecke hinum – weg war die Kutsche! und erschien auch nicht wieder: wie wehe das tat!

Seine Bekanntschaft mit Betteljungen hatte sich seit seiner Ankunft in Dresden nicht verringert! sie paßten ihm in der Nachbarschaft auf, um ihm ihr Anliegen zu entdecken, wenn[268] er ausging oder nach Hause kam, und genossen auf diese Weise den größten Teil seines Taschengeldes. Einer von diesen Pensionären fand sich auch itzo bei ihm ein, als er, voll wichtiger Überlegungen, die Gasse heraufkam, und bat um eine kleine Gabe zur Abendmahlzeit. Der Bursch erregte bei seinem Wohltäter eine Idee, daß er ihm zu folgen befahl: als sie im Hause anlangten, beschrieb ihm Heinrich die Equipage, mit welcher er Ulriken hatte fahren sehn, umständlich und fragte, ob er sie nicht kennte. – »O ich kenne alle Kutschen und Mistwagen in der ganzen Stadt«, fing der Junge an, »aber die Equipage kenn ich nicht.« – »Nicht?« fragte Heinrich erschrocken. – »Halt!« hub der Junge von neuem an und verbesserte Heinrichs Beschreibung in vielen Umständen, »war sie nicht so?« – »Völlig so!« rief Heinrich entzückt. – »Ach, die kenn ich genau!« war die Antwort, »ich bin so manch liebes Mal in meinem Leben mit ihr gefahren, wenn kein Bedienter hintenaufstund. Sie gehört einer alten Schnattergans; Gott und ihr Vater werden's wissen, wie sie heißt: es fährt immer ein kleines lustiges Ding mit ihr, wir Jungen nennen sie nur das Baroneßchen –«

Heinrich fiel ihm um den Hals. – »Die kennst du?« redete er in ihn hinein.

»Ach, das ist meine Herzensfreundin«, sprach der Bursch. »Ihre Fenster gehen in ein kleines Gäßchen: nun lassen Sie sich einmal sagen! Da treten wir hin und singen ein Liedchen – etwa ›Mein Schätzel ist ein gutes Kind‹ oder so was, und da wirft sie uns Geld herunter, und da nehmen wir's und machen recht tiefe Bücklinge: da will sie sich zum Narren lachen.«

Heinrich. Liebster, bester Freund! kannst du ihr nicht einen Brief heimlich zustecken?

Der Junge. Oh, sechse für einen! das alte Gespenst, bei der sie wohnt, paßt zwar auf wie ein Flurschütze. Man darf ihr nicht einen Schritt zu nahe kommen, so flucht sie wie ein Teufel. Sie reißt das arme Nüßchen herum wie einen Wischlappen –

»Das häßliche Weib!« rief Heinrich und knirschte.[269]

»Aber lassen Sie sich nur sagen!« fuhr jener fort, »ich will den alten Bootsknecht schon anführen: ich schleiche mich zur Tür des Baroneßchen und bitte, und wenn sie mir etwas gibt, schenk ich ihr mein Briefchen heimlich dafür. Unsereins versteht das schon.« –

Er wurde morgen früh auf den nämlichen Platz bestellt, wo die heutige Unterredung gehalten worden war, die sich mit Versprechung eines ansehnlichen Trinkgeldes endigte, und der glückliche Heinrich ging stolz die Treppe hinan: er wandelte in den Lüften, und sein Scheitel berührte vor Übermut die Sterne.

Die Doktorin empfing ihn mit ihren gewöhnlichen überhäuften Fragen und bekam nichts als lakonische Antworten: sein Glück schwellte ihn auf: das ganze alltägliche Leben um ihn her, alles, wovon und was man mit ihm sprach, war tief unter der Stimmung seiner Seele: er dünkte sich ein Gott, für welchen sterbliche Beschäftigungen und Reden des gewöhnlichen Gesprächs zu gering waren. Mit so erhöhtem Fluge der Gedanken und Empfindungen, als wenn er im Äther selbst schwebte, setzte er sich an den Tisch, um seinen Brief zu schreiben: seine Aufseherin, die nicht wußte, was er schrieb, lobte ihn mit vollem Halse über seinen Fleiß, daß er sich sogleich zur Arbeit kehrte und das Versäumte wieder einzubringen suchte. Wie ihm das Lob widrig schmeckte! Er hätte ihr vor Zorn an den Kopf fliegen mögen. Wen muß ein solcher Beifall über so nichtswerte Dinge wie Aktenschreiben nicht beleidigen, wenn man so überglücklich, so erhaben über sich selbst ist, als er sich in dem Augenblicke fühlte?

Er schrieb in sehr langer Zeit ein sehr kleines Billett; denn bei jedem Worte flogen seine Gedanken mit ihm davon, schweiften unter Projekten zu öftern Zusammenkünften, zu Entfliehungen und andern Mitteln, das Glück des Wiederfindens so gut als möglich zu nützen und sich Ulrikens Besitz zu versichern, herum, und über den unendlichen Gedankenwanderungen verschrieb er sich so vielfältig, daß kein Menschenverstand in dem Geschriebenen war, wenn er es[270] durchlas: immer deuchte ihm, daß er noch etwas zu sagen hätte und nun noch etwas – er sann nach, und dort lief sein Kopf mit ihm davon! Er schloß – aber beim Jupiter! gerade das Wichtigste vergessen! Sonach bekam sein Brief sechs Schlüsse, und durch das öftre Wegwerfen der völlig unverständlichen Exemplare hatte er das Abendessen versäumt und Mitternacht herangebracht; und doch enthielt das Billettchen nichts als eine Nachricht von seiner Wohnung und eine Bitte, den Briefwechsel durch den Überbringer fortzusetzen und ihm bald zu einer Zusammenkunft zu verhelfen. Hier ist es, nach seiner Handschrift genau abgeschrieben.


Liebe Ulrike,

liebste Ulrike, allerliebste Ulrike!

Ich bin außer mir. Schreibe mir heute noch. Ich weiß mich nicht vor übermenschlichem Glücke zu fassen. Ich bin bis in den Tod und in alle Ewigkeit

Dein aufrichtiger, ewig Dich zärtlich liebender

Heinrich.


N.S. Schreibe mir ja durch den Überbringer. Ich bin entzückt, über Sterne und Himmel bin ich tief, tief in die Seele entzückt, daß ich Dich wiederhabe. Der Überbringer ist ein Betteljunge. Schreibe mir ja oft durch ihn, alles, wie Dir's ergangen ist. Ich verbleibe lebenslang mit der größten Zärtlichkeit und Liebe und Freundschaft und Zärtlichkeit, ich kann Dir gar nicht schreiben, wie sehr ich bin

Dein getreuer unveränderlicher zärtlicher

Heinrich.


N.S. Wenn ich Dich nur oft, recht oft, alle Tage, alle Stunden, alle Minuten sehn könnte! Schreibe mir ja! Der Überbringer ist ein Bettler, der für ein Almosen unsern Briefwechsel besorgen wird. Lebe wohl, tausendmal wohl. Ach, daß ich nicht beständig bei Dir sein kann!

P.S. Ich wohne bei dem Doktor Nikasius. Ach Ulrike, ich sterbe vor Verlangen, wenn ich Dich nicht jeden Pulsschlag meines Lebens sehn kann. Glaube, daß ich bis in die Gruft und noch in jenem Leben Dich lieben werde. Aber ich kann[271] Dich nicht genug lieben. Ich küsse Dich in Gedanken tausendmillionenmal und möchte weinen, daß ich's nur in Gedanken tun muß. Ich verharre unausgesetzt

Dein getreuer, fest an Deinem Herze hängender

Heinrich.


N.S. Du wohnst in der Hölle bei einem Satan. Der Überbringer hat mir erzählt, daß Du bei einer Tante wohnst, die beständig flucht. Deine vermaledeite Tante geht mit Dir um, daß es mich jammert. O wenn ich dem zähnebleckenden Ungeheuer den Kopf spalten könnte! spalten!!!!! Es ist mir so weh ums Herze, daß ich Dir so nahe sein muß und nicht Ich verbleibe

Dein betrübter, tief gebeugter zärtlichstinnigstbrünstigstsehnlichstschmachtender

Heinrich.


Postscript. Wenn ich Dich nur einmal, nur ein allereinziges Mal sprechen könnte! Ich bin so melancholisch geworden, daß ich Blut weinen möchte.

Ich bin mit aller Hochachtung

Ihr gehorsamer Diener,

Heinr. Ch. Herrmann.


Den letzten Schluß schrieb er halb im Schlafe, und die Höflichkeit trat an die Stelle der Liebe. – Die unselige Liebe! was für schlechte Stilisten sie macht!

Nach langer, quälender Sehnsucht, die ihn jede fünf Minuten an das Fenster riß, erschien der Bote am Ende der Gasse! er lief die Treppe hinunter und nahm ihm folgenden Brief im Hause ab.


den 12. Junius.


Wie sehr ich mich gestern über unser plötzliches Wiederfinden gefreut habe, das weiß mein Herz und Dein eignes. Nach einer so langen, ewigen Trennung ist die Freude so voll, daß man von sich selbst nichts weiß. Aber lieber, lieber Heinrich! die Trennung ist noch nicht aus. Der Onkel hat der Oberstin, bei der ich itzo im Gefängnis sitze, auf das Leben[272] anbefohlen, mich keine Minute aus den Augen zu lassen; und sie kömmt dem Befehle so getreulich nach, daß sie mich lieber am Halse herumtrüge, wenn's sein könnte. Auf dem Spaziergange darf ich nur den Kopf zurückwenden, um zu sehn, wer hinter uns geht, oder auf die Seite kehren, um jemanden an einem Fenster zu beschauen, gleich geht das Unglück los. »Sapperment!« schreit sie, »wo gakeln Sie einmal mit den verfluchten Augen herum?« – Bald geh ich ihr zu langsam oder stehe wohl gar still, um etwas anzusehn: »In des Teufels Namen!« fängt sie an; »so heben Sie doch die infamen Knochen!« – Bald hab ich Langeweile und eile nach Hause. – »Daß Sie das Donnerwetter erschlüge mit Ihrem höllischen Rennen!« – und dabei reißt und stößt und wirft sie mich herum wie ihr Spaniol, wenn sie eine Prise nimmt. So eine widerliche Frau kann gar nicht mehr auf der Erde sein: ihr Mund und ihre Brust ist beständig mit gelbem Tabak überglasiert, und wenn sie mich mit den schmutzigen Fingern angreift, geht mir's allemal durch Mark und Bein. Als ich gestern, da wir bei der Mühle so übel angelassen wurden, nach Hause kam, hat sie mir recht mitgespielt: schon in der Mühle fluchte sie auf mich, daß die Balken zitterten; und zu Hause stieß und zerrte und warf sie mich so gewaltig herum, daß der Abdruck von ihren großen, gelben Tabaksfingern in Lebensgröße auf meinem weißen Kleide zurückgeblieben ist. Wir haben uns im Zimmer von einem Ende zum anderen herumgejagt: ich wollte mich durchaus nicht von ihr anrühren lassen, und sie kann doch nicht sechs Worte mit jemandem sprechen, besonders wenn sie böse ist, ohne daß sie nicht die Leute bei dem Arme oder an der Brust anpackt. – »Schmälen Sie, soviel Sie wollen!« rief ich immer und wehrte sie mit allen Händen von mir ab. »Greifen Sie mich nur nicht an!« – Sie hüpfte immer wie ein welscher Hahn mit aufgeschwollnem Kamme, und die Arme wie ein Paar Flügel ausgebreitet, auf mich los. »Sapperment!« schrie sie, »du Zeteraas! du wirst doch nicht die Pestilenz kriegen, wenn ich dich anrühre? Ich will dir die verfluchten Knochen zusammendrücken«: – und, Heinrich! nun packte sie zu! wie[273] ein Häscher packte sie zu und schüttelte mich, daß ich dachte, ich sollte das Fieber kriegen.

Sie muß dem Onkel alle Wochen einmal schreiben, wie ich mich aufführe; und sie hat heute schon den ganzen Vormittag geschmiert: Du kannst Dir leicht vorstellen, wovon. Nun werde ich ein saubres Briefchen vom Onkel über unsern gestrigen Vorfall erhalten. Schadet nichts! Ich bin des Ausschmälens so gewohnt wie des täglichen Brots. Ich singe, springe, hüpfe und bin lustig, sobald mir nur die Tante Sapperment vom Leibe ist: das wehrt sie mir auch nicht; denn wenn sie den Wurn kriegt, so geht's mit ihr selber über Tisch und Stühle weg. Wenn Fräulein Pimpelchen – den Namen hat ihr meine Tabakstante gegeben; denn das tut sie allen Leuten – und Fräulein Ripelchen und Mamsell Zieräffchen zu uns kommen, dann geht's buntüber: da wird geschrien und gelärmt, daß die Nachbarn neulich dachten, es wäre Feuer im Hause, und mannigmal ist der Staub so arg, daß wir einander an die Köpfe rennen und in die Augen greifen und nicht wissen, wo wir sind.

Zuweilen tut mir aber doch mitten in dem lustigen Leben mein Herz recht weh, wenn mir's einfällt, daß ich meiner Tante, der Gräfin, so viele Unruhe verursache. Du weißt gar nicht, wie der Graf mit ihr umgeht, seitdem Du weg bist: sonst war er doch höflich: aber itzt ist das alles aus. Er brummt den ganzen Tag: nichts kann sie ihm recht machen; und wenn sie vor ihm auf die Füße fiele, so fährt er sie doch an wie eine Viehmagd: ein paarmal trieb er's so arg, daß ich mich des Weinens nicht enthalten konnte; und dann ging ich mit der Gräfin in ihr Zimmer: eine Träne jagte immer die andre bei ihr: sie rang die Hände; sie konnte kein Wort reden: das schmerzte mich so tief in der Seele, daß ich zu dem Grafen unangemeldet ins Zimmer lief und ihm zu Füßen fiel und bat, er möchte meiner Tante nicht so übel begegnen. Kannst Du Dir einbilden, Heinrich? – Der Onkel war wirklich recht bestürzt und räusperte sich so kurzatmicht, wie er immer tut, wenn er sich nicht recht zu helfen weiß; er hub mich auf und drückte mir die Hand so ängstlich, als wenn's[274] ihm von Herzen leid täte: da trat der krummbeinichte Jakob ins Zimmer: gleich ließ mich der Graf fahren und sagte mir mit gebieterischem Tone: »Geh in dein Zimmer! Wenn du in Zukunft etwas mit mir zu sprechen hast, so weißt du, wo du dich vorher melden mußt. Führe sie fort!« sprach er zu seinem Jakob. Der Bube fletschte die Zähne und freute sich recht innig, daß ich so übel ankam: er faßte mich bei dem Arme, aber ich gab ihm einen so empfindlichen Nasenstüber, daß er mich fahren ließ und hell wie eine Trompete in seine beiden Tatzen hinein nieste.

Ich kann mir's gar nicht aus den Gedanken bringen, ob wir vielleicht an allem dem Unglücke schuld sein möchten: denn seitdem wir im Kabinette ertappt worden sind, hat es angefangen und nicht wieder aufgehört bis zu meiner Abreise nach Dresden. Die Gräfin hat uns ein paarmal verteidigt –

Ach! da hör ich unsern Boten betteln. Laß ihn morgen nachmittag wiederkommen. Lebe wohl.

Ulrike.


Den folgenden Morgen kam wirklich ein zweiter Brief an, der die Fortsetzung ihrer abgebrochnen Erzählung enthielt.


den 13. Jun.


Allerliebster Heinrich!

Tante Sapperment buchstabiert heute noch an ihrem Briefe: sie schreibt wie Onkels Reitknecht, den wir einmal behorchten, da er auf dem Futterkasten an seine Braut schrieb. »H-o-ch Hoch« – so buchstabiert sie laut vor sich, und wenn sie einmal drei Worte zusammengestoppelt hat, so liest sie sich's laut vor, um zu sehn, ob Verstand darinne ist; und dann ruft sie mich hundertmal und fragt mich: »Wie schreibt man denn das Wort? wie denn das?« – Sag ich ihr, wie ich glaube, daß es sein muß, so ist's ihr niemals recht. – »Sapperment! das ist ja falsch; das klingt ja nicht!« – da streitet, da zankt und flucht sie! und wenn ich ihr recht gebe, um nicht zu streiten, so sappermentiert sie wieder, daß ich ihr nicht helfen will. Mir ist es nunmehr desto lieber, je länger sie über ihren[275] Briefen zubringen muß: unterdessen kann ich ungestört an Dich schreiben; und zu meinem noch größern Vergnügen glaubt sie itzo sogar, daß ich nicht richtig buchstabieren kann, und fragt mich deswegen sehr selten um Rat, nur wenn der Bediente nicht zu Hause ist, der ihr besser zu raten weißweil es bei ihm allemal klingt, wenn er vorbuchstabiert, sagt sie. Du müßtest Dich zu Tode lachen, wenn Du einmal zuhorchtest, was für Zeug die beiden Leute zusammenbuchstabieren; und mitunter wird dann auf beiden Seiten ein gutes Stückchen geflucht. Der Bediente ist einmal Packknecht gewesen und spricht mit allen Leuten, als wenn's seine Pferde wären. Wenn er der Tante zuweilen zwei N oder M vorgesagt hat, so ist sie imstande, ein ganzes halbes Dutzend in einem Zuge hinzuschmieren: – »Oh!« schreit der Bediente wie zu einem Pferde, das stillstehn soll. – »Daß dich der Donner und das Wetter!« fährt die Tante grimmig auf und wischt die überflüssigen M mit der Zunge weg, »die verfluchten M laufen einem aus der Feder heraus, als wenn sie der Satan herausjagte. Nun hab ich gar die Wetteräser alle ausgewischt.« – »Ah! Ah!« spricht der Packknecht, »was blecken Sie denn die Zunge so lang heraus wie ein Kehrbesen?« – Dann fließt die Tinte auf dem nassen Papier zusammen: wieder ein Donnerwetter auf das Rackerpapier! dann wird ausgestrichen: daraus entsteht eine Donner-Blitz-Hagelssau. – »Da! Hans Pump!« ruft Tantchen dem Bedienten, »das verfluchte Schwein ist für mich zu groß«; und so schluckt es Hans Pump wie eine Auster mit Haut und Haar vom Papier weg.

Da haben wir's! da bettelt unser Briefträger schon. Schick ihn erst übermorgen und etwas später! Viel tausend Küsse von

Deiner Ulrike.


Der Termin war etwas weit hinausgeschoben; und den zweiten Tag darauf erst in der Dämmerung erschien der versprochne Brief: er war sehr eilfertig und unleserlich geschrieben.
[276]

den 15. Jun.


Lieber, lieber Heinrich!

Tante Sapperment ist zum Besuch: ich will Dir hurtig erzählen, was ich letzthin vergessen habe. Ich sagte Dir, daß es der Tante Gräfin itzt so übel geht, weil sie uns hat verteidigen wollen. Sie glaubt es nicht, daß wir die Absicht hatten, davonzugehn: aber der Graf läßt sich's nicht ausreden. Ich klagte Schwingern mein Herzeleid, daß ich glaubte, die Tante müßte um meinetwillen so viel ausstehn: allein er tröstete mich und versicherte, daß der Graf durch den schändlichen Jakob und seinen Vater wider sie aufgebracht wäre. Die abscheulichen Kreaturen können's nicht leiden, daß sie den Grafen zuweilen zu etwas bewegt, was ihnen nicht lieb ist: er soll durchaus nichts tun, was sie nicht angegeben haben. Er fürchtet sich auch vor ihnen wie unser Spitz vor der Tante Sapperment. Ich wäre noch lange nicht nach Dresden geschickt worden, wenn die beiden Schurken nicht so getrieben hätten: aber für diese Schurkerei bin ich ihnen herzlich verbunden. Ich rate auch noch eine andre Ursache, warum der Graf itzo noch so griesgramicht ist: eh' ich fortreiste, speisten fast alle Tage Advokaten, fremde Kaufleute und Bankiers bei uns: das geschah auch bei meinem Papa kurz vor seinem Tode; und wenn ich die Mama fragte, was die Leute alle wollten, so antwortete sie mir: »Wir müssen sie füttern, damit sie uns das Brot nicht nehmen.« – Ja, sie kehrten sich viel daran; denn da der Papa tot war, ließen sie uns nichts zu beißen noch zu brechen. – Ich gebe dem Briefe vier, fünf, sechs Küsse für Dich; nimm sie ihm ab!

Deine Ulrike.[277]

Quelle:
Johann Karl Wezel: Hermann und Ulrike. Leipzig 1980, S. 262-278.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

L'Arronge, Adolph

Hasemann's Töchter. Volksstück in 4 Akten

Hasemann's Töchter. Volksstück in 4 Akten

Als leichte Unterhaltung verhohlene Gesellschaftskritik

78 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon