[817] Vielleicht sind die meisten Leser begierig, die Schicksale der vornehmsten Personen, die ihre Aufmerksamkeit in dieser Geschichte an sich gezogen haben, nach dem Ende der Haupthandlung zu erfahren: um ein solches Verlangen zu befriedigen, wird man ihnen hier nach der Reihe von einer jeden erzählen, was aus ihr bis zu diesem Augenblicke, wo die meisten noch leben, geworden ist.
Fürst und Fürstin söhnten sich nicht lange nach Herrmanns Verheiratung, vorzüglich durch seine Vermittelung, wieder aus: der Fürst tat den ersten Schritt dazu, und beide Teile bewiesen durch ihre nachfolgende Einigkeit, daß Fürsten sehr gut sind, wenn sie böse Leute nicht daran hindern. Seitdem die Dormerin ihre Entfernung vom Hofe durch die Übereilung ihrer Leidenschaft bewirkt hatte, verschwanden Kabalen, Intriguen und Ränke, als wenn sie mit ihrer Urheberin entflohen wären: kleine, unbedeutende Feindseligkeiten ausgenommen, wurde der Hof ein Schauplatz der Ruhe und Ordnung, der Fürst vorsichtiger gegen Schmeichler und Ohrenbläser, aufmerksamer auf die Geschäfte und die Fürstin in ihrer Gunst weniger veränderlich und von allem Parteimachen abgeneigt. Ihre Ungnade gegen Herrmann und Ulriken verlor sich allmählich durch des Fürsten Fürspruch so sehr, daß sie sich zuletzt in Gunst verwandelte. Im ganzen Lande zeigten sich Spuren von allen diesen glücklichen Veränderungen: die Aufmerksamkeit des Regenten gab allen Geschäften Leben, Geschwindigkeit und Ordnung: gute Anstalten beförderten den Wohlstand der Einwohner, gaben ihnen Geist und Tätigkeit und entkräfteten durch die Vertreibung des Müßiggangs Laster und Mutwillen: jeder ehrliche[817] Mann war in seinem Posten sicher, weil seine Sicherheit nicht von dem Steigen und Fallen einer Hofpartei, sondern von seinem Verdienste abhing, und kein Schelm entging lange Herrmanns Wachsamkeit. Die Habsucht, womit selbst die geringsten Bedienten unter dem vorigen Präsidenten an sich rissen, was sie unentdeckt an sich reißen konnten, verschwand itzo völlig, weil jedermann richtig empfing, was ihm gehörte, und weder durch Not noch durch das Beispiel seines Obern zu Schelmereien sich für berechtigt hielt.
Der Graf Ohlau starb sehr bald nach Herrmanns Heirat unter Kummer, Unwillen und übler Laune, ohne seine Gesinnungen gegen Ulriken zu ändern. Herrmann verschaffte, wie schon gesagt worden ist, der Gräfin ein kleines Gnadengeld vom Fürsten, und die Dankbarkeit machte sie um soviel gütiger und freundschaftlicher gegen ihn, da sie ihr stolzer Gemahl nicht mehr zwang, härter und unfreundlicher zu sein, als ihr Herz wollte. Sie lebt auf dem Lande, im stillen, zwar ohne Mangel, aber in beständiger Kränklichkeit unter mancher Unruhe über den Verlust ihres vorigen Wohlstandes, ob sie ihn gleich äußerlich ganz verschmerzt zu haben scheint. Unglück und Einsamkeit haben sie sehr andächtig gemacht: sie liest täglich Erbauungsbücher, wird von niemandem als dem Prediger des Orts besucht, der alle Nachmittage eine Betstunde mit ihr halten muß, und achtet alle zeitliche Freuden und Herrlichkeiten für Kot, da sie keine mehr besitzen soll.
Ulrikens Mutter starb schon vor vielen Jahren, als sich Herrmann auf dem Lande aufhielt. Der Sturz mit dem Pferde, der sie hinderte, ihre Tochter von Dresden abzuholen, brachte sie in die Hände eines unerfahrnen Wundarztes, dessen Kur ihr einen offnen Schaden zuzog, daß sie lange Zeit das Bette nicht verlassen konnte: der Unerfahrne wollte den begangnen Fehler wieder gutmachen, heilte den Schaden zu und verursachte ihr Geschwulst und eine Krankheit, woran sie starb. Die Einwohner des Gutes, das ihrem verstorbnen Gemahle gehörte und durch den Konkurs verlorenging, betrachteten nach der gewöhnlichen Denkungsart dieser Leute[818] die Leiden ihrer ehmaligen Gebieterin als Strafen des Himmels für die harte Begegnung, die sie oft von ihrem Zorne und ihrer Peitsche erlitten hatten. Da ihr eignes Vermögen in dem Konkurse mit aufgegangen war, so vertat sie nach dem Tode ihres Gemahls den unbeträchtlichen Rest, den sie mit Mühe noch gerettet hatte: von ihrem herabgekommenen Bruder, dem Grafen Ohlau, konnte sie keine Unterstützung erwarten und war also dem Mangel sehr nahe, und die Furcht vor seiner Nähe mochte sehr viel zu ihrem Tode beitragen. Die Familie liebte sie nicht und vergaß sie und ihre Armut so ganz, daß niemand ihren Tod erfuhr, und der Oberste Holzwerder mußte sich erst besinnen, ob sie gelebt hatte, als ihm Ulrike die Nachricht von ihrem Absterben aus Schwingers Briefe mitteilte, den sie kurz nach ihrer Vermählung mit demjenigen erhielt, den man vorhin gelesen hat.
Siegfried bestrafte sich selbst durch übermäßiges Trinken für seine ehmaligen Bosheiten und Schelmereien, nach des alten Herrmanns Berichte, und zog sich eine schmerzliche Krankheit zu, die seinem elenden Leben ein Ende machte: seine Frau kaufte sich von dem Reste des vertrunknen Vermögens in einem Hospitale ein, und keins von beiden genoß in Ruhe die Früchte der Betrügerei. Ihr Sohn, Jakob, hat schon längst seine verdiente Versorgung auf dem Baue gefunden und wird vermutlich sein unrühmliches Leben dort beschließen.
Die listige heimtückische Vignali und nachmalige Dormerin wußte sich nach ihrer Vertreibung vom Hofe nicht anders zu helfen, als daß sie sich wieder zu einer Schauspielergesellschaft begab, wo sie in aufgewärmten Operetten singt und alle veränderliche Schicksale mit ihr teilt, die eine wandernde kleine deutsche Truppe betreffen können. Sie fühlt die Demütigung des Geschicks so stark, daß sie kaum die Flügel zu einem höhern Schwunge zu erheben wagt: sie hat den dritten Mann genommen und ist dadurch an eine Lebensart gefesselt, wo sie nie großen Fortgang machen wird, weil ihr die deutsche Sprache zu schwer fällt und ihre Intriguensucht ihr bei jeder Truppe sogleich allgemeinen Haß erweckt.
Arnold gelangte nie wieder zu der Gunst des Fürsten, bekam[819] ein Kassiererämtchen und lebte bei mäßigem Einkommen mit Lisetten ruhig und vergnügt.
Der Doktor Nikasius soll, wie man sagt, vor einigen Monaten gestorben sein.
Herrmanns erste Mutter bekam auf ihren kläglichen Brief das Versprechen eines jährlichen Zuschusses von ihm, wenn sie ordentlich für sich leben und sich die übrigen Bedürfnisse durch weibliche Arbeiten verdienen wollte. Sie wohnt in einem Städtchen, spinnt, singt und betet viel und lebt von der Unterstützung ihres Sohns, von ihren beiden Männern getrennt, in unvergleichlichem Wohlbefinden.
Der alte Herrmann kämpft zwar täglich mit körperlichen Schwachheiten und flucht auf das Alter, das ihm den Appetit genommen und geschwollne Füße gegeben hat. Seine Prophezeiung, daß die Zufälle seiner werten Frau Gemahlin, die sie übereilterweise für Merkmale einer glücklichen Schwangerschaft hielt, nichts als Flüsse sein möchten, hat der Ausgang bestätigt. Sie leben beide auf dem Bauergütchen und erwarten in christlicher Geduld, daß ihnen der Himmel ein seliges Ende verleihen möge; und der kleine dicke Pommer als wohlbestallter Ackerknecht im zufriednen Genusse seiner genügsamen Philosophie mit ihnen.
Der Magister Wilibald, der Herrmanns kranke Einbildungskraft und überspannte Ruhmsucht so boshaft hinterging und auf dem Wege zur Bekehrung der Berliner zum Diebe an ihm wurde, machte an einigen Orten so viele Schulden wie in Dresden und ging, um sich vor seinen europäischen Gläubigern zu sichern, als Missionar nach Asien, wo er seine Bekehrungssucht an den armen Heiden so heftig ausließ, daß sie unwillig wurden, ihn griffen, mit dem Ohre an einen Baum nagelten und in dieser Stellung drei Tage fasten ließen: seine Gefährten, die ihn diese drei Tage über vergebens gesucht hatten, befreiten ihn, als sie ihn fanden, und er ließ sich in der Folge in Trankenbar nieder, entsagte dem Bekehrungsgeschäfte und legte sich auf den Handel, wobei er sich itzo leidlich wohl befinden soll.
Held und Heldin der Geschichte genießen noch itzo unverändert[820] die Freuden einer treuen, lang ausgeharrten Liebe: ihre vierjährige Ehe ist mit einem Knaben und einem Mädchen gesegnet, denen die Natur das Bild ihrer Eltern in jedem Zuge eingedrückt hat: in beiden lebt der ernste, feurige Geist des Vaters, durch die sanfte Aufgeräumtheit der Mutter gemildert. Herrmann findet in dem Gespräche seiner Gattin Erholung von dürren, oft verdrießlichen Geschäften und schäkert mit seinen Kindern am Abende die Zahlen aus dem Kopfe, die sich den Tag über darinne angehäuft haben; und keine glücklichere Gruppe kann noch auf der Welt gewesen sein, als wenn er auf dem Sofa sitzt, die kleine lächelnde Karoline auf dem rechten Knie wiegt, Ludwig, mit beiden Armen auf das linke Knie des Vaters gestützt, schäkernd zur Schwester hinaufsieht, und Ulrike danebensteht, den Arm um die Schulter des Mannes schlingt, bald ihm, bald Karolinen die Wangen kneipt, bald dem aufgeheiterten Vater, bald einem ihrer Lieblinge einen Kuß gibt. Mit der geschäftigsten Sorgfalt einer Hausfrau wacht sie über ihre kleine Wirtschaft: denn die vielen Wohltätigkeiten und Unterstützungen, wozu sich Herrmann anheischig gemacht hat, schmälern seine Besoldung so sehr, daß Sparsamkeit nötig ist, um damit auszukommen: aber die Wirtschaftlichkeit seiner Frau ist ihm soviel als verdoppelte Einnahme. Geliebt von seinem Fürsten, geachtet vom Publikum, in einem Posten, wo er den Vorteil einiger tausend Menschen befördern und ihren Beschwerden abhelfen kann; in Umständen, daß er anständig leben, Verachtung mit wohltätiger Großmut und Freundschaft mit Guttaten erwidern kann; in Geschäften, die hinlängliche Abwechslung haben, die Langeweile töten, die Leidenschaften nie zum Sturme emporschwellen lassen und den guten Mut eher beleben als unterdrücken; im Besitze einer so lange geliebten, so schwer errungenen Gattin; glücklich als Mensch, als Bürger, als Gatte, als Vater – welches Los kann herrlicher sein?
Ulrikens Munterkeit ist ganz wieder zurückgekehrt und ihre kleine spielende Imagination ganz wieder erwacht: sie weiß sich als Gattin und als Mutter die Wirklichkeit mit tausend[821] angenehmen Tändeleien und Einbildungen zu versüßen und die Welt um sie her mit einem Anstriche von Lebhaftigkeit zu erhöhen, daß Gegenstände, Handlungen und Begebenheiten nicht so ein phantastisches, lachendes Kolorit für sie haben wie während ihres Traums auf dem Lande, sondern die Vernunft führt itzo über ihre Einbildungen die Aufsicht: sie benehmen der Welt das Alltägliche, Frostige, Matte, ohne die Sorge für die Angelegenheiten des Lebens zu hindern oder zu erschweren. Ihre Kinder als Schäfer und Schäferin zu putzen, ein Lamm von Holz und aufgeleimter Baumwolle mit ihnen zu weiden und in dem gedielten Fußboden sich eine arkadische Flur vorzustellen: Kühe, aus Mehl gebacken, und Schafe von Zuckerteig mit ihnen auf dem Tische zu hüten und Berge von Gras oder Moos darauf zu bauen, an welchen das Vieh hinaufklettern muß, ist nicht bloß Verlangen, die Kinder zu unterhalten, sondern wirkliches Vergnügen für sie: aber wenn ein Hausgeschäfte ruft, fliegt sie ohne Verzug aus ihrem geträumten Arkadien in die Küche, ordnet an und kehrt wieder in ihr Arkadien zurück. Auch mit ihrem Manne fallen oft mutwillige Schäkereien vor, und eine von ihren verliebten Neckereien, einer von ihren naiven Einfällen scheucht mannigmal einen ganzen Schwarm finstrer Wolken von seiner Stirn. Sie wiederholen sich zuweilen Szenen ihres vorigen Lebens und spielen ihr verliebtes Drama oft mit so ganzem Herze, daß etlichemal, wenn sie den Auftritt mit dem sklavonischen Grafen oder einen andern ebenso heftigen mit Vignali vorstellen, der Bediente herbeigelaufen ist, in der Meinung, daß seiner Herrschaft plötzlich etwas zugestoßen sei, weil sie um Hülfe schreie. Die Liebe macht aus ihrem Hause einen Himmel; die Liebe weckt sie aus dem Morgenschlummer und drückt ihnen die Augen zum nächtlichen Schlafe zu; die Liebe schwebt mit ausgebreiteten Fittichen über ihren Häuptern und strömt aus dem nie erschöpften Füllhorne den Lohn der Treue und Beständigkeit herab.
Buchempfehlung
Der junge Königssohn Philotas gerät während seines ersten militärischen Einsatzes in Gefangenschaft und befürchtet, dass er als Geisel seinen Vater erpressbar machen wird und der Krieg damit verloren wäre. Als er erfährt, dass umgekehrt auch Polytimet, der Sohn des feindlichen Königs Aridäus, gefangen genommen wurde, nimmt Philotas sich das Leben, um einen Austausch zu verhindern und seinem Vater den Kriegsgewinn zu ermöglichen. Lessing veröffentlichte das Trauerspiel um den unreifen Helden 1759 anonym.
32 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro