Fünftes Kapitel

[747] Um die Lage kennenzulernen, in welche diese Beförderung allmählich Herrmanns und Ulrikens Angelegenheiten setzte und wie sie in der Folge die feindselige Stellung möglich machen konnte, die Arnold und Madam Dormer wider jene beiden annahmen, wird es am dienlichsten sein, hier einige Fragmente aus Briefen folgen zu lassen, die nach Herrmanns Eintritt in seinen Sekretärposten geschrieben wurden.


den 4. Februar.


– – Das waren gestern fünf Minuten des Lebens für mich, als ich Dich auf der Redoute sprach: nach so vielen langen Monaten, wo ich in jedem einen oder zwei Briefe an Dich schrieb und Dich nirgends als verstohlnerweise in der Kirche sehen konnte, endlich einmal die Stimme zu hören, die für mein[747] Herz so süße Musik ist, o wie rührte das mit einem hastigen Griffe alle Saiten meiner Empfindung! Die lärmende Tanzmusik verstummte für mich, das Rauschen der Allemande war mir unhörbar, ich nur allein in dem Saale und nur für die Stimme meines geliebten Türken da. Das waren vielleicht funfzig Worte, die Du mir sagtest, aber für mich goldne Sprüche gegen alles das Gewäsche und sinnlose Witzeln, womit hier ein Kammerjunker und dort Gott weiß wer meine armen Ohren foltert: Dir hörte ich gern Stunden, Tage, Wochen zu, und doch waren's nur fünf Minuten! und von den faden Schmeicheleien und abgeschmackten, abgedroschnen, Seel und Magen angreifenden Schnickschnack, den mattesten Siebensachen, dem elendesten Gackern klingen mir die Ohren vom Morgen bis zum Abend. – O Herrmann! gestern hat sich mein Herz wieder eine große Krankheit bei Dir geholt: es war seit meiner Ankunft in dieser Stadt ein Patient, der das Bette verlassen hat und wieder ein wenig herumgeht: aber gestern! gestern wurd es von neuem bettlägrig: ich bin seitdem so unleidlich, so mürrisch geworden wie ein Podagrist. Mein Mädchen beschwerte sich, daß sie mir nichts recht machen könnte. »Du närrisches Geschöpf!« sprach ich, »die vornehmen Sitten haben mich angesteckt: gedulde dich nur: ich werde schon noch launischer werden.« – Ja, gewiß werd ich's: ich fange schon an: seit gestern ist mir der Hof und die großen vornehmen Leute und das Putzen, Zieren, Tändeln, Schmeicheln, Knixen und Grimassieren so unerträglich ekelhaft geworden, daß ich die Ehre einer Hofdame an die Magd vertauschen möchte, die Dir aufwartet.

Die Fürstin examinierte mich sogleich gestern, mit wem, warum und was ich mit Dir gesprochen hätte: sie mußte mit einem paar Lügen vorliebnehmen, und meine Freude machte mich so erfinderisch, daß ich nicht einmal stockte: sie verbot mir alle dergleichen Gespräche, wenn sie auch noch so gleichgültig wären: – ob ich mich vielleicht durch meine Freude verdächtig machen mochte?

Nachdem dies Examen überstanden war, zog mich Madam Dormer in einen Winkel und kiff förmlich mit mir über meine[748] Unvorsichtigkeit: gleich war auch Herr Arnold dabei, der sich die Ehre gibt, auch um unser Geheimnis zu wissen und sich Deinen großen Patron zu nennen. Sooft er mich erblickt, erzählt er mir, daß er Deiner bei dem Fürsten gedacht hat. Ich halte ihn für einen Menschen, der um eine gute Mahlzeit oder eine Flasche guten Wein Vater und Mutter verrät: er hat sich bei dem Fürsten in der kurzen Zeit so sehr eingeschmeichelt, daß sie auf den vertrautesten Fuß miteinander umgehen, wohin es bei dem guten Fürsten nur gar zu leicht kömmt. Man kann zwar Arnolden bisher nicht das mindeste Böse schuld geben, nicht einmal Verleumdung; aber er drängt sich allenthalben voran, will der erste und einzige in der Gunst sein und nützt die Veränderlichkeit seines Herrn so meisterlich, daß er alle andre aus den Besitze der Gnade vertreibt. Wie sollte er diese Künste nicht wissen, da Madam Dormer seine Lehrerin ist?

Ich zittre, wenn ich bedenke, daß unser Geheimnis in den Händen dieser beiden Leute ist: ich traue keinem unter ihnen, aber ich muß ihnen schmeicheln, damit sie mir nicht schaden. Welche traurige Sache, Leute liebkosen zu müssen, die man nicht für gut hält! Und wieviel trauriger wär es vollends, wenn ich sie beleidigte, vielleicht durch den Zufall beleidigte! Ein Wort dürften sie der Fürstin von unserm Verhältnisse hinterbringen, und wir wären beide verloren.


Von Ulriken.

den 7. März.


– – Eine Freude muß ich Dir noch mitteilen, die ich vor acht Tagen gehabt habe, eine, wie sie mir seit langer Zeit nicht zuteil worden ist. Der Graf Ohlau hat sich an die Familie gewendet und um Unterstützung gebeten, weil ihm der Bankerut nicht das geringste übriggelassen hat. Der Oberste Holzwerder hat sich auch zu einem jährlichen Beitrage unterzeichnet und fragte mich zum Scherze, ob ich nicht gleichfalls einen Louisdor unterzeichnen wollte. Der Scherz war mir empfindlich; ich antwortete: »Vielleicht.« Bei der nächsten guten Laune der Fürstin bettelte ich bei ihr für einen gestorbnen Anverwandten. – »Willst du sogar den Toten[749] Almosen geben?« fragte sie. – »Der Mann lebt wohl noch«, antwortete ich, »aber er läßt sich's nicht gern nachsagen, daß er noch lebt, weil er um seine schönen Kutschen, Pferde, Lakaien und goldnen Kleider gekommen ist.« – »Ist er bestohlen worden?« – »Ja, von einem Diebe, den man Bankerut nennt.« – »Darf ich den Mann nicht wissen? Oder vielleicht hast du dein Geld vergangnen Winter auf den Redouten verspielt und vertrunken und machst mir nun weis, daß du für einen vornehmen Bettler bettelst?« – »Wenn ich den Mann alsdann verschweigen darf, so will ich die Beschuldigung auf mich nehmen und untertänig um Vergebung bitten, daß ich meine Liederlichkeit habe bemänteln wollen.« – Sie ging zu dem Schreibeschranke und brachte mir ein Paketchen mit zwanzig Louisdoren. »Da!« sprach sie, »schicke das deinem Toten, damit er wieder ein bißchen zu Atem kömmt!« – Ich küßte ihr die Hände so vielmals, daß sie es überdrüssig wurde und mich zum Scherz leise auf den Mund schlug: die Schuhsohlen hätt ich ihr küssen mögen, so entzückt war ich über die Wohltat. Ich packte die zwanzig Louisdor gleich sehr säuberlich ein, schrieb ein Billett an den Obersten und bat ihn, diese Kleinigkeit ohne Unterzeichnung an den Onkel zu schicken. Er kam hernach zu mir und wollte schlechterdings, daß ich das Geld in meinem Namen schicken sollte: aber das ging ich nicht ein: ich packte es in weißes Papier, ließ von meinem Mädchen die Adresse darauf schmieren und schickte es ohne Brief fort. Wie sie sich freuen werden, wenn die zwanzig gelben Rosse aus dem Briefe herausspringen, als wenn sie aus der Luft herabfielen!

Dies Vergnügen waffnet mich wider einen ganzen Monat Langeweile; denn das weiß mein Herz, wie sie mich tyrannisiert. Man spricht täglich von Lustbarkeiten: bald wird dahin, bald dorthin gefahren, gejagt, geangelt, gegangen und geschwatzt: aber bei allen Partien schleicht die grämliche Langeweile hinter mir drein, setzt sich mir auf den Nacken oder gegenüber und gähnt und gähnt, daß ich mitgähnen muß. Ich glaube, daß mir die Liebe fehlt: wir haben zuwenig mit ihr hausgehalten: darum wird der Rest unsers Lebens[750] öde und leer sein. Ich wüßte die Langeweile umzubringen, aber ich darf nicht: ich bin wie Andromeda gefesselt, der Drache, die Langeweile, sitzt neben mir und will mich verschlingen, und mein Perseus – vielleicht schneidet er endlich einmal die Hoffesseln los, und dann ist mir für meinen Drachen nicht bange: vor einem Blicke von Dir zieht er aus wie vor zehntausend Feinden. –


Von Herrmann.

den 21. März.


– – Ich beklage das gnädige Fräulein unendlich über höchstdero langweilige Glückseligkeit: ich habe keine Glückseligkeit, aber auch keine Langeweile; Lächerlichkeiten in Menge um und neben mir, wenn ich sonst Neigung hätte, über die Torheiten und Vergehungen eines Mannes zu lachen, der das Wohl und Weh eines Landes in seiner Hand hat und damit spielt wie mit einem Balle. Ich erwerbe mir itzt die Kenntnisse, die mich Verirrung und Taumel der Liebe nicht früher erwerben ließen: erschrecken würdest Du, wenn Du mich, umschanzt von ökonomischen und politischen Büchern, unter Quartanten und Oktavbänden voll Polizei und Finanzanstalten, die nirgends existieren, fändest. Der Himmel will, daß ich alles, was ich bin und werde, Dir verdanken soll; denn alle diese Weisheit und Torheit hab ich für die Geschenke gekauft, womit Du Deine Briefe begleitest: kann ich Dir besser dafür danken, als daß ich sie zu dem einzigen Mittel anwende, das mich Deiner Verbindung wertmachen, wo auch nicht dazu bringen kann? Verstand und Gedächtnis werden durch diese Gedanken gestärkt: meine Begriffe werden heller und meine Vorstellung umfassender, wenn mich die Liebe erinnert, daß ich alles Nachsinnen, alle diese Mühe für Dich und durch Dich unternehme. Ich habe bisher mein Leben im Schlafe zugebracht, im Traume der Empfindung, des Vergnügens, des Eigennutzes, in süßer, verliebter, aber kleiner Geschäftigkeit: das Unglück hat mich aus meiner Schlaftrunkenheit herausgepeitscht, und ich will anfangen zu leben, zu tun, zu handeln, was allein Leben heißt. Wie begeistert mich die Vorstellung, wie schwellt sie meinen Mut an, daß[751] ich vielleicht dereinst etwas beitragen soll, diesem Lande, das die Beute habsüchtiger Geier geworden ist, durch gute Anstalten zum Wohlstande zu verhelfen, Ordnung, Fleiß, Tätigkeit darinne zu verbreiten, der Menge dürftiger, fauler Müßiggänger Arbeit und Nahrung zu verschaffen, durch Vermehrung des Triebes zur Beschäftigung alle Laster der Geschäftlosigkeit zu ersticken und so durch politische Veranstaltungen ein Völkchen weiser und glücklicher zu machen, als Moralisten und Prediger vermögen! Diese Aussicht ist itzt meine allbegleitende Idee, der Mittelpunkt alles meines Denkens und Trachtens. Meine gegenwärtige pflichtmäßige Beschäftigung ist freilich trocken, gering, ekelhaft: ich muß Rechnungen, Befehle, Quittungen, Spezifikationen von des Herrn von Lemhoffs Schweinen, Schafen und Rindvieh, Pachtbriefe und Mietkontrakte abschreiben, den Vögeln den Pips nehmen, Wettergläser begucken und die Grade ihres Steigens und Fallens aufschreiben – freilich alles lästige, traurige Berufsarbeiten, die einer von den Bedienten des Hauses besser und schicklicher verrichten könnte als ich! Aber was schadet's? Man kann wohl einige Zeit Steine und Kalk zuführen, wenn man nur Hoffnung hat, einmal Mauermeister zu werden. Ich bin doch unendlich besser daran, wenigstens in meinen Augen nützlicher als Arnold, der den Lustigmacher bei dem Fürsten spielt und Hofspaßmacher geworden ist. Nimmermehr hätt ich dem Manne zugetraut, daß er sich zu solchen Mitteln erniedrigen würde, um die Gunst seines Herrn zu gewinnen: er ist ein Nichtsnützer, der im geschäftigen Müßiggange herumschleicht: seine größte Handlung ist ein mittelmäßig geblasnes Konzert und seine beste ein Spaß, womit er dem Fürsten eine Wolke von der Stirn treibt; und noch wäre dies Verdienst nicht gering, wenn er den Herrn nach Beschäftigungen oder Unannehmlichkeiten aufheiterte oder Verdruß und üble Laune, zwo so ergiebige Quellen von Ungerechtigkeiten, von ihm abwehrte: aber die Harlekinspossen, die elenden Schwänke, die Kinderspiele, womit er ihn belustigen soll, machen ihn in meinen Augen verächtlich. Wieviel verdienstvoller und glücklicher[752] schein ich mir mitten in meinen schlechten Umständen schon itzt, wenn ich mir bewußt bin, daß der Präsident einen Gedanken, einen Vorschlag, den ich für heilsam halte, billigt und annimmt! Wie vollkommen wird nun vollends meine Glückseligkeit sein, wenn ich diese schlechten Umstände übersprungen und mich in eine Lage gesetzt habe, wo meine Gedanken und Vorschläge von ausgebreitetem Einflusse, meine Arbeiten der Vorteil etlicher tausend Menschen sein werden! Der Vorstellung, für und auf einen beträchtlichen Teil der Menschheit einst zu wirken und gewirkt zu haben, kömmt nichts gleich, als das Gefühl einer Liebe wie die unsrige, als der Gedanke an Deine Treue. Ich beneide Euch alle nicht um die herrlichen Lustbarkeiten, um die schönen Parties de plaisir: meine Partie de plaisir soll angehn, wenn Euch vor den Eurigen ekelt. – –


Von Ulriken.

den 13. Oktober.


– Das heißt man Landleben? Eine Plage auf dem Lande nenne ich das. Da sind wir den ganzen Sommer auf dem Dorfe gewesen und haben uns ganz trefflich ennuyiert, daß wir uns vor Langerweile mit den Köpfen hätten stoßen mögen. Die Fürstin hat dies Jahr die Ökonomie an den Nagel gehängt und ist der Wirtschaft so überdrüssig geworden, als wenn sie mit uns auf unserm Bauergütchen gewohnt hätte. Halb ist sie dafür zur Jägerin und halb zur Fischerin geworden. Ihre kriegerischen Zeitvertreibe haben einen rechten Nimrod aus Deiner friedfertigen Ulrike gemacht: ich bekriege alles, was Odem hat: aber ich lasse mich nur mit der hohen Jagd ein, mit Sperlingen, Meisen und Finken. Die Fürstin mit ihren beiden Leibjägerinnen – denn Fräulein von Limpach hat die Gicht in beide hochwohlgeborne Füße bekommen –, wir drei Jägerinnen haben den ganzen Sommer über wenigstens zehn Pfund Pulver und Blei verschossen, und dem Himmel sei Dank! wenigstens drei Sperlinge und vier Meisen erlegt: den Tod einer Meise habe ich auf meinem Gewissen, aber ich kann es beschwören, daß ich den Mord ohne Vorsatz beging. Gewöhnlich schoß ich immer los, wenn die[753] andern anlegten, um die Vögel zu warnen, daß sie wegflogen: aus der nämlichen christlichen Absicht schieß ich einmal in einen Kirschbaum, und siehe da! es fällt eine Meise herunter. Ich zitterte vor Schrecken und hätte beinahe geweint, als der gute Narr herunterstürzte, nahm sie auf und dachte, er wäre vielleicht wegen Schwäche der Nerven über den Spaß in Ohnmacht gefallen: aber nein, er war tot, sosehr man es nur sein kann. Die Fürstin behauptete, er hätte die Gicht gehabt wie die Limpachin, wäre vor Schreck heruntergefallen und hätte den Hals gebrochen; und ich glaub es gern, damit ich an keinem Totschlage schuld bin. Die armen Vögel in der ganzen umliegenden Gegend waren uns zuletzt so gram geworden, daß sie davonflogen, als wenn sie das Unglück jagte, sobald sich nur eine von uns Scharfschützinnen blicken ließ.

Wenn uns die Hitze das Jagen lästig machte, setzten wir uns an den Fluß und warfen unsre Angeln aus: viele Stunden saßen wir da wie angepflöckt, ohne Bewegung und Sprache, und brachten meistens so viele Weißfischchen zusammen, daß jedermann des Abends bei der Tafel einen halben bekam. Das Langweilige dieser Zeitverkürzung ist unbeschreiblich: wenn die Fische herumgeflogen wären, so hätte ich sie mit dem Munde fangen können, so hab ich gegähnt. Arnold setzte sich bei dieser Gelegenheit durch seine ganz einzige Geschicklichkeit, die Regenwürmer an die Angel zu stecken, in die vollkommenste Gnade bei der Fürstin, die ihn vorher so wenig leiden konnte, daß sie ihn den Hofaffen nannte; aber seitdem er seine Verdienste so vorteilhaft gezeigt hat, gefällt ihr der Mann samt seinen Possen ungemein wohl. Er hat bei unserm Sommeraufenthalte die wichtigste Rolle gespielt: wenn Hitze und Langeweile alle Kraft und Lust zur Tätigkeit niederdrückte, trat er mit dem Apotheker oder, war dieser in der Stadt, mit einem andern Einfaltspinsel auf, und beide spielten zusammen ein burleskes Intermezzo, welches meistens darauf hinauslief, daß der unverschämte Narr den blödsinnigen Narren zu seinem Narren machte. Ich begreife nicht, ob ich das Lachen verlernt habe: die Schwänke,[754] die der Herr von Troppau mit Mr. de Piquepoint und den andern Souffre-douleurs unsrer Abendgesellschaft in Berlin vornahm, belustigten mich zuweilen, daß ich darüber lachen mußte, sooft ich mich ihrer erinnerte; und hier sitze oder steh ich da wie die Bildsäule des Cato, wenn alles rings um mich vor Lachen bersten will: nur der Fürstin zu Gefallen, damit sie meine Ernsthaftigkeit nicht übelnehmen soll, lache ich mit, sooft sie mich ansieht. Ich höre kein Wort von den schalen Einfällen, sondern träume für mich und lache also sehr oft bei Gelegenheiten, wo es gar nichts zu lachen gibt, bloß weil mich die Fürstin anblickt: nun geht wieder das ewige Fragen an, warum ich lache, und ich weiß niemals zu sagen warum, weil ich die rechte Ursache nicht entdecken darf. Entweder mir oder den Possen muß etwas fehlen – vermutlich mir! – Alle Zeitvertreibe sind so kalt, so affektlos, bloße Mittel, die Zeit zu würgen; alle Vergnügen berühren meine Empfindung so flach und dringen mir weder an Geist noch Herz: aber was macht es? – ich sehe nichts mehr mit den Augen der Liebe: die Liebe vergoldete sonst alle Gegenstände um mich her mit Sonnenschein: die Liebe spannte meine Einbildung, daß sie jedem Blatte, jedem Lüftchen, jedem Insekt geheime Beziehungen auf mich mitteilte, gab allem, was um mich war, Regsamkeit, Leben, Interesse, Wärme und erhöhte in mir jedes Gefühl zur Berauschung. Das war eine Welt! – Gott! wenn ich noch an das erste Jahr denke, das wir auf dem Bauergütchen zusammen verlebten! Da hatte alles so einen frischen Anstrich, so eine Lebhaftigkeit, so ein Feuer! Freilich war der frische Anstrich nur in meinem Kopfe und die Lebhaftigkeit und das Feuer nur in meinem Herze: mag es! Ich befand mich doch millionenmal besser dabei als itzo in der kahlen Alltagswelt, wo mir alles so matt, träge, leblos, kalt, ohne Geist und Interesse dahinschleicht wie ein elendes Schattenspiel an der Wand.

Diesen Winter will die Fürstin eine Fabrik bei sich anlegen: Hoffräulein, Hofjungfern und Hofmädchen sollen in ihrem Zimmer sich alle Nachmittage versammeln und spinnen, stricken, nähen, und unsre Fabrikwaren sollen unter die armen[755] Leute ausgeteilt werden. Der Einfall gefällt mir überaus wohl, und die erste Versammlung aller jener Fabrikantinnen, die gleich den Tag nach unsrer Ankunft vom Lande und seitdem nicht wieder geschah, hat mich belustigt, wie mich noch nichts am Hofe belustigt hat. Stelle Dir einmal ein großes Zimmer vor; in der Mitte die Fürstin an einem Tische voll Flachs, Garn, Leinewand, Zwirn, grober und feiner Wolle – lauter Materialien, die sie unter die Arbeiter ihrer Fabrik austeilt! Im Halbzirkel vor ihr sitzen alle ihre Gesellen, bei der Tür schnurren drei Mädchen mit Spinnrädern; daneben die podagristische Limpachin mit einer großen Haspel vor sich, wovon sie grobes baumwollenes Garn zu einem Paar grauen Mannsstrümpfen abwindet; dann ein Mädchen, mit einem Hemde für einen Bettler beschäftigt, der vielleicht seit Jahr und Tag nur kein ganzes gehabt hat; dann ein anders mit einer Kinderhaube unter der Arbeit; und endlich vier bis fünfe, worunter auch meine Wenigkeit gehört, mit Stricknadeln bewaffnet, mit wollnen und zwirnen, großen und kleinen Manns- und Weiberstrümpfen, worunter jede die andre über holen, jede das größte Stück Arbeit liefern will. Die Fürstin strickt für einen alten Mann, den sie vorigen Winter barfuß gesehn hat, ein Paar tüchtige, derbe, warme Winterstrümpfe, und ich arbeite für eine arme, alte Witwe, die der Schlag gerührt hat. Weil ich so gut Märchen erzählen kann, wie man mir schuld gibt, so habe ich unstreitig den wichtigsten Posten in der ganzen Gesellschaft; denn ich muß arbeiten und erzählen. Damals saßen wir mit ununterbrochner Emsigkeit von vier Uhr des Nachmittags bis des Nachts um halb zwölfe, und die kalte Küche, die man des Abends herumgab, wurde nur nebenher eilfertig hinuntergeschlungen, ohne daß es die Arbeit störte, dem Bedienten das Glas abgenommen, hastig ein Schluck getan, und nun gleich wieder an die Arbeit! Wir waren insgesamt so vergnügt und freudig, und dies ganze Bild der Arbeitsamkeit für mich so einnehmend, daß mir meine Märchen noch einmal so lustig gerieten; denn Du mußt wissen, ich habe eine so starke Belesenheit in diesem Fache bei der Fürstin bekommen,[756] daß ich itzt alle Bücher verachte und meine Märchen selber erfinde, oft aus dem Stegreife, und meine selbsterfundnen tun meistens mehr Wirkung als die gedruckten; denn ich mache sie so abenteuerlich, daß meinen Zuhörern alle Sinne vor Verwundrung stillstehn, wie nur so entsetzliche Dinge in der Welt vorgehen können. Ich habe seitdem die Fürstin fleißig an ihre Fabrik wieder erinnert, aber sie scheint an dem ersten Male genug zu haben: wenn das so fortgeht, wird der arme Alte seine warmen Winterstrümpfe wohl unter sechs Jahren noch nicht bekommen, und meine lahme Witwe mag sich auch beizeiten anderswo versorgen, ehe die starke Kälte einbricht. – –


Von Ulriken.

den 16. April.


– – Nun hab ich erfahren, warum den ganzen Winter über die Fürstin so mißtrauisch, so zurückgezogen und kalt gegen mich tat: aber ich möcht es lieber nicht erfahren haben, da es ohne das Unglück einer Person nicht geschehen konnte, die ich freilich für etwas anders hielt, als sie sich nunmehr gezeigt hat. Du wirst vermutlich gehört haben, daß Fräulein Ahldorf neulich den Hof plötzlich verlassen mußte, und vermutlich hat Dir auch das Gerücht hinterbracht, daß ich ihren Abschied bewirkt habe: aber das Gerücht ist eine Lüge, von Leuten erfunden, die mich verhaßt machen wollen. Ich will Dir die wahre Geschichte erzählen.

Die Fürstin war sonst der Fräulein nicht gram, aber auch wegen ihrer erstaunlichen Faselei nicht sonderlich gewogen, und noch den vorigen Sommer auf der Jagd und bei dem Angeln mußte das arme Mädchen beständig Verweise, recht bittre Verweise über ihr läppisches Wesen anhören, und die Fürstin nannte sie immer gegen mich ihren Kammerhusaren. Auf einmal, als wir vom Lande zurückgekommen waren, änderte sich die Szene: ich wurde zurückgesetzt, durfte wenig und zuletzt fast gar nicht mehr um die Fürstin sein: die Ahldorfin bekam alle Gnade und alle Last, die ich vorher genossen und getragen hatte. Ob ich gleich im Grunde mehr Ruhe dabei gewann, so nagte mich doch die Zurücksetzung nicht[757] wenig: jedermann schmeichelte mir sonst, woran mir wenig lag, jedermann wartete mir auf, auf den Wink gehorchte man mir; itzt war ich wie verlassen, man drehte mir den Rücken zu, alle brachten ihren Witz und ihre Höflichkeit der Fräulein Ahldorf zum demütigen Opfer, und niemanden fand ich unverändert als mein Mädchen. Am meisten machte sich noch zuweilen der Fürst mit mir zu schaffen: er spricht sehr gut, wenn er will, und seine Unterhaltung hielt mich für alle andern schadlos; aber sie war niemals lang, weil gleich von allen Seiten Leute herbeikamen, die ihn von meinem Gespräche abzogen. Ich konnte mit allem meinen Verstande die Ursache einer so schleunigen Veränderung nicht erforschen, besonders da Madam Dormer mich so äußerst selten besuchte, niemals kam, wenn ich sie nicht drei-, viermal bitten ließ, und allemal kaum fünf Minuten dablieb. Auf einmal wurde ich letzthin aus meiner Unwissenheit gerissen.

Ich gehe durch das Vorzimmer der Fürstin, um mich zu erkundigen, ob auf den Abend Spiel bei ihr sein wird: ich finde alles leer, aber in ihrem Zimmer wurde stark gesprochen. Die weibliche Neubegierde treibt mich an, ein wenig stillzustehn, um zu hören, ob vielleicht die üble Laune einmal regierte: es war des Fürsten Stimme, und da ich meinen Namen zweimal hintereinander nennen hörte, glaubte ich, mit völligem Rechte neugierig sein zu können, warum er genennt wurde. Der Fürst bat die Fürstin mit seinem eignen gesetzgebenden Tone – er bittet alsdann mit den Worten und befiehlt mit der Stimme –, bat sie ernstlich, der Fräulein Ahldorf augenblicklich den Abschied zu geben. Die Fürstin bat für sie, aber er bestund darauf und befahl der Fräulein, innerhalb einer Stunde das Schloß zu räumen, wofern sie sich nicht größern Unannehmlichkeiten aussetzen wollte. Daß er ihr dies selbst sagte, dazu gehörte ein hoher Grad von Zorn: weil sich die Stimme darauf der Türe näherte, wischte ich davon. Indem ich durch den Gang gehe, der an das Vorzimmer stößt, treffe ich mit einer von den Jungfern zusammen, die auf der andern Seite in dem Nebenzimmer förmlich gehorcht hat. Sie tat so freundlich gegen mich und machte mir eine so tiefe Verbeugung,[758] als ich den ganzen Winter über nicht von ihr bekommen hatte: das war eine gute Vorbedeutung: »O ich habe Dinge gehört!« fing sie an leise auszurufen. »Darf ich mit Ihnen auf Ihr Zimmer gehn? Ich habe Ihnen recht vieles zu sagen, das Ihnen Freude machen wird.« – Ich nahm sie mit mir, und wir waren kaum ins Zimmer hinein, so hub schon die Erzählung in ihrer gewöhnlichen exklamatorischen Manier an. »Ach, ich habe Ihnen Dinge gehört!« rief sie aus. »Ach, ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für Dinge! Ich mußte der Fürstin ein Kleid aus der Garderobe bringen, woran etwas geändert werden soll: indem wir so reden, tritt der Fürst herein. Die Fürstin erschrak über den unvermuteten Besuch, und ich machte, daß ich über Hals und Kopf mit meinem Kleide ins Nebenzimmer kam. Der Fürst sah mir entsetzlich böse aus, und ich horchte deswegen, was es einmal geben würde. Ach, da hab ich Ihnen Dinge gehört! Ich kann's gar nicht sagen.« –

Die Wunderdinge kamen lange nicht zum Vorschein: endlich erfuhr ich folgendes: Der Fürst befiehlt der Fräulein Ahldorf, die auch das Zimmer verlassen will, dazubleiben und fragt sie geradezu, ob sie der Fürstin nicht überredet habe, daß er gestern auf meinem Zimmer gewesen sei; ob sie ihr nicht erzählt habe, daß er da, dort und hier mit mir allein gewesen sei; und eine Menge andere Fragen, die alle ähnliche Beschuldigungen wider ihn und mich enthielten. – Ich kann mir ihn vorstellen, wie er das alles gefragt haben mag: er nimmt in solchen Fällen einen ganz eignen kalten Ernst an. – Da die Fragen vorbei sind, befiehlt er ihr, daß sie gestehn soll. Die Ahldorfin ist vor Schrecken außer sich, weiß sich nicht zu helfen, weint, wirft sich dem Fürsten zu Füßen in der Angst: er befiehlt ihr aufzustehn und gebietet noch einmal mit schärferem Tone, daß sie gestehn soll: in der Furcht beichtet sie alles. Darauf bittet er die Fürstin mit seinem befehlenden Tone, eine solche freche Klätscherin, die sich so unverschämte Lügen erlaubte, nicht länger um sich zu dulden, und befiehlt der Fräulein, das Schloß zu räumen, was ich selber hörte. – Nach dieser Szene wurde ein entsetzlicher[759] Aufruhr; alles setzte sich in Bewegung, Vorbitten einzulegen, aber umsonst. Der Fürst ist in solchen Fällen unerbittlich, besonders wenn es darauf ankömmt, sein Ansehn wider unser Geschlecht zu behaupten, von dem er überhaupt keine hohe Meinung zu haben scheint, so artig und galant er ihm auch begegnet. Von Mannspersonen läßt er sich leicht einnehmen, aber gegen das Frauenzimmer – auch seine eigne Gemahlin dazu gerechnet – steht er auf der Hut, und er gibt eher seinem Kammerdiener nach als der Fürstin: er beleidigt sie nie, sondern behandelt sie mit ungemeiner Achtung und Höflichkeit, aber wenn er einmal etwas befohlen hat und sie bittet, den Befehl abzuändern, dann läßt er sich nicht bewegen, sollte auch ihre Bitte die größte Billigkeit und sein Befehl die größte Unbilligkeit sein. Er soll selbst einmal gesagt haben, daß ein kleiner und großer Fürst das andre Geschlecht achten, aber nicht lieben und ihm alle Bitten abschlagen müsse, damit er ihm keine schädliche gewährte. Ganz genau folgt er seiner Maxime nicht, und bei aller Vorsichtigkeit und allem Mißtrauen muß er sehr vielfältig tun, was die Weiber wollen, wenn sie nur männliche Maschinen dazu gebrauchen: das wird alles durch den dritten, vierten Mann bewerkstelligt. Itzo ist Arnold das große Triebrad, das ihm mit Spaß und feiner Schmeichelei seinen Willen und seine Gedanken umdreht, und dies große Triebrad wird von einem kleinern umgedreht, das Madam Dormer heißt: wer dieses verborgne Rad recht zu seinem Vorteil zu stellen weiß, dem zeigt der Weiser, wie er's wünscht. –


Von Ulriken.

den 27. April.


– – Arnold versichert mich, daß er dem Fürsten die Klätscherei der Fräulein Ahldorf entdeckt hat, und behauptet, daß ihr Bewegungsgrund nicht bloß Neid gegen mich, sondern auch Bosheit gegen den Fürsten gewesen sei, um sich für die Kälte zu rächen, womit er ihre Bemühungen, sich in Gunst bei ihm zu setzen, aufgenommen habe; und sie soll sich ihm in Gunst haben setzen wollen, um sich an der Fürstin für den Vorzug zu rächen, den sie mir so lange Zeit gegeben[760] hat. Es mag kein Wort davon wahr sein; denn da sie in Ungnaden fortgeschickt worden ist, hält es jedermann für seine Pflicht, ihr die abscheulichsten Dinge nachzusagen: sie müßte ein Ungeheuer sein, wenn sie so wäre, wie man sie itzt allgemein abbildet.

Für mich will Arnold bei dem Fürsten und der Fürstin sehr vorteilhaft gesprochen haben, und die allmählich wiederkehrende Gnade der letztern soll sein Werk sein: auch für Dich will er nunmehr sorgen, daß Du aus dem Hause des Präsidenten in einen bessern Platz kömmst. »Ich bin ein rechter Schurke, daß ich an meinen besten Freund nicht eher gedacht habe«, sagte er, »aber ich will's schon einbringen: geben Sie nur acht, was alles aus ihm werden soll.« – Spricht der Mann nicht wie ein wahrhafter Maître-valet! Ich will's ihm herzlich gern glauben, daß er der Urheber meiner neuen Gunst ist, wenn er nur für Dich etwas ausrichtet. Auch kann er wohl die Wahrheit gesagt haben. Wie wollt ich den Mann lieben und achten, so wenig ich es itzo kann, wenn er nur mit einem Finger dazu hülfe, Dich emporzuheben! Der Gedanke, Dich emporgekommen zu sehn, belebt mich inniger und süßer als die neuerlangte Gnade: dann gäb ich ihm die Erlaubnis, ein Stocknarr und ein Erzschurke zu sein, ohne ihn zu hassen.

Madam Dormer gab sich die Ehre, bei dem Vorfalle mit der Fräulein Ahldorf ein wenig zu vorwitzig zu sein, und bekam von der Fürstin ein sehr empfindliches Kompliment darüber. – Die Fürstin ist ihr um der sonderbaren Ursache willen nicht mehr gewogen, weil ihr der Mann davongelaufen ist: sie behauptet, daß allemal die Frau nichts tauge, wenn sich der Mann auf so eine Art von ihr trennt; und Dormer war doch allgemein für den lüderlichsten Menschen unter der Sonne bekannt. Es ärgerte mich, aus so einem seltsamen Grunde einen unverschuldeten Groll auf die arme Frau geworfen zu sehn, und ich wurde in ihrer Verteidigung so warm, daß mir die Backen glühten, als die Fürstin mit mir neulich von ihr sprach; aber sie gebot mir zu schweigen. Wahrhaftig, man könnte über die Witterung der Gnade einen eignen[761] Hofkalender machen: allein ich möchte mich auf diese Wetterprophezeiungen so wenig verlassen als eine Wäsche heute anfangen, weil mir der Almanach morgen schönen Sonnenschein zum Trocknen verspricht. –


Von Ulriken.

den 12. November.


Nur zwei Worte, damit Du weißt, daß ich noch schreiben kann! Diesen Sommer sind wir auf dem Lande Gärtnerinnen gewesen, haben Blumen, Kohl, Gurken gesteckt, gesät, gepflanzt, dem Gärtner alle Beete verdorben und ein schlechtes Jahr gemacht; denn alles unser Gesätes, Gepflanztes und Gestecktes hatte weder Segen noch Gedeihen. Was wir sonst noch getan haben? – Verdruß und Langeweile gehabt. Die beiden Ungeheuer werden mich noch aufreiben. Ach, die schreckliche Leerheit in meinem Herze! – –


Von Herrmannen.

den 3. Dezember.


– Mit Erstaunen habe ich mich neulich von meinem Kalender belehren lassen, daß ich schon zwei Jahre in meinem Platze zugebracht habe. Wie sie mir verflogen sind! als wenn ich sie in Deinen Armen, an Deiner Seite verlebt hätte! Nie glaubte ich, daß Arbeit und eifriges Streben nach einem vorgesetzten Zwecke die Flügel der Zeit so schnell bewegen könnte. Nur die Liebe, bildete ich mir ein, vermöchte das Wunder zu tun, daß Wochen und Monate unbemerkt wie Gedanken dahinflögen: aber nein, auch Tätigkeit und Rennen nach einem festen Ziele vermag es. Wenn mein Nachsinnen ermattete, wenn Verdruß und unerfreuliche Begegnung vom Präsidenten meinen Mut schlaff machte: dann dachte ich, für wen, um wessentwillen ich meine Kräfte anspannte. »Ulrike ist der Kranz«, sagte ich mir, »Ulrike der Lohn, der am Ende der Laufbahn auf dich wartet: laufe, renne, arbeite dich tot oder erringe sie!« – Wie der herabströmende Einfluß einer Gottheit stärkte mich die Aussicht auf einen solchen Lohn, und wenn Zweifel und Unmut mir ihn als entfernt, als zu hoch hängend, als ein bloßes Vielleicht darstellten, dann rang und kämpfte[762] ich mit neuer Arbeit, um die Wahrscheinlichkeit dieses Vielleichts zu erhöhen.

Ich habe ihn geendigt, den Plan, habe mich mit den Verfassungen des Landes, mit den zahlreichen Mängeln und Gebrechen der hiesigen Einrichtung bekanntgemacht, habe mir Kenntnisse aus Büchern und der Erfahrung andrer gesammelt, habe unermüdet gefragt, gesucht, gelesen, gesonnen und so manche nützliche Anstalt und Verbesserung ausgedacht, wodurch dem Ganzen, der Regierung und einzelnen Einrichtungen geholfen werden könnte, habe in meinem Kopfe einen Plan erzeugt, ein Ideal, nach welchem ich bei allen Vorschlägen in meiner künftigen Bestimmung verfahren will. Wie froh bin ich, endlich in eine Laufbahn hingezogen zu sein, wo ich für mehr als meinen Nutzen und mein Vergnügen arbeiten soll; und wer zog mich hin? – Du, Du, Ulrike! Du, deren Hände Leben, Wohlsein, Glück und Ehre über mich verbreiten und noch reichlicher verbreiten werden!

Meine bisherigen Beschwerlichkeiten waren nicht gering: Du seufzest über die aprilmäßige Veränderlichkeit der Gunst, über die Schmerzen, die Dir die schlimme Laune Deiner Gebieterin zuweilen auflegt, über Neid, über Langeweile: von allen diesen Übeln war ich wohl frei, aber mich drückten andre. Der Handlanger – als etwas Bessers kann ich mich fürwahr nicht betrachten –, der Handlanger eines Mannes zu sein, der in dieser Minute, wenn ich seinem Gimpel oder seinen Turteltauben eine Güte getan habe, mir mit brüderlicher, beschämender Vertraulichkeit begegnet und in der folgenden wie ein orientalischer Despot befiehlt und aufgewartet sein will; der in dieser Stunde dringend und treibend mit der äußersten Schärfe etwas anbefiehlt, eine halbe Stunde darauf schon vergißt, daß er's befohlen hat, und das Gegenteil gebietet oder sich wohl gar einbildet, das Gegenteil befohlen zu haben, und zürnend auffährt, wenn man tat, was er ausdrücklich verlangte; der weder Widerspruch noch Entschuldigung erträgt, keine Vernunft hört, weder nach Plan noch Grundsätzen, sondern bloß nach augenblicklichen, vorübergehenden[763] Einfällen handelt und anordnet; der in allem, was er denkt und tut, keine Regel als seinen Eigennutz kennt und keine Mittel verschmäht, ihn zu befördern, wovon ich die himmelschreiendsten Beweise erfahren habe, seitdem ich verpflichtet worden bin und also nicht mehr bloß in seinen Privatgeschäften, sondern auch in Sachen seines Amtes gebraucht werde; dem nicht ein Finger weh tut, wenn gleich das halbe Land zugrunde ginge, und der doch außer sich gerät, sobald sein Gimpel nicht fressen will: – wie muß man sein Gefühl verhärten und seinen Unwillen zurückhalten, welche Leiden und innerliche Kämpfe muß man erdulden, wenn man einem solchen Manne dient. Sein Beruf ist ihm eine leichte Feder, die er spielend dahin bläst, wohin sie der Wind treiben will: ich glaubte von ihm göttliche Weisheit zu lernen, und auch die bekanntesten Dinge, worauf ihn tägliche Erfahrung leiten sollte, sind ihm fremd und unwichtig. Ich bin vor Erstaunen außer mir selbst geraten, wie er mich von sich wies, als ich mir neulich die Freiheit nahm, in einer seiner vertraulichen Launen über verschiedene Einrichtungen und Anstalten zu sprechen, die nach meinem Bedünken dem Lande so not tun, meine Meinung darüber als bescheidne Zweifel und Fragen vorzulegen, worüber ich Belehrung von ihm zu erhalten wünschte: er gebot mir von dergleichen Zeuge zu schweigen, das weder ihn noch mich etwas anginge, und etwas Gescheiteres zu sprechen; und doch waren es Dinge, deren Besorgung seinen Händen anvertraut ist! und doch war dieses gescheitere Gespräch, das er an die Stelle des meinigen setzte, eine Unterredung über die letzte Krankheit seines Gimpels! Aber ich will sie zerbrechen, die schimpflichen Ketten, die Ketten eines Galeerensklaven, die ich bisher ohne Murren getragen habe, weil ich mich erst durch Kenntnisse und Erfahrung in den Stand setzen wollte, allen die Spitze zu bieten, deren Widerstand ich befürchten muß, wenn es mir gelingt, zu den Ohren des Fürsten durchzudringen. Die Unordnungen, Ungerechtigkeiten und widersinnigen Dinge, die ich täglich schreiben muß, lassen mich nicht länger ruhen: ich gehe herum wie ein Mensch, den Gewissensangst[764] peinigt, daß ich alles das weiß und verhehle: ich kann es, so wahr ich lebe, nicht länger verhehlen, wenn ich nicht gleich strafbar mit dem Urheber werden will: ich bin es schon, daß ich meine Hände dazu hergab und es schrieb. Ich will ein Wagestück unternehmen, es gelinge oder nicht: entweder jagt man mich mit Schimpf und Schande fort, oder man erkennt meine gute Absicht und belohnt mich. Sei der Ausgang, welcher es wolle, ich befriedige Ehre und Gewissen; und wenn diese beiden für mich sind, dann mag die halbe Welt wider mich sein, ich fürchte sie nicht.

Beunruhige Dich nicht über mein Unternehmen, da ich Dir es nicht entdecke! Ängstige Dich nicht, wenn Du etwa bald hörst, daß ich plötzlich die Stadt verlassen mußte; wenn alles von mir übel spricht, mir meine Verjagung als eine verdiente Strafe gönnt und jedermann mich der tollsten Unverschämtheit, der Undankbarkeit, der Verleumdung und der Himmel weiß welcher Verbrechen mehr anklagt; das sind alles Stimmen, aus einem Sprachrohre gerufen, um meine Verjagung zu beschönigen und mein Zeugnis wider die Ungerechtigkeit unkräftig zu machen; glaube solchen Nachreden so wenig, als ich dem Gerüchte glaubte, da es Dich beschuldigte, daß Du die Gunst Deiner Fürstin mißbrauchtest, um eine Fräulein Ahldorf zu verdrängen! Ich handle, wie ich soll; und nicht so zu handeln soll mich weder üble Nachrede noch Ansehn, Elend und Mangel, und, was noch mehr als alles dieses ist, selbst die Gefahr, Dich auf immer zu verlieren, nicht bewegen. Wenn ich Dich zurücklassen muß, so tröste Dich über mein Schicksal damit, daß ich mir durch eine so plötzliche Trennung den Märtyrerkranz der Ehrlichkeit erwarb. – –[765]

Quelle:
Johann Karl Wezel: Hermann und Ulrike. Leipzig 1980, S. 747-766.
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