Erstes Kapitel

[622] Gegen den Ausgang des Winters, mitten in dem blühendsten Spielerglücke, nach so vielfältigen vergeblichen Bemühungen, Ulrikens Aufenthalt auszuforschen, empfing Herrmann eines Abends einen Brief, dessen Aufschrift ihrer Hand sehr ähnlich war: allein weil eben einer von seinen Pointierern seinen Beutel bei ihm rein ausgeleert hatte und ein andrer auch schon anfing, die verdammten Karten, die niemals gewinnen wollten, mit den Zähnen zu zerreißen, und ein dritter nach seiner Gewohnheit, die er jedesmal bei einem großen Verluste beobachtete, unaufhörlich hustete und eine Prise nach der andern nahm; so steckte er den Brief in seine Tasche, wartete sein Glück bis um Mitternacht ab, trank in Arnolds Gesellschaft auf seiner Stube eine Schale Punsch aus, schlief ruhig bis um neun Uhr und dachte an keinen Brief. Bei seinem Erwachen fiel er ihm wieder ein: er zog ihn aus dem Kleide, das neben dem Bette an der Wand hing, und eröffnete ihn, im Bette sitzend. Welch ein Entsetzen, von Freude und Besorgnis begleitet, als er in der Unterschrift Ulrikens Namen las!


F**, den 4. Mai.


Lieber Heinrich!

Mit solchem Jammer wie itzt hab ich noch nie die Feder ergriffen, um an Dich zu schreiben: aber das weiß der Himmel! ich hatte auch nie solche Ursachen dazu wie itzt. Von Sorge und Bekümmernis abgezehrt, von Krankheit entkräftet, von der Furcht auf allen Tritten verfolgt, irre ich wie ein gescheuchter Vogel herum und kann mit Mühe eine Hütte finden, die mich vor Wind und Wetter schützt. – Gott! ist denn keine Barmherzigkeit für ein Mädchen, das liebte, wen es nicht lieben sollte? Gern will ich ja meinen Rücken der Strafe darbieten, wenn sie nur nicht ohne Ende sein soll: aber nein! ich kann ihr Ende niemals finden, so tief, tief bin ich in der Not versunken. Du lebst in der Freude, wie[622] man mir sagt; und wenn Freude und Kummer nicht anders unter uns ausgeteilt werden sollten, so tat das Schicksal wohl, daß es mir den Kummer zu tragen gab. Ich mache keinen Anspruch mehr auf die Freude; sie sei alle Dein; aber um Hülfe fleh ich, um ein Almosen, wie ein Bettler es bittet; und von wem kann ich's dreister fodern als von Dir? – Siehe mich nicht mehr als die Geliebte Deines Herzens an! Die Zeiten sind vorbei – nein, bloß als ein dürftiges, unglückliches Mädchen, das bald auch diesen Namen vor der Welt verlieren wird, wie es ihn schon längst vor seinem Gewissen verlor! Lies meine traurige Geschichte, und dann urteile, ob ein Geschöpf Hülfe verdient, das nicht durch Dich, sondern an Dir durch sich selbst, durch seine eigne Verblendung unglücklich wurde!

Auf Vignalis Verlangen verließ ich einige Stunden früher als Du ihr Haus: wir trafen uns in einem Dorfe, dessen Namen ich vergessen habe,13 und übernachteten in einem andern14 in einem Gasthofe miteinander: aber sosehr ich mit Dir zu reisen wünschte, so war mir's doch nicht möglich, mich vor Dir sehn zu lassen: ich glaube, ich wäre vor Scham versunken. Auch fürchtete ich Dich zu beleidigen, wenn ich Deinem letzten Briefe zuwiderhandelte: ich tröstete mich also mit der Hoffnung, die mir Vignali machte, Dich in Leipzig bei Madam Lafosse zu finden und mit Dir – aber ich mag es gar nicht ausschreiben, was sie mir alles überredete. Ich dachte wohl immer bei meiner Hoffnung: nein, das Glück wäre zu groß für dich! Du findest ihn gewiß nicht! – Wie gedacht, so geschehen. Ich komme nach Leipzig mit einem Briefe von Vignali: da war keine Madam Lafosse! Sie hatte einen Handschuhhändler in Dresden geheiratet. Ich erkundigte mich bei dem Manne, der mir die Nachricht gab – es war, glaub ich, der Hausknecht –, ob nicht ein junger Mensch, den ich ihm beschrieb, nach ihr gefragt habe. »Es ist mir so«, sagte der schläfrige Kerl. »Es fragen sehr oft junge Menschen nach ihr: wer kann sie alle behalten?« – Mit diesem Bescheide mußte ich vorliebnehmen. Ich fand nichts wahrscheinlicher,[623] als daß Du zu Madam Lafosse nach Dresden gereist wärst und dort auf mich wartetest: in der Hitze meines Verlangens dachte ich gar nicht daran, daß mich jemand in Dresden kannte, sondern trat ohne Bedenken die Reise an, ohne mehr als einen halben Tag in Leipzig zuzubringen. Nach meiner Ankunft begab ich mich gleich in einen Laden, wo man Handschuhe verkaufte, und fragte nach Madam Lafosse: niemand wollte sie kennen, bis ich endlich in einem erfuhr, daß sie seit zwei Tagen Madam Düpont hieß. Man zeigte mir ihre Wohnung an, und ich fand sie glücklich. Die Frau hatte kaum Vignalis Brief zur Hälfte gelesen, als sie mir schon die Backen klopfte und einmal über das andre rief: »Sie sollen ihn haben! Sie sollen ihn haben!« – Sie bot mir ihre Wohnung an, bis sich mein Amant, wie sie Dich beständig nannte, einstellen würde. Ich nahm das Anerbieten mit Freuden an, wartete viele Tage, aber Du kamst nicht. Der Verdruß übernahm mich: ich wollte schlechterdings unser Zusammentreffen erzwingen und hatte die Unbesonnenheit, auszugehn, um Dich aufzusuchen. Wo ich ging, war mir's, als wenn alle Leute stehnblieben und einander ins Ohr sagten: »Da ist sie wieder!« Bei manchen mochte es auch wahr sein; denn ich hatte viele Personen in Dresden ehemals gekannt. Auf einmal sehe ich den Bedienten der Tante Oberstin mir entgegenkommen: ich denke, der Blitz trifft mich, so erschrak ich über das fatale Gesicht. Ich kehrte mich zwar um, damit er hinter meinem Rücken weggehn sollte: es geschah: ich gehe meinen Weg fort, glaube, aus aller Gefahr zu sein, und eile, was ich kann, nach Hause, mit dem festen Vorsatze, bei Tage nicht wieder auszugehn: in der Türe seh ich mich um und werde gewahr, daß mir der Bösewicht nachgegangen ist. Nun war ich verraten.

Ich entdeckte mich Madame Düpont und bat sie, mir den Augenblick aus Dresden zu helfen: sie beruhigte mich und versicherte, daß ich bei ihr nichts zu fürchten hätte. Indem wir noch miteinander davon reden und über die Zukunft beratschlagen, höre ich einen Wagen vor der Tür halten: ich laufe voller Angst ans Fenster; und eben steigt Tante Sapperment[624] aus. Wie vor Todesschrecken falle ich der Madam Düpont um den Hals und bitte sie, mich zu verhehlen: sie versprach es, und ich sprang in die Kammer, riegelte die Türe zu und horchte. O wie fürchterlich klang in meinen Ohren der Tante Stimme, als sie hereintrat! Mir zitterten alle Glieder vor Entsetzen. Sie fragte in sehr bestimmten Ausdrücken nach mir: Madam Düpont versicherte Ihre Gnaden, daß sie unrecht angekommen sein müßten. Zum Unglücke hängt mein rosenfarbnes Kleid, das ich der Düpont gegeben hatte, um es zu verkaufen, auf einem Stuhle. »Wem ist das Kleid?« fing die Tante an. »Das kann nicht Ihnen gehören.« – Madam Düpont ist beinahe noch einmal so stark als ich. – »Nein«, antwortete sie, »es ist einer guten Freundin, die mich aus Leipzig besucht hat.« – »Wo ist die gute Freundin?« – »Ausgegangen.« – »Das ist eine Donner-Blitz-Hagelslüge. Das ist Ulrikens Taille und Größe. Mein Bedienter hat die Wetterhure bei Ihnen hereingehn sehn: gestehen Sie's. Sie haben den kreuzelementschen Nickel versteckt: gestehn Sie's! oder ich lasse Haussuchung bei Ihnen tun.« – »Das können Sie!« sagte die Düpont. Die Tante rasselte an der Türe, schloß mit dem Schlüssel auf und fluchte, daß es verriegelt war. »Es muß ja wohl da außen noch eine Tür in die sappermentsche Kammer gehen?« sagte sie, und ohne die Antwort abzuwarten, schritt sie aus der Stube hinaus und kam an die andre Tür der Kammer. In der Angst stecke ich mich in ein Vorhangsbette und vergrabe mich so tief, daß ich kaum atmen kann. Die Tür geht auf, die Tante kömmt herein und durchsucht alle Winkel; und die Düpont leidet alles so geduldig, als wenn sie vor der Tür bestochen worden wäre: ich glaub es auch. Endlich trifft die Reihe auch mein Bette: sie reißt die Vorhänge auf, will das Deckbette aufheben und fühlt Widerstand; denn ich zog es aus allen Kräften an mich. »Da ist das kreuzhagelsappermentische Donneraas!« rief sie und arbeitete mit beiden Fäusten so lange, bis sie mich packen konnte: ich wehrte mich wohl, sosehr es sich tun ließ, allein die Frau hat Löwenstärke: sie riß mich heraus, richtete mir den Kopf höchst unsanft in die[625] Höhe und sah mir ins Gesicht: ich schloß die Augen fest zu. – »Ja, du bist's ja!« rief sie, »du infamer, elementscher Wetterbalg!« – und mit diesen Worten peitschte ihre rechte Faust so unbarmherzig auf mein Gesicht los, daß mir zu einer Zeit die Tränen aus den Augen und das Blut aus der Nase stürzte. Ich war vor Bestürzung und Angst ohne Sinn und Stärke: ich ließ mich schleppen, stoßen und schlagen wie eine Elende, die in den Tod geführt werden soll. Ich rief Madam Düpont einigemal zu Hülfe, allein die Falsche ließ sich weder sehen noch hören. In dem kläglichsten Zustande wurde ich von der Oberstin und ihrem Bedienten die Treppe hinuntergebracht: ich widersetzte mich auch nicht, sondern stieg freiwillig in den Wagen; denn ich war so voll Verzweiflung, daß ich's darauf ankommen ließ, was man mit mir tun wollte.

Zu Hause brach erstlich der Sturm vollends aus: das war nichts als fluchen und sappermentieren: ich blieb stumm wie ein Stock und ließ auf mich hineintoben. Das war ihr wieder nicht gelegen: nun fluchte sie, daß ich nicht widersprechen wollte, damit sie desto mehr Ursache hätte, noch länger und heftiger zu rasen: zum Trotz tat ich ihr nicht den Gefallen. Die Fenster meiner Stube wurden vernagelt, die Türe den ganzen Tag verschlossen, und sie begleitete jedesmal in eigner Person den Bedienten, wenn er mir das Essen brachte. Hier steckte ich nun, eingesperrt wie eine wahre Gefangne, und wiederholte in Gedanken die Freuden und Bekümmernisse, die ich vor anderthalb Jahren in diesem Kerker hatte: ich wußte noch, auf welchem Flecke ich jeden Brief an Dich schrieb, wo ich mich gefreut und wo ich mich geängstigt hatte, wo ich den unglücklichen Schwur auf meine Verdammnis tat, nicht von Dir zu lassen – es lief mir ein eiskaltes Schaudern über den ganzen Leib, als die düstre Nachtlampe zum ersten Male auf dem kleinen Tischchen vor meinem Bette brannte und alles wieder so war wie vor anderthalb Jahren: aber die süßen Erscheinungen der Phantasie, die mich damals ergötzten, selbst indem sie mich quälten, waren vorbei: meine Seele hatte der Schmerz niedergedrückt: ich war nicht mehr das verliebte Mädchen, das sich durch Hindernisse[626] und Gefahren durchschlägt, um zu dem Geliebten ihres Herzens hinzudringen: ich strebte nicht mehr auf den gespannten Flügeln der Hoffnung und mutiger Begeisterung dem Genusse verbotner Liebe entgegen: nein, eine entlaufne Dirne war ich, die sich an einen jungen Menschen hing, sich zu ihrer Schande verführen ließ, Strafe fürchtete und Strafe verdiente: meine Leiden waren nicht mehr aufrichtendes Verdienst, sondern niederschlagende Züchtigung: in einem solchen Lichte erschien ich mir itzt. Seit jener unseligen Nacht haben sich meine Augen geöffnet: ich habe strafbar die Frucht gekostet, die Erkenntnis des Guten und Bösen gibt, und trage den Fluch und werde ihn bald doppelt fühlen. – O Liebe! Liebe! du mußt die einzige Sünde auf der Erde sein; denn keine bestraft sich selbst mit so peinigenden Nachwehen wie du.

Für Onkel, Tante, Mutter und alle andere Anverwandte war mir wenig bange, sosehr mir auch die Oberstin mit ihnen drohte. Was können sie tun? dachte ich. Vorwürfe machen und dich zwingen, einen Mann zu nehmen, den du nicht liebst, oder in ein Stift zu gehen: das ist es alles: das Leben müssen sie dir doch lassen. Aber Heinrich! ich zitterte vor einem viel schrecklichern Übel. Meine Gesundheit wurde äußerst abwechselnd: ungekannte Empfindungen erwachten in mir: meine Wangen verblühten: meine Augen, wenn ich mich im Spiegel erblickte, waren trübe, matt, erstorben: meine Tante selbst schöpfte Argwohn und ließ einige bedenkliche Reden über meine Umstände fallen, die ich mit nichts als Tränen beantworten konnte. Sie meldete dem Onkel sogleich, daß ich wieder in ihrer Gewalt war: darauf erfolgte zwar eine sehr zornige und fürchterliche Antwort von ihm, aber doch keine solche, wie sie die Oberstin wünschte. Sie hätte mich gern wieder in Pension gehabt: doch das verbot sich von selbst. Dem Onkel war vor einem Monate ein Sequester in seiner Herrschaft gesetzt worden, wie Schwinger in seinem Briefe, den Du mir in Berlin zeigtest, befürchtete. Er hat zwar die Erlaubnis, so lange auf dem Schlosse zu bleiben, bis sich die Leute, von denen er geborgt hat, untereinander[627] vereinigt haben: allein seine Einnahme ist doch so erstaunend gering, daß er nicht mehr als zwei Bediente halten kann: die schönen Kutschen, die schönen Pferde, alles ist schon längst fort: es soll so einsam und tot auf dem Schlosse sein wie auf einem Kirchhofe. Er wollte also gar nichts mehr mit mir zu schaffen haben, sondern mich dem Elende überlassen: aber die Tante Gräfin versprach in ihrem Briefe, daß sie mich abholen lassen wollte, weil die Oberstin meiner überdrüssig war, da ihr niemand Kost und Wohnung für mich bezahlte. Ich sollte zu meiner Mutter gebracht werden, die schon seit einem Vierteljahre an den Folgen ihres vorjährigen Sturzes mit dem Pferde krank daniederliegt: der Graf hatte der Tante nach langem Bitten erlaubt, so viel für mich zu tun, nur mit der Bedingung, daß ich ihm zeitlebens nicht wieder zu Gesichte käme.

In einer Woche langte auch wirklich Fräulein Hedwig mit einer alten Kutsche und einem Paar Bauernpferden an: sie hatte mit dem jämmerlichen Fuhrwerke völlige acht Tage unterwegs zugebracht, und die Rückreise schienen die Kracken nicht unter vierzehn Tagen machen zu wollen. Wir fuhren ab. Hedwig klagte außerordentlich über ihr trauriges Schicksal: auf Vorbitte der Gräfin hatte ihr der Graf erlaubt, wieder auf dem Schlosse zu wohnen, wenn sie sich demütigen und um Gnade bitten wollte. Die Hauptursache mochte wohl sein, weil ihr der Onkel die Pension nicht mehr bezahlen konnte: sie bat um Gnade und wurde seit der Zeit wieder an die Tafel gelassen. Aber sie beschwerte sich gar zu kläglich, daß alles so genau, so kärglich zugeschnitten wäre und daß ihr der Graf fast täglich zu verstehen gäbe, wie lästig sie für ihn in seinen itzigen Umständen sei. – »Ich werde wie ein Bettelmensch von ihm behandelt«, klagte sie, »bei jedem Bissen, den ich esse, muß ich mir vorrücken lassen, daß er ein Almosen ist. Der guten Gräfin tut es weh: sie ermahnt mich zur Geduld, weil sie nicht helfen kann. Es graut mir, wieder nach Hause zu reisen: wenn ich in meinen alten Tagen irgendwo unterkommen könnte, und wenn ich einen Schulmeister heiraten müßte, ich ließe Sie allein fahren[628] und bliebe zurück. Ich möchte lieber betteln gehn, als das ewige Knurren und Brummen bei dem Grafen ertragen.« – Sie jammerte mich, so bitterlich weinte sie. Schon ihre Figur war mitleidenswert: du kennst ihre dicken, ausgestopften Backen und die ungeheuren fleischvollen Arme: sie keuchte sonst bei jeder kleinen Bewegung: das war alles verschwunden, an dem Halse hing die zusammengefallne Haut wie ein großer, leerer Beutel, die rubinroten Wangen, wie wir sie sonst nannten, waren zusammengeschrumpft und kreideweiß. Es ging mir ans Herz, wenn sie mir die Hand gab: sonst war es, als wenn sich ein dichtgestopftes Federbett um die meinige wickelte, und itzt fühlte ich durch die runzlichte Haut alle Knochen.

Mir graute so sehr nach Hause zu reisen als ihr, und eh' ich noch wußte, wie schlimm es mit ihr stund, hatte ich mir schon vorgenommen zu entwischen, sobald es die Gelegenheit zuließe. Da ich sie gleichfalls so geneigt fand, nicht zum Onkel zurückzukehren, schöpfte ich ein Herz und tat ihr den Vorschlag, mit mir Partie zu machen. Sie war gleich dabei:15 aber wohin? – Ich fiel auf Leipzig, um entweder Dich dort zu finden oder mich von dort an Vignali zu wenden: es war mir alles gleich, mochte aus mir werden, was auch wollte, wenn ich nur nicht zu meiner Mutter durfte. Indem wir beide des Abends in einem Wirtshause beisammensitzen und überlegen, wie wir von dem Bauer, der uns fuhr, loskommen sollen, tritt er in eigner Person zu uns herein und meldet uns, daß wir sehen möchten, wie wir weiterkämen. – »Ich kann Sie nicht nach Hause fahren«, sagte er, »ich habe meine Pferde eben itzo verkauft und bin Soldat geworden. Was soll ich zu Hause machen? Mein Gütchen ist verschuldet: es kömmt so bald zum Konkurse: Frau und Kinder hab ich nicht: mögen sich meine Schuldleute drein teilen. Der liebe Gott erhalt Sie gesund und bringe Sie glücklich nach Hause!«[629] – Mit diesem Wunsche nahm er seinen Abschied. Nun hatten wir auf einmal, was wir wollten: wir verkauften auch die alte Kalesche und reisten mit der Post. Hedwig konnte das Fuhrwerk nicht vertragen: sie wurde krank, und wir mußten in einem Dorfe liegenbleiben. Zum Glück traf unsre Reise gerade in die Michaelmesse, und es boten sich uns häufige Gelegenheiten an, mit fortzukommen: wir wählten einen Wagen, mit Wolle beladen, wo wir für einen wohlfeilen Preis weiche Sitze und langsames Fuhrwerk bekamen.

Ein Anblick verursachte mir auf dieser mühseligen Fahrt ungemein viel Vergnügen; und warum sollte es nicht ein erlaubtes Vergnügen sein, das die Strafe eines Bösewichts verursacht? – Ein Kommando Soldaten brachte einen Menschen auf den Bau, weil er seinen Posten verlassen und gestohlen hatte. Sie hielten mit uns in einem Dorfe an, und da ich dem jungen Menschen genau ins Gesicht sehe, erkenne ich in ihm unsern gemeinschaftlichen Feind, Jakob. Ich erkundigte mich bei dem Korporal nach seinem Namen, und er war es wirklich. Ich konnte mich nicht enthalten, mit Hedwig laut zu triumphieren, daß dieser schändliche Mensch seine Strafe durch sich selbst fand: sein eigner Vater mußte ihn aus der Gnade und den Diensten des Grafen verdrängen, damit er Soldat, Verbrecher und für alle seine Bosheiten auf immer bestraft würde. ›Wenn in allen Schicksalen auf dieser Erde so viel Gerechtigkeit herrscht, o so muß auf dich und deinen Heinrich noch große Glückseligkeit warten‹, dachte ich: aber ich bildete mir zuviel Verdienst ein. Leiden, endlose Leiden hatte ich verdient; und sie trafen mich und werden nie von mir weichen.

Auch mit Madame Düpont, die auf die Messe reiste, kamen wir zusammen: ich war so aufgebracht wider die Treulosigkeit, die sie in Dresden an mir beging, daß ich sie vermied; aber sie ließ gleich halten, als sie mich erblickte, und nötigte mich zu sich auf ihren Wagen: ich schlug es aus, weil ich die arme Hedwig nicht verlassen konnte. Sie entschuldigte sich also, weil sie ihre Gesellschaft nicht zu lange warten lassen wollte, mit zwei Worten über ihr Verhalten in Dresden und[630] versicherte, daß sie es zu meinem Besten getan habe. »Wie ich aber sehe«, sagte sie, »hat mir meine gute Absicht nichts geholfen; denn Sie sind schon wieder durchgegangen: aber Sie werden schon zeitig genug erfahren, daß es bei Ihrer Tante besser ist, als in der Irre herumzulaufen. Sie sind nichts als eine Unglücksstifterin: die arme Vignali ist Ihretwegen, gleich nach Ihrer Abreise, mit dem Herrn von Troppau zerfallen: sie hat sich von ihm trennen müssen und kann nun auch so eine Landläuferin wie Sie werden: aber die Strafe wird schon kommen. So eine Landstreicherin, die kein Gutes tun will und andre Leute nur ins Unglück bringt, muß auf der Straße sterben.« – Nach einem so höflichen Anfange hätte ich so eine Sprache nicht vermutet, und ich ärgerte mich bis in die Seele, daß sie mich vor allen Leuten öffentlich so unbillig ausfilzte: ich wollte ihr antworten, aber sie stieg auf ihren Rollwagen und fuhr davon, ohne mich anzuhören. Sie schien recht froh, daß sie sich ihrer Galle entladen hatte. Die Unbilligkeit des Verweises war mir nicht weniger empfindlich, als daß ich wider meine Absicht und meinen Wunsch das Unglück einer Person veranlaßt haben sollte, der ich bei allen Bedrängnissen, die sie mir verursachte und die größtenteils nicht einmal von ihr herrühren mochten, so viele Gefälligkeiten schuldig war. Ich hatte wegen ihrer letzten Vorsorge für unsre Verheiratung große Hoffnung auf sie gebaut: auch diese war nunmehr eingestürzt. Mit allem meinen Nachsinnen kann ich nicht ausfündig machen, wie ich ihre Entzweiung mit dem Herrn von Troppau bewirkt haben soll: vielleicht weil sie mir durchgeholfen hat? Aber was kann dem Manne so sehr daran liegen, mich in die Hände meines Onkels zu liefern?16 Es ist und bleibt mir ein Rätsel. –

Die alte Hedwig winselte mir unaufhörlich die Ohren voll, daß sie sich von der übeln Laune und mir zu einem so gefährlichen Schritte hatte bereden lassen, in ihren alten Tagen[631] noch herumzustreichen: ich konnte sie nicht trösten; denn mir war selbst der Mut genug gesunken. Der Herbst fing schon an rauh zu werden, und wir hatten keine bleibende Stätte! keine Hütte, die uns aufnahm, und wenig Geld, die Aufnahme zu erkaufen! Unser letztes Rettungsmittel waren meine Kleider: wir sahen uns nach einem Juden um, quartierten uns auf einem Dorfe nicht weit von Leipzig ein, und in zwei oder drei Tagen handelte uns ein durchreisender Jude unsre ganzen Garderoben ab: wir tauschten von ihm Zeug zu schlechter Bürgerkleidung ein und beschlossen, von dem gelösten Gelde den Winter über auf dem Lande zu leben. Wir wohnten dicht neben dem Wirtshause bei einer Witwe, mit welcher wir uns über Heizung und Tisch verglichen und gegen die billigste Bezahlung mit ihr in einem Stübchen wohnten und aus einer Schüssel aßen. Wir strickten und nähten für das ganze Dorf, und einige junge Mädchen, die sich etwas besser dünkten als die übrigen, nahmen Unterricht in weiblichen Arbeiten. Hedwig verliebte sich so sehr in unsre einfache Lebensart, daß sie bis an ihr Grab nichts Bessers wünschte: sie wurde so aufgeräumt und zufrieden, daß sie fleißig wieder Latein redete und ihre Gelehrsamkeit reichlich auskramte, die auf unsrer ganzen Reise erstorben gewesen war. Auch ich hätte mich gern in mein mittelmäßiges Schicksal gefügt, weil ich es viel schlimmer erwartete: aber mein Herz verwundete ein Dorn, der sich täglich dem Leben näher eingrub. Die Folgen meiner Schuld begleiteten mich auf allen Tritten: ich trug sie in mir und konnte sie niemandem mehr verhehlen. Hedwig wurde mit jedem Tage voller und verjüngter und ich mit jedem Tage mehr zum Schatten, eine kränkelnde, dahinschwindende Leiche vor Schmerz und Bekümmernis. Die Witwe und Hedwig trösteten mich, als ich meine Umstände ihnen entdeckte, mit dem leidigen Grunde, daß ich hier ganz fremd wäre und mich für die Frau eines entlaufnen Mannes ausgeben könnte: mir verhalf ein solcher Trost zu keiner Beruhigung. Eine Lüge deckte wohl die Schande vor der Welt: aber die Schande vor mir selbst, welche Lüge konnte diese decken? Vor meinen[632] eignen Gedanken hätt ich fliehen mögen, so ängstigte mich die Scham: ich konnte ihr quälendes Gefühl nicht von mir entfernen, ich mochte denken und tun, was ich wollte. Tränen rollten in meine Speisen, Tränen netzten meine Arbeit und mein Lager: des Nachts peinigten mich schreckliche Träume, und selbst am Tage schlummerte ich oft mitten im Gespräche ein; und sobald sich meine Augen schlossen, standen die fürchterlichsten Gestalten und Begebenheiten in meinem Kopfe auf: alle Geschichten von ermordeten, ersäuften oder erstickten Kindern, von geköpften Kindermörderinnen, die ich nur jemals gehört hatte, gingen in mir von neuem vor, und mit so entsetzlichen Veränderungen und Zusätzen, daß ich vor Angst verging: in jedem Traum war ich jedesmal die Verbrecherin, die zu den entehrendsten Strafen geführt wurde, daß mir zuletzt auch wachend nicht anders war, als ob ich unvermeidlich einen Mord begehen müßte. Die Furcht der Einbildung nahm bei mir so gewaltig überhand, daß ich Hedwig inständigst bat, mich in der Stunde der Schwachheit sorgfältig vor einer Untat zu bewahren und Tag und Nacht nunmehr keine Minute von meiner Seite zu weichen. Wenn verliebte Übereilung nicht bloß nach dem Urteile der Menschen und angenommenen Gesetzen, sondern auch vor dem Richterstuhle des Gewissens sträflich ist, so hab ich meine Strafe gelitten: meine Einbildung hat mich gequält wie eine Hölle; und noch läßt sie nicht ab: sie ist ein finstrer Abgrund, aus welchem täglich Schreckbilder, Gespenster und Furien heraufsteigen und mich mit entsetzlichen Empfindungen martern.

Unsre Wirtin glaubte mich zu beruhigen, wenn sie mir berichtete, daß man in meinen Umständen zu wunderlichen Einbildungen geneigt sei: aber minderte das mein Gefühl? Meine Unruhe nahm so stark zu, daß ich mehr als einmal in Versuchung geriet, davon zulaufen: ich verlangte nach einem Orte, wo mich gar niemand kennte. Das war die Ursache, warum ich mitten im Winter in eine Reise willigte, die mir den Tod hätte bringen können: aber ich sollte einmal Torheit auf Torheit häufen.[633]

Unter den Arbeiten, die wir verfertigten, waren gestrickte baumwollne Mützen eine der vorzüglichsten. Nicht lange nach dem neuen Jahre kömmt ein kleiner, dicker Mann zu uns, ein Pferdehändler, den man in dem Wirtshause zu uns gewiesen hatte, weil er etwas von jener Arbeit verlangte. Für seinen dicken Kopf war eine jede unter unsern fertigen Mützen zu enge: wir erboten uns, wenn er ein paar Tage anhielte oder wieder zurückkäme, so viele nach seinem Maße zustande zu bringen, als er begehrte. – »Ich komme schon zurück«, sagte er, »ich sollte einer Herrschaft einen Postzug bringen, aber weil ich drei Wochen später kam, als ich sollte, hatte sie sich schon anderswo versorgt: ich halte mich acht Tage in Leipzig auf und lasse meine Pferde hier auf dem Dorfe stehn, weil ich sie sonst ganz gewiß verspiele. Sie sind dem Teufel schon einmal im Rachen gewesen: ich mag sie ihm nicht wieder vorhalten.« – Er beklagte sich in diesem Tone sehr bitter über einen Verlust, den er bei seiner Herreise an der Neujahrsmesse in Leipzig erlitten hatte, und verwünschte die Räuber, die ihm zum Trunke verleiteten und in der Trunkenheit alles bei sich habende Geld abgewannen. Er kassierte einige Summen ein, die ihm in Leipzig auf Anweisung ausgezahlt werden sollten, und war so mißtrauisch gegen diese Stadt durch sein Unglück geworden, daß er nicht einmal darinne schlief und die ganze Zeit des Tags, wenn seine Geschäfte vorbei waren, auf dem Dorfe zubrachte, und zwar mehr bei uns als in dem Wirtshause. Der Mann wurde mit mir vertraut, und weil er sehr leicht merken konnte, daß ich mich nicht in den besten Umständen befand, tat er mir im Scherz, und endlich im völligen Ernste den Antrag, mit ihm nach Hause zu reisen und seine beiden Töchter in weiblichen Arbeiten zu unterrichten. Er zählte mir dabei täglich seine Reichtümer her, die nach seiner Angabe sehr beträchtlich waren, ließ sich auch zuweilen ein paar Worte entwischen, aus welchen man schließen konnte, daß seine Absichten auf mich weiter gingen. Mit der Veränderung des Aufenthalts hoffte ich auch meine Gemütsverfassung zu ändern: die gute Hedwig bildete sich ein, daß seine Absicht auf[634] sie gerichtet wäre, oder dachte wenigstens, sie dahin zu lenken: genug, sie und meine Unruhe setzten mir so heftig zu, daß ich in seinen Vorschlag willigte, wenn Hedwig meine Begleiterin sein dürfte. Er war es sogleich zufrieden und so vergnügt über meine Einwilligung, als wenn ich ihm das größte Geschenk machte. Er bezahlte, was wir unsrer bisherigen Wirtin schuldig waren, die auch nicht wenig an mir getrieben hatte, seinen Vorschlag anzunehmen, weil ich, wie sie sagte, vielleicht mit Ehren noch unter die Haube kommen könnte, wenn ich mich in den Mann schickte. Der Himmel weiß es, daß mir der Mann nicht sonderlich gefiel, und doch wage ich nicht zu leugnen, ob ich nicht das nämliche dabei dachte. Die Schande, der ich entgegeneilte, ist für eine Mädchenseele ein so fürchterliches Gespenst, daß ich gern ein Gespenst geheiratet hätte, um nur jenem zu entgehen. Ohne mir nur das mindste von diesem anwandelnden Gedanken entwischen zu lassen, reisten wir mit vier schönen Kutschpferden und einer anständigen, bequemen Kalesche ab. Vor Leipzig gesellte sich noch ein Student zu uns, der Predigerssohn aus dem Dorfe, wo mein Pferdehändler wohnte. Der junge Mensch war äußerst niedergeschlagen und hatte nichts bei sich, als wie er ging und stund. Ich fragte ihn um die Ursache seiner Traurigkeit, und ohne große Weigerung gestund er mir mit der liebenswürdigsten Offenherzigkeit, daß er das Unglück gehabt habe, in schlechte Gesellschaft zu geraten und alles bis auf die Kleidung, die er trug, zu verspielen: »Weil ich kein Geld mehr habe«, setzte er hinzu, »und diesen alten Bekannten in Leipzig antraf, so bat ich ihn, mich mit zu sich zu nehmen. Die Schuldner verfolgen mich: nirgends hab ich mehr Kredit: studieren kann ich auch nicht: also will ich den Winter vollends bei meinem Vater zubringen und ihn bitten, daß er mich auf eine andre Universität tut.« – Wir versprachen alle, bei seinem Vater eine Vorbitte für ihn einzulegen und Vergebung für seine Unordnung auszuwirken. Der Pferdehändler fing von neuem an, seinen Verlust zu erzählen, und die beiden Unglücklichen klagten und fluchten wechselsweise. »Wir sind wohl durch die nämlichen Spitzbuben[635] geprellt worden, wie es scheint«, sagte der Pferdehändler. – »Hieß der eine nicht Arnold und der andre Herrmann?« fragte der Student. – Der andre wußte die Namen nicht, aber er beschrieb Figur und Kleidung. Der Student ergänzte seine Schilderung, und ihr beiderseitiges Gemälde war Dein leibhaftes Bild: alles, sogar die Kleider trafen ein. Er mußte mir Deine ganze Lebensart erzählen, und er erzählte mir mehr, als ich wünschte. »Es ist ein lüderlicher Landstreicher«, waren seine Worte, »er hat eine Baronesse entführt, geschwängert, sitzenlassen und wälzt sich nunmehr in allen Ausschweifungen herum, spielt, trinkt, verführt Mädchen: sein Glück im Spiel ist so außerordentlich, daß er notwendig betrügen muß.«

Der Atem stund mir still bei dieser schrecklichen Nachricht: meine Schande so laut auf den Zungen und in den Ohren aller Menschen zu wissen! mir Dich als einen Lasterhaften, Gewissenlosen zu denken! das waren zween harte Stöße für mein bekümmertes Gemüt. Jedes Wort, das er weiter von Dir sprach, bestätigte die Vermutung, daß ich eine Betrogne und Du ein Betrüger warst, ein Leichtsinniger, der die gemißbrauchte Liebe vergaß und noch mehr Unschuldige ins Verderben reißen wollte, weil es ihm mit einer so wohl gelungen war. – ›So sei er auch vergessen, der Ehrlose!‹ beschloß ich in dem ersten Zorne; ›so treffe ihn die Strafe der Verführung und Treulosigkeit spät, wie ich die Folgen meiner Unbesonnenheit zeitig fühle!‹ – Ich war so aufgebracht, daß ich mich mit dem Pferdehändler, wenn er's damals verlangte, in der Minute ohne Weigerung trauen ließ, ob er mir gleich itzo mehr mißfiel als jemals. Er trank, war im Trunke äußerst freigebig und in der Nüchternheit so knickerig, daß er jede Gütigkeit, die ihm etwas kostete, ohne Zurückhaltung bedauerte: aber was sollt ich tun? Leiden und dulden war mein Los.

Als wir in der Heimat des Pferdehändlers angekommen waren, ging erst meine Not recht an. Die beiden Töchter, ein paar schnippische, überkluge Mädchen, sahen mich mit scheelen Augen an, weil sie besorgten, daß ich ihre Mutter[636] werden sollte, taten mir alles zum Possen und quälten mich mit plumpen Höhnereien vom Morgen bis zum Abend: der Vater wurde unser auch sehr bald überdrüssig, weil seine Liebe oder Großmut, oder was es sonst sein mochte, nur ein Einfall im Trunke gewesen war: die Töchter nahmen ihn noch mehr wider uns ein und tadelten ihn, daß er zwei solche Menscher, wie uns die Kreaturen ins Gesicht nannten, so ganz umsonst ernährte, und der täglich berauschte Pferdehändler fing an, mit uns wie mit Pferden umzugehen: er sagte uns geradezu, daß er weder Menschen noch Vieh im Hause dulden könnte, das sein Futter nicht verdiente, und seine naseweisen Töchter, die das Regiment im Hause hatten, muteten uns Mägdearbeit zu. Sie argwohnten meine Umstände, und ihr Spott wurde so unbarmherzig beißend, daß er mir am Leben fraß.

Mit Schwachheit, Kummer und Schmerz, halb mit dem Tode ringend, schlich ich zu dem Vater des jungen Menschen, der uns hieher begleitete, entdeckte ihm mit Tränen meine traurige Geschichte, ohne einen Umstand zu verbergen, und bat ihn um seinen Beistand, bloß um die Vergünstigung, meine Bürde in seinem Hause abzulegen und mein Leben in seine Hände auszuhauchen. – »Brich dem Hungrigen dein Brot!« sprach der Prediger nach einer kleinen Pause, »ich will Sie aufnehmen.« – So biblisch und gutgemeint sein Kompliment war, so kränkte es mich doch so empfindlich als eine abschlägige Antwort. Die wenigsten Menschen wissen auf eine gute Manier Wohltaten zu erzeigen; die Erfahrung hatte ich schon längst gemacht, und meine Empfindlichkeit mußte sich darunter schmiegen. Bei diesem Prediger lebe ich nun mehr seit der Mitte des Februars, fühle mich durch Ruhe und Pflege wieder ein wenig gestärkt, aber in immerwährender Demütigung. Bloß von der Wohltätigkeit leben ist ein schrecklicher Gedanke, der mich täglich beunruhigt, obgleich der Prediger und seine Frau mich gleich gütig behandeln: aber ich kann mir denken, was sie sich denken, was sie sich sagen werden. ›Wenn wir doch das müßige Geschöpf nicht ernähren müßten!‹ ist ein[637] Wunsch, den ich besonders im Gesichte der Frau sehr deutlich lese, ob sie ihn gleich aus Höflichkeit nicht hervorbrechen läßt; denn sie erkundigt sich täglich, wo ich mich hinzuwenden gedenke, wenn ich nieder ... ich kann das niederschlagende Wort nicht ausschreiben, das ich täglich hören muß: die Scham rückt mir die Feder weg. O Heinrich! was für ein schöngefärbter Regenbogen einer schwarzen Wolke ist die Liebe! Mit den täuschenden Farben der Einbildung und ebenso täuschenden Worten verbirgt man sich ihre wahre Gestalt und zürnt schon, wenn nur jemand in der gewöhnlichen Sprache von ihr redet. Wir dünkten uns ganz anders zu lieben als die übrigen Sterblichen; und wir liebten wie sie alle: unser Gefühl schien uns englisch, überirdisch, und wir empfanden und handelten, ohne es zu glauben, nur menschlich. Seit jener unglückseligen Nacht ist der Regenbogen vor meinen Augen verschwunden, und nichts steht mehr da als finstere dicke Wolken, in welchen er sich bildete.

Was mich in meinem Elende noch aufrichtet, sind die guten Nachrichten, die mir der Predigerssohn von Dir verschafft hat. Auf mein Verlangen mußte er einige seiner Freunde in Leipzig antreiben, die sorgfältigste Erkundigung von Dir einzuziehen, und alle Berichte widerlegen die böse Meinung, die mir der junge Mensch im Zorn über seinen Verlust von Dir beigebracht hat. Du spielst, doch ohne Betrug und Unredlichkeit: das Glück wirft Dir Reichtum mit vollen Händen zu: Du lebst in der Freude und dem Wohlergehn, doch ohne ein ausschweifender Trunkenbold zu sein: auch von den Ausschweifungen der Liebe spricht man Dich frei: Du wendest Deinen Gewinst zur Freigebigkeit und Wohltätigkeit an, und selbst einer von denen, die von Deiner Lebensart Nachricht einziehen sollten, hat von Deiner Güte mehr als einen Beweis erfahren: wohl Dir! und wohl mir, daß mein Herrmann sich meiner Liebe nicht unwürdig machte! Mich haben alle diese günstigen Berichte erfreut, als wenn sie lindernden Balsam in meine ganze Seele gössen.

Da Du noch der vorige Herrmann bist, so kann Ulrike Deinem Herze durch Dein Glück nicht fremd geworden sein,[638] und sie darf Dich dreist um eine Wohltat bitten: wenn ich einmal Wohltaten empfangen soll, so sei es von Dir. Bezahle den Leuten, wo ich itzt wohne, für Tisch und Wohnung, soviel Dir gut dünkt, von der Mitte des Februars bis zu Ende des Mais: es sei ein Geschenk, ein Almosen, das Du mir reichst, damit ich nur den Gedanken von mir entfernen kann, daß ich von dem Almosen fremder Personen lebe: diese Vorstellung verbittert mir jeden Bissen. Bis zu Ende des Mais sage ich darum, weil die Stunde, die mich meiner Bürde entladet, auch meine Sterbestunde sein wird: ich bin so gewiß, so fest hiervon überzeugt, daß der Tod gegenwärtig mein einziger Gedanke und mein einziges Gespräch ist. Mein unaufhörlicher Kummer, seitdem ich aus Berlin bin, hat mich langsam dazu vorbereitet, und meine Schwäche ist so groß, daß ich an diesem Briefe wenigstens drei Wochen geschrieben habe, um nur die besten, heitersten Stunden dazu auszusuchen. Muß ich die Offenbarung meiner Schande überleben, so nimm Dich meiner an! Von Gott und Menschen verlassen, in wessen Arme soll ich mich werfen als in die Deinen, in welchen meine Unschuld starb? – Genieße Deines Glücks, lebe für Freude und Ehre, wenn es Dein Schicksal will, ändre meinetwegen nicht eine einzige Deiner Absichten! Ich vermute, daß Dir das Spiel nur dienen soll, um Dir fortzuhelfen: wenn Du Dir also eine Bahn vorgezeichnet hast, die Du mit Deinem erworbnen Vermögen antreten willst, so gehe sie, ohne meiner zu achten! Von diesem Augenblicke an will ich für Dich tot sein, ich mag sterben oder leben: meine törichte Liebe hat Dich bisher von aller Vorbereitung zu Deinem künftigen Glücke abgehalten, sie soll es nicht länger, weil es noch Zeit ist. Ich will auf dem Lande in der Einsamkeit den Rest meines jungen Lebens hinbringen, mich mit Arbeiten nähren, und nur dann, wenn mein Kummer mich krank und untüchtig zur Arbeit macht, nur dann stehe mir bei! Ich habe Dich freilich, wie mir einst Schwinger schrieb, in eine Grube gezogen, wo Du verschmachten konntest: aber räche Dich nicht! Ich sprang in die Grube und zog Dich mit mir hinein, aber Dir half das[639] Glück heraus, und ich schmachte noch darinne. Den Ring, den ich Dir in der süßesten Trunkenheit der Liebe unter dem Baume an den Finger steckte, den Du mir mit edlem Zorne über den vermeinten Fall meiner Tugend in Berlin wiedergabst und mit einem Kusse nach unsrer Wiederversöhnung von mir zurücknahmst – trag ihn zum Andenken der unglücklichsten Liebe! Selbst wenn nach meinem Tode dereinst ein glücklicheres Mädchen Dich besitzt, dann schäme Dich seiner nicht! Ich habe schon der Hedwig auf das Leben anbefohlen, daß der Deinige an den nämlichen Finger, den er itzo ziert, mit mir ins Grab gehen soll, damit ich als Deine Braut im Sarge liege.

Wird meine Hoffnung, zu sterben, erfüllt, so komm einmal zu meinem Grabe, eh' es unkennbar wird! Das modernde Mädchen kann freilich Deinen Seufzern nicht antworten oder mit Deinen Tränen die ihrigen vermischen; aber die Vorstellung ist süß, ungemein süß, mir Dich hingeworfen auf den Hügel zu denken, unter welchem ich als Deine Braut liege – und wie dann die dürre Erde, mit welcher ich mich vermischen soll, Deine Tränen in sich trinkt; wie das geliebte Herz, das ich so oft unter meinen Händen schlagen fühlte, dem meinigen so nahe, sich mit dumpfen Schlägen in den Boden hineindrückt und Deine ausgebreiteten Arme den Staub umschließen, zu welchem ich geworden bin.

Verzeihe dem unbesonnenen, gutherzigen Mädchen, daß es Dich liebte! Lieben mußt ich Dich, und wenn es die unverzeihlichste Sünde gewesen wäre. Meine Tante bat mich um Gottes willen, von meiner Liebe abzulassen: ich verschmähte eine so teure Bitte, setzte ihr einen fürchterlichen Schwur entgegen, und der Schwur wurde zum schleichenden Gifte, das mein junges Leben tötete, als es kaum anfing.

O Liebe! Liebe! Wenn Offenbarungen dich in deiner ganzen Gestalt dem empfindungsvollen Mädchen kundtäten, noch wenn sie an der Mutter Brust liegt – welche Fehltritte könnten sie sparen! Mich pflückte itzo nicht der Gram wie eine junge Maiblume: ich riß gestern eine auf der Wiese hinter der Pfarrwohnung aus – Gott! wie war es anders mit mir, als[640] ich auf der Wiese hinter des Onkels Garten sie ausriß! wie anders, als ich sie in Dresden in den Gärten aufsuchte! Damals schwebte ich noch auf den lichten Silbergewölken der Einbildung im Sonnenscheine der Liebe. – Ich steckte gestern das frisch ausgerißne Blümchen an meine Brust, und in wenigen Minuten senkte es das zarte Haupt und verwelkte. ›So früh?‹ dachte ich; und doch ist das Ende des Maies noch nicht da!

So früh! schon am Ende des Maies soll ich mein Haupt senken und verwelken!

Ich küsse dieses Blatt statt Deiner, und wenn der Sarg meine Brautkammer wird, dann lies hier noch einmal mein Lebewohl! laß ein paar Tränen, wie sie itzt aus meinen Augen auf die erlöschenden Buchstaben herabtröpfeln, auf meinen Namen fallen und wünsche meiner Seele die Ruhe, die ich im Leben nicht wiederfinden konnte!

Die Angst, wenn sich der Faden des Lebens von meinem Herze losreißen wird, kann nicht schwerer sein als die meinige, indem ich diesen Brief schließen soll: die Hand bebt mir – die Ohrenbrausen – es sprengt mir das Herz – Gott! welche Beklemmung.


Sie ist vorüber: die Liebe schied von meiner Seele. Die Unschuld verwelkte, und der Stengel, der die schöne Blume trug, verdorrte.

Wenn am Ende des Mais ein leises Röcheln Dich im Schlafe stört oder eine erlöschende Stimme am Bette Deinen Namen stöhnt oder im Traume ein blasses Mädchen im Sterbkleide vor Dir steht, dem Kummer und Reue noch aus den entseelten Zügen sprechen, das traurig den Kopf senkt, bänglich seufzt und verschwindet; dann denke: – itzt starb, die mich liebte wie keine, meine

Ulrike.


Herrmann, dem die Tränen in großen Tropfen über das bestürzte Gesicht herabschossen, sprang aus dem Bette und lief, wie er war, in Arnolds Schlafkammer, der noch tief schnarchte, weckte ihn hastig, legte ihm den Brief hin. – »Da![641] lies!« rief er, »ich muß fort, gleich fort!« – Mit der nämlichen Hastigkeit rennte er wieder von ihm, kleidete sich an, packte mit Hülfe seines Pommers ein, bestellte Postpferde, bezahlte und kassierte Schulden ein, vergaß Essen und Trinken und kam eben nach Hause, als Arnold zu Tische gehen wollte.

»Ich will dich begleiten«, fing dieser an. »Der Brief hat mir wunderbare Gedanken in den Kopf gebracht. Wir sind doch wahrhaftig beide des Hängens wert, sitzen da und spielen und fressen und saufen und lassen uns wohl sein wie ein paar Brüder des Bacchus, und unsre armen Mädchen hungern und kümmern sich unterdessen, daß ihnen die Seele ausfahren möchte! Weißt du, was ich mir vorgenommen habe?-Ich will meine Adolfine, Lisettens Schwester, heiraten. Ich habe über dem verdammten Spielen das arme Tier ganz vergessen. Ich will mit dir reisen, will mir für das Geld, das ich beisammen habe, ein Gütchen kaufen, mit meiner Adolfine auf dem Lande leben und zeitlebens weder Karte noch Würfel mehr anrühren. Ist das nicht auch deine Meinung?«

Herrmann. Allerdings! Wohl mir, daß ich den Plan nunmehr ausführen kann, den ich mir gleich anfangs machte, als ich in deine Bekanntschaft geriet! Wie hat mich bei allem Unglücke das Schicksal so lieb! Es gibt mir Geld, daß ich meiner Ulrike mit Hülfe und Beistand zueilen und sie fast von dem Tode selbst befreien kann. Die minute nach meiner Ankunft bei ihr soll sie mein werden, ohne Onkel und Tanten, Vater oder Mutter darum zu fragen. Mein soll sie werden: wie zwei Menschen aus der goldnen Zeit wollen wir auf dem Lande zusammen leben und im Schweiß des Angesichts mit patriarchalischer Freude unser Brot essen, wie Menschen es essen sollen. Findest du nicht, daß ich der glücklichste Mensch unter der Sonne bin? Ich wüßte gar nicht, was mir fehlte: Und du, Freund, wirst mein Nachbar! Wie froh, wie überglücklich wollen wir des Abends nach geendigter Arbeit und Sorge in unserm stillen Dörfchen unter den Bäumen oder auf dem Steine vor der Tür beisammen sitzen und in nachbarlicher Vertraulichkeit schwatzen, schäkern und lachen, unsre Weiberchen[642] neben uns oder auf dem Schoße! oder in den langen Winterabenden, wenn bei der düstern Lampe Hausmütter und Mädchen im Zirkel dasitzen und spinnen und mit lustigen Erzählungen und lautem Gelächter die schnurrenden Räder überstimmen, wie freundschaftlich wollen wir dann am Tische sitzen und dem fröhlichen Getümmel zuhören und durch unser Gespräch Lustigkeit und Gelächter vermehren! Endlich hab ich dann die längst geträumte und gewünschte Glückseligkeit, ein stilles ländliches Leben mit Ulriken zu teilen; und nach dem langen Kummer, wie wird ihr das kleine Glück, das ich ihr verschaffe, doppelt süß schmecken! Sie glaubt zu sterben? – nein, Ulrike, ich bringe dir das Leben! –

In einem so enthusiastischen Tone fuhr er lange fort, seinem Freunde Szenen ihrer künftigen Glückseligkeit vorzumalen; und in der ersten Aufwallung seiner schwärmenden Freude ging er so weit, daß er sich auf der Stelle die Haare abstutzen ließ, einen runden Hut kaufte, die Kleider, die für den Stand des Landmanns nicht paßten, verschenkte und nur einen einfachen Tuchrock zum Sonntagskleide und einen Überrock zur alltäglichen Kleidung behielt: er wollte ganz mit Leib und Seele ein Landmann werden, wie er nach seiner träumerischen Idee sein mußte, und entfernte deswegen alles unter seinen Habseligkeiten, was nur im mindesten die Miene des städtischen Luxus hatte: was er nicht verkaufen oder vertauschen konnte, wurde verschenkt.

Die Pferde waren zwar gleich nach Tische bestellt, allein Arnold nötigte ihn, sie wieder absagen und erst auf den Abend kommen zu lassen. Sie kamen zur bestimmten Zeit: Arnold war den ganzen Nachmittag nicht nach Hause gekommen, weil er seine Angelegenheiten in Ordnung bringen wollte: auch itzt fand er sich nicht ein. Herrmann wurde ungeduldig und lief auf das gewöhnliche Kaffeehaus, ihn dort zu suchen, und fand ihn in voller Arbeit am Spieltische. »Reise nur!« sagte Arnold, »ich sitze eben im Verluste: sobald ich wieder heraus bin, komm ich dir nach.«

Herrmann nahm von dem Tempel des Spiels ungern Abschied:[643] aber eine höhere Gottheit zog ihn nach sich; und er reiste ohne Zögern ab. Seine Freigebigkeit gegen die Postknechte war so außerordentlich, daß sie aus Dankbarkeit weder Pferde noch Wagen schonten, sondern die Gäule in einem Trabe dahinrennen ließen: viertausend und etliche hundert Taler, die er im Kuffer hatte, schienen ihm eine so unversiegbare Quelle, daß ihm alles zu wohlfeil vorkam.

13

Zehlendorf.

14

Beeliz.

15

Mit Fräulein Hedwigs Erlaubnis! das ist eine Unwahrheit. Es waren allerdings viele und künstliche Überredungen nötig, um ihre Reisegefährtin zu dieser mißlichen Partie zu bewegen: aber so erzählt man, wenn man sich der Wahrheit schämt.

16

Sie wußte nichts von seiner Liebe zu ihr und seiner Absicht, sie zu heiraten, deren Vereitelung ihn so gewaltig wider Vignali aufbrachte, wie man im eilften Teile erfahren wird.

Quelle:
Johann Karl Wezel: Hermann und Ulrike. Leipzig 1980, S. 622-644.
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