1.

[157] »Herr Danischmend, ein paar Worte, ehe wir weiter gehen«, sagte der Sultan. »Wenn es ohne der historischen Wahrheit Gewalt anzutun, geschehen könnte, daß du uns auf diesen Azor, der (unter uns!) die Erlaubnis schwach zu sein ein wenig zu sehr mißbraucht, diesen Abend einen guten König gäbest, so würdest du mir keinen kleinen Gefallen erweisen. Ich weiß wohl, die Geschichte soll den Fürsten nicht schmeicheln; und dies aus einem gedoppelten Grunde: erstens, weil es genug ist, daß uns in unserm Leben geschmeichelt wird; und dann, weil die Wahrheit, die man nach unserm Tode von uns sagt, uns nicht mehr schaden, der Welt hingegen nützen kann. Aber ich möchte doch auch nicht, daß es so heraus käme, als ob ich mir alle Abende in meinem Schlafzimmer eine Satire auf die Sultanen von Scheschian machen ließe. Ich erinnere mich irgendwo gelesen zu haben, ein Mensch sollte nichts, was einen Menschen angeht, für fremd ansehen; und ich sehe nicht ab, warum wir Sultanen uns nicht in dem nämlichen Falle befinden sollten. Mit Einem Worte, ich interessiere mich für die Sache, und dies ist, denke ich, genug.«

»Ihre Hoheit befehlen also daß ich den Sultan Isfandiar überhüpfe?« fragte Danischmend –

»Eine weise Frage!« antwortete Schach-Gebal. »Ich muß doch wohl zuvor wissen, wer Sultan Isfandiar war, eh ich sie beantworten kann!«

»Er war Azors unmittelbarer Nachfolger, sein einziger Sohn von der schönen Alabanda, und einer von den scheschianischen Sultanen, deren Regierung einer förmlichen Satire auf böse Fürsten ähnlich sieht.«

»Er war also noch schlimmer als Azor?«

»Um Vergebung, Sire! Azor war in der Tat kein böser Fürst; er war nur schwach. Isfandiar hingegen« – –

»Gut, gut«, fiel ihm der Sultan ins Wort: »wir wollen immerhin Bekanntschaft mit ihm machen, wenn es auch nur wäre, weil er ein[157] Sohn der schönen Alabanda war, die ich, bei allem Bösen was du uns von ihr sagtest, dennoch sehr liebenswürdig finde. Und aus eben diesem Grunde ersuch ich dich, den armen Isfandiar so leicht davon kommen zu lassen als du immer kannst.«

»Wofern« (sagte Danischmend) »unter dem Worte Satire eine Rede oder Schrift verstanden wird, worin man zur Absicht hat jemanden verhaßt oder lächerlich zu machen: so verhüte der Himmel, daß mir jemals der Gedanke einfalle, eine Satire auf Fürsten zu machen, und wenn es auch nur über den König Tonos Konkoleros, oder einen der alten Pharaonen in Ägypten wäre. Aber unglücklicher Weise hat es unter den Großen zu allen Zeiten einige gegeben, deren Leben eine Satire auf sie selbst war; ich will sagen, die sich durch ihre Torheiten verächtlich und durch den Mißbrauch ihrer Gewalt verhaßt gemacht haben, ohne daß der Biograph, der den Auftrag erhielt ihre Geschichte zu erzählen, die mindeste Schuld an der Sache hatte. Ich besorge, der Sultan Isfandiar war in diesem Falle, und daher« – –

»Immerhin!« rief der Sultan: »das Böse, das du von ihm sagen wirst, bleibt unter uns. Erinnere dich nur, daß ich unnötige Vorreden hasse.«

»Sire« (fing Danischmend an), »Isfandiar war, wie gesagt, Azors und Alabandens einziger Sohn, und der jüngste von verschiedenen, welche seine Sultaninnen ihm geboren hatten. Er wurde, ungeachtet der Entfernung seiner Mutter von dem Herzen des Königes, bei Hof erzogen – wie die scheschianischen Prinzen damals erzogen zu werden pflegten.«

»Dies ist gerade, was wir wissen wollen«, sagte Schach-Gebal.

»Er hatte die geschicktesten Lehrmeister in allen den Wissenschaften und Künsten, welche sich (wie man zu sagen pflegt) für einen Prinzen schicken. Er lernte von der Mathematik so viel, daß er ein Dreieck kunstmäßig von einem Viereck unterscheiden konnte. Er wußte, zum Beweise seiner geographischen Kenntnisse, die Namen aller Flüsse, Seen, Berge, Provinzen und Städte von Scheschian herzusagen; und, um eine Probe seiner Stärke in der Philosophie zu geben, verteidigte er in seinem dreizehnten Jahre öffentlich einen sehr tiefsinnigen Beweis, daß ein Ding – ein Ding ist, und so lang und so fern als es ist was es ist, nicht zugleich etwas andres sein kann als es ist. Sein Lehrer in der Staatswissenschaft hatte nichts Angelegeners, als ihm die ausgebreitetste Kenntnis von dem Umfang und den Rechten der höchsten Gewalt, und von den unzählbaren Mitteln und Wegen, wie man sich mit guter Art des Eigentums[158] seiner Untertanen bemächtigen kann, beizubringen. Hingegen nahm sich sein Lehrer in der Moral sehr in Acht, die Zärtlichkeit seines Ohres durch Erwähnung des unangenehmen Wortes Pflichten zu beleidigen. Er bildete sich ein, es vortrefflich gemacht zu haben, wenn er dem Prinzen, in zierlich gedrehten Perioden oder durch rührend ausgemalte Beispiele, Gerechtigkeit und Wohltätigkeit als die höchsten Tugenden eines Fürsten vorschilderte. Aber der Ton, worin er von diesen Tugenden schwatzte, das unbesonnene und übertriebene Lob, womit er einige Fürsten wegen ziemlich zweideutiger Handlungen dieser Art unter die Götter versetzte, mußte natürlicher Weise eine verkehrte Wirkung bei seinem Untergebenen tun. Der junge Isfandiar machte sich von Gerechtigkeit und Wohltätigkeit einen Begriff, der für das Glück seiner künftigen Untertanen gänzlich verloren ging. Er glaubte, die Ausübung dieser Tugenden hange bloß von seiner Willkür ab; und er mutmaßte auch nicht von ferne, daß sie allein durch ihre unzertrennliche Verbindung zu Tugenden werden, und daß die unermüdete Bestrebung, beide in dem ganzen Umfang des Regentenamtes auszuüben, eine so wesentliche Fürstenpflicht sei, daß derjenige, welcher sie funfzig Jahre lang in der höchsten Vollkommenheit ausgeübt hätte, beim Schlusse seines Lebens kein andres Lob verdient hätte, als das Zeugnis seine Schuldigkeit getan zu haben. Kurz, der höfische Mentor hatte keinen Begriff davon, daß man einem jungen Fürsten die Ausübung aller Tugenden, von welchen das Wohl seiner Untergebenen und die möglichste Vollkommenheit seines Staates abhängt, unter der Gestalt von Verbindlichkeiten vorstellen müsse, deren Forderungen eben so dringend als unverletzlich sind; es sei nun, daß man sie von den Gesetzen des höchsten Wesens, als des Königs über die Könige, oder von einem gesellschaftlichen Vertrag ableite, vermöge dessen derjenige, der die meisten Rechte zu haben scheint, gerade der ist, der die meisten Pflichten hat.«

»Ohne Unterbrechung, Herr Doktor«, sagte der Sultan: »ich sollte doch denken, der Sittenlehrer des jungen Prinzen Isfandiar habe nicht so ganz unrecht gehabt, ihm das, was ihr die Pflichten der Fürsten nennt, unter einer gefälligen Gestalt zu zeigen. Das Wort Pflicht ist ein hartes Wort: es hat für die Untertanen selbst einen widrigen Ton; wie sollten wir andere unsere Ohren daran gewöhnen können? Wir werden die Tugend immer liebenswürdiger finden, wenn unsere Neigung zu ihr freiwillig ist, als wenn sie uns mit Gewalt aufgebürdet wird.«[159]

»Um Vergebung, gnädigster Herr«, erwiderte der freimütige und unhöfische Danischmend. »Es gibt ein weniger gefährliches Mittel uns unsere Pflichten angenehm zu machen. Anstatt uns zur Tugend durch Lobeserhebungen anzuspornen, welche die Ausübung unserer Schuldigkeit zu einem Gegenstande der Ruhmsucht und Eitelkeit machen, würde besser getan sein, uns zu überzeugen, daß die Vollziehung unsrer Pflichten mit den unmittelbarsten und wichtigsten Vorteilen und mit dem reinsten Vergnügen verbunden ist. Immerhin mag auch des Ruhmes, als des natürlichen Begleiters guter Taten, erwähnt werden. Aber zu bedauern ist der Fürst, dessen Herz nicht empfindsam genug ist, das Vertrauen und die Liebe seines Volkes allen Lobgedichten, Ehrendenkmälern, Bildsäulen, Schaumünzen und Inschriften vorzuziehen, womit Dankbarkeit oder Schmeichelei seine Taten verewigen können. Wie wenig wahre Befriedigung können ihm diese geben! denn wie oft sind sie nicht an Tyrannen und namenlose Könige verschwendet worden!«

»Danischmend hat nicht ganz unrecht«, sagte der Sultan, der diesen Abend in der Laune war, seinen Philosophen schwatzen zu hören: »der Moralist des Prinzen Isfandiar war, wie es scheint, ein zu guter Höfling, um ein guter Sittenlehrer zu sein.«

»Gleichwohl« (fuhr Danischmend fort) »war sein Lehrer in der Geschichte noch schlimmer, wiewohl unstreitig der gelehrteste Mann in seiner Art, den man im ganzen Reiche hatte finden können. Die Geschichte war das Lieblingsstudium des Prinzen, und wirklich erwarb er sich eine Fertigkeit darin, womit er bei tausend Gelegenheiten sich und seinem Lehrer Ehre machte. Dieser erhielt zur Belohnung die Stelle eines königlichen Geschichtschreibers mit einer großen Pension. Konnte der gute Sultan Azor sich einfallen lassen, daß der Mann, den er so edel belohnte, die Oberstelle auf einer Ruderbank verdient habe? Und doch war nichts gewisser.

Das Amt eines Lehrers der Geschichte bei einem jungen Fürsten erfodert einen Mann, der mit der wärmsten Rechtschaffenheit einen tief sehenden und viel umfassenden Blick, und das reinste sittliche Gefühl mit der scharfsinnigsten Unterscheidungskraft vereiniget. Keine geringern Eigenschaften setzt die vollkommene Gerechtigkeit voraus, welche er in Zeichnung der Charakter und in Beurteilung der Handlungen, sowohl aus dem sittlichen als politischen Gesichtspunkt, auszuüben hat. Er muß (wenn es mir erlaubt ist, mich durch ein Beispiel verständlicher zu machen) in Alexandern einen dieser außerordentlichen Sterblichen erkennen, welche die Natur zu Ausführung ungewöhnlich großer Dinge gebildet hat;[160] welche, wie die Götter Homers, eine Mittelklasse zwischen Menschen und höhern Wesen ausmachen, und daher in ihren Lastern wie in ihren Tugenden mehr als gewöhnliche Menschen sind. Er muß jedem seiner Vorzüge, jeder seiner Tugenden ihr Recht widerfahren lassen, ohne seiner Laster um jener willen zu schonen, oder die Schönheit von jenen um dieser willen zu mißkennen. Er muß fähig sein, in dem großen Entwurfe dieses wohltätigen Eroberers einen ganz andern Geist zu entdecken, als derjenige war, der die Attilas antrieb den Erdboden zu verheeren. Er muß einem Manne, der zum Beherrscher der Welt geboren war,33 aus der erhabenen Leidenschaft, große Taten zu tun, kein Verbrechen machen; einer Leidenschaft, welche an einem kleineren Geist Ehrgeiz gewesen wäre, aber bei jenem der angeborne Enthusiasmus einer Heldenseele war. Aber weh ihm, wenn er nicht empfindet, daß der Sieg bei Arbela nicht mehr war, als was zwanzig andre griechische Feldherren eben so gut hätten bewerkstelligen können als Alexander; und daß hingegen eine fast übermenschliche Größe der Seele dazu erfodert wurde, den Arzneibecher aus der Hand seines Leibarztes zu nehmen und mit ruhig heiterm Lächeln auszutrinken, während er demselben mit der andern Hand den Brief hinreichte, worin ihm entdeckt wurde, daß dieser Arzt durch Versprechungen, welche einen Heiligen verführen könnten, bestochen sei, ihm Gift zu geben! Weh ihm, wenn er nicht empfindet, daß Alexander, da er lieber brennenden Durst leiden, als etliche seiner Soldaten des Wassers, welches sie ihren schmachtenden Kindern in ihren Helmen zutrugen, berauben wollte, ein größerer Mann war, als da er, von Feldherren und Königen umgeben, zum ersten Mal vom Thronhimmel der persischen Sultanen auf das besiegte Asien herab sah; oder wenn er nicht empfindet, daß der überwundene Darius, in dem Augenblicke, da er, gerührt von dem edlen Betragen seines Siegers gegen seine Gemahlin und Kinder, niemand als Alexandern für würdig erklärte den Thron des Cyrus zu besteigen, – größer als Alexander war; – Alexander hingegen in dem Augenblicke, da er, berauscht von der wollüstigen Pracht der persischen Könige, beim Eintritt in das innere Gezelt des Darius ausrief: Dies nenn ich König sein! von der Hoheit eines Halbgottes zum gemeinen Erdensohn herunter sank![161]

Weit entfernt von dieser Feinheit und Wärme des sittlichen Gefühls, urteilte der gelehrte Mann, der den jungen Isfandiar durch die Geschichte zu einem Könige bilden sollte, von den Großen und ihren Handlungen nach keiner bessern Regel, als nach dem Schein den sie von sich warfen, und (in allen Fällen, wo er keine besondere Ursache hatte zu loben, was er nach seinen Grundsätzen hätte tadeln müssen) nach den Vorurteilen der übel zusammen hängenden, schwärmerischen, in einigen Stücken überspannten, in andern allzu schlaffen Sittenlehre, an welche er in den Schulen der Bonzen auf eine mechanische Weise angewöhnt worden war. Jeder Eroberer hieß ihm ein Held, jeder freigebige Fürst großmütig, jeder schwache Fürst gut. Vornehmlich machte er sich zur Pflicht, dem Prinzen von den Fürsten seines Stammes immer die vorteilhaftesten Begriffe zu geben, wiewohl es größten Teils auf Unkosten der Wahrheit geschehen mußte. Er malte alles ins Schöne; er vergrößerte ihre guten oder erträglichen Eigenschaften, stellte ihre Laster in den tiefsten Schatten, und entschuldigte durch sophistische Spitzfindigkeiten was sich nicht verbergen ließ. Kurz, er behandelte ihre Geschichte nicht anders, als ob die Begriffe vom Guten und Bösen, sobald sie auf einen Großen angewendet werden, willkürlich würden, oder als ob der königliche Mantel durch eine talismanische Kraft jedes Laster, das er bedeckt, in eine schöne Eigenschaft verwandeln könnte. – ›Man muß gestehen‹ (pflegte er von einem offenbaren Tyrannen, oder von einem in Üppigkeit versunkenen Wollüstling zu sagen), ›daß dieser große Sultan in einigen Handlungen seines Lebens die Strenge, welche durch die Umstände seiner Zeiten notwendig gemacht wurde, etwas weiter getrieben hat als zu wünschen war‹ – oder: ›Es ist nicht zu leugnen, daß seine Neigung zu den Ergetzungen nicht immer in den Schranken der weisesten Mäßigung blieb; aber diese Schwachheiten‹ (setzte er hinzu) ›wurden durch so viele große Eigenschaften vergütet, daß es eben so unbillig als unehrerbietig wäre, sich dabei aufzuhalten.‹

Der junge Prinz hätte nicht so schlau sein müssen als er war, wenn er sich nicht einige kleine Grundsätze hieraus gezogen hätte, welche das wenige Gute, das der Unterricht seines Sittenlehrers in seinem Gemüte übrig gelassen hatte, vollends vernichteten; zum Beispiel: Daß die Laster eines Fürsten ein Gegenstand seien, von welchem man mit Ehrerbietung reden müsse; daß ein Fürst um so weniger vonnöten habe seinen schlimmen Neigungen Gewalt anzutun, weil es immer in seiner Macht stehe, das Böse, das er tut, wieder zu vergüten; daß man es einem Sultan desto höher anrechnen müsse,[162] wenn es ihm gefällt einige gute Eigenschaften zu haben, weil es bloß an ihm lag, ungestraft so schlimm zu sein als er nur gewollt hätte, und dergleichen mehr. Der junge Isfandiar ermangelte nicht, aus diesen und ähnlichen Sätzen, welche aus der verkehrten Weise, wie ihm die Geschichte beigebracht wurde, zu folgen schienen, sich eine geheime Sittenlehre zu seinem eigenen Gebrauch zu bilden, welche desto gefährlicher war, da sein von Natur wenig empfindsames Herz keine Neigungen hatte, welche seinen Launen und Leidenschaften das Gegengewicht hätten halten können.

Ich habe mich, nicht ohne Gefahr dem Sultan meinem Herrn lange Weile zu machen, bei der Erziehung des Prinzen Isfandiar verweilt, weil ich überzeugt bin, daß sie großen Teils an den Torheiten und Lastern schuld ist, welche die Regierung dieses unglücklichen Fürsten auszeichnen.«

»Aber, wenn dies wäre«, sagte Schach-Gebal, »wie viele Königssöhne in der Welt müßten eben so schlimm sein, als dein Isfandiar! Denn ich bin gewiß, daß unter zehen kaum Einer ist, der sich einer bessern Erziehung rühmen kann.«

»Sire« (antwortete Danischmend), »dieses letzte als eine Erfahrungssache vorausgesetzt, ließe sich schließen, die meisten Fürsten würden, durch eine besondere Vorsehung welche für das Beste der Menschheit wacht, mit einer so vortrefflichen Anlage in die Welt geschickt, daß sie alles dessen was die Erziehung an ihnen verderbt ungeachtet, immer noch gut genug blieben, um uns zu zeigen wie vortrefflich sie hätten werden können, wenn der Keim der Vollkommenheit in ihnen entwickelt und zur Reife gebracht worden wäre.«

»Wofern dies nicht etwann Ironie ist«, sagte Schach-Gebal lächelnd, »so bedanke ich mich bei dir im Namen aller, die bei dieser sehr verbindlichen Hypothese etwas zu gewinnen haben.«

»Ich empfinde meine Pflicht zu stark« (erwiderte Danischmend), »um von einer so ernsthaften Sache anders als in vollem Ernste zu reden. Und ich denke, nichts kann dem hohen Begriff, den wir uns von der Güte des unsichtbaren Regierers der Welt zu machen schuldig sind, gemäßer sein, als der Gedanke, daß er (ordentlicher Weise wenigstens) nur die schönsten Seelen zu seinen Unterkönigen in den verschiedenen Teilen des Erdkreises ernenne.«

»Wenn mir erlaubt ist meine Meinung über eine Sache von dieser Wichtigkeit zu sagen«, sprach die schöne Nurmahal, »so denke ich, Danischmend habe niemals etwas Wahrscheinlicheres gesagt. Wäre es nicht so wie er behauptet, so dünkte mich unerklärbar, woher es komme, daß unter zwanzig großen Herren kaum Einer so schlimm[163] ist, als sie alle zwanzig sein sollten, wenn man bedenkt, was die Lebensart, worin sie aufwachsen, die verkehrten Begriffe, welche sie unvermerkt einsaugen, die Mühe, die man sich gibt, durch Schmeichelei, niederträchtige Gefälligkeit und schlaue Verführungskünste ihren Kopf und ihr Herz zu verderben, bei gewöhnlichen Menschen für eine Wirkung tun müßten.«

»Ich zweifle nicht, meine guten Freunde«, sagte der Sultan, »daß alles dies eine abgeredete Schmeichelei ist, die ihr mir sagen wollt. Indessen ist doch wenigstens die Wendung, die ihr dazu genommen habt, zu loben. Aber ich sehe nicht, Danischmend, was der Taugenichts Isfandiar dabei gewinnen kann.«

»In der Tat«, versetzte Danischmend, »es mangelte ihm, wie ich bereits erwähnte, an dem Kostbarsten, was die Natur einem Sterblichen, sie mag ihn zum Pflug oder zu einer Krone bestimmt haben, geben kann, an einer empfindsamen Seele. Diesen Mangel kann auch die vollkommenste Erziehung nicht ganz ersetzen; aber, da sie doch wenigstens etwas tun kann (denn warum sollte sich die Natur nicht eben sowohl verbessern als verschlimmern lassen?), so sind in einem solchen Falle die Leute, deren Amt dies ist, desto größere Verbrecher, wenn sie darin saumselig sind.«

»Vermutlich fehlten sie mehr aus Ungeschicklichkeit als aus Bosheit«, sagte die Sultanin.

»Ich würde selbst nicht strenger von ihnen geurteilt haben«, erwiderte Danischmend, »wenn es weniger gewiß wäre, daß diese Herren (wiewohl sie ihre wahre Absicht unter der gewöhnlichen Phraseologie von Menschenliebe, Patriotismus und Uneigennützigkeit verbargen) insgesamt kein höheres Augenmerk hatten, als ihr Glück zu machen; ein Zweck, den sie am gewissesten zu erhalten glaubten, wenn sie keine Gelegenheit versäumten, sich durch eine wenig bedenkliche Gefälligkeit in das Herz des künftigen Thronerben einzustehlen.

So fehlerhaft indessen die Erziehung dieses Prinzen war, so würde doch der Schade, den sie ihm zufügte, nicht unheilbar gewesen sein, wenn er nicht das Unglück gehabt hätte, einem gewissen Kamfalu in die Hände zu fallen, der ein Bösewicht aus Grundsätzen, aber der angenehmste Bösewicht war, den man jemals gesehen hatte. Ich werde, um dem Charakter dieses Menschen sein gehöriges Licht zu geben, genötiget sein, eine kleine Digression in die Gelehrtengeschichte der damaligen Zeit zu machen.

Es lebte damals ein Schriftsteller, namens Kador, der sich von dem großen Haufen der moralischen Schreiber seiner Zeit durch eine[164] Art von Antipathie gegen alles Aufgedunsene und Gezierte in Empfindungen, Begriffen und Sitten, und überhaupt durch eine merkliche Entfernung von der Kunstsprache sowohl als von den Maximen jenes großen Haufens unterschieden hatte. Es ist natürlich, daß die besagten Schreiber mit diesem Unterschied um so weniger zufrieden waren, weil das Publikum zwischen ihren Schriften und den seinigen noch einen andern Unterschied machte, der ihrer Eitelkeit nicht gleichgültig sein konnte. Man las nämlich seine Werke mit einem Vergnügen, welches immer die Begierde zurück ließ sie wieder zu lesen; da hingegen die ihrigen ordentlicher Weise nur zum Einpacken der seinigen gebraucht wurden. Sie hätten mehr oder weniger als gewöhnliche Menschen sein müssen, wenn sie dieses nicht sehr übel hätten finden sollen. Sie suchten den Grund davon nicht in der schlechten Beschaffenheit der übel zubereiteten und unverdaulichen Nahrung, welche sie dem Geist ihrer Zeitgenossen vorsetzten, sondern (wie natürlich war) in der Verdorbenheit des menschlichen Herzens, welchem Kador, ihrem Vorgeben nach, auf die unerlaubteste Weise schmeichelte. Denn der scherzende Ton, worin er zuweilen sehr ernsthafte Wahrheiten sagte, und die launige Freimütigkeit, womit er der Heuchelei die Maske abnahm und der Verblendung die Augen öffnete, waren in den ihrigen untrügliche Zeichen seines bösen Willens gegen die Tugend. In der Tat dachte Kador von den Tugenden der Sterblichen nicht ganz so günstig, als diejenigen, welche selbst für Muster angesehen werden wollen, zu wünschen Ursache haben. Er leitete die meisten praktischen Urteile und Handlungen der Menschen aus den mechanischen Wirkungen physischer Ursachen, oder aus den geheimen Täuschungen der Einbildung und des Herzens her; und je erhabener die Beweggründe waren, aus welchen jemand zu handeln vorgab, desto größer war das Mißtrauen, welches er entweder in die Redlichkeit dieses Jemands oder in die Gesundheit seines Gehirnes setzte. Wiewohl er überhaupt eine sehr gute Meinung von der menschlichen Natur hegte, so behauptete er doch, sie sei binnen etlichen tausend Jahren, durch die unaufhörliche Bemühung an ihr zu künsteln, zu bessern und zu putzen, so übel zugerichtet worden, daß es leichter sei an einem verstümmelten Götterbilde die Majestät des Gottes, den es vorgestellt, als in den menschlichen Karikaturen, die sich vor unsern Augen herum bewegen, die ursprünglich schöne Form der Menschheit zu erkennen. Indessen gab es doch, seiner Meinung nach, immer eine Anzahl schöner Seelen, welche (durch glückliche Zufälle, oder, wie er geneigter war zu glauben, durch die geheimen[165] Veranstaltungen einer wohltätigen Gottheit), wo nicht ganz unverstümmelt, doch wenigstens nur mit leichten Beschädigungen, noch ganz leidlich davon gekommen wären. Er erklärte sich für den wärmsten Liebhaber dieser schönen Seelen: von ihnen allein dacht er gut; ihnen allein traute er jede edle Gesinnung, und die Fähigkeit, der Tugend große Opfer zu bringen, zu. Die übrigen mochten noch so künstlich angestrichen, noch so gothisch herausgeputzt, in noch so weite und lang schleppende Mäntel eingehüllt sein, kurz, sich noch so viele Mühe geben, durch entlehnte Zieraten und äußerliche Formen von Weisheit und Tugend Hochachtung zu erwecken: an ihm verloren sie ihre Mühe. ›Es sind Pagoden‹, pflegte er lächelnd zu sagen, ›welche sehr wohl tun, sich, wie die sinesischen, in weite Mäntel zu hüllen; durchsichtiges Gewand würde ihre Ungestalt zu sichtbar machen.‹ Kador mochte wohl so unrecht nicht haben, als die Pagoden, seine Gegner, die Welt gern überredet hätten. Gewiß ist, daß der bessere Teil der Welt sich nicht überreden lassen wollte, und daß er gerade so viele gesunde Köpfe und schöne Seelen, als man ihrer damals in Scheschian zählte, auf seiner Seite hatte. Selbst diejenigen, welche nicht in allen Stücken seiner Meinung waren, billigten sowohl seine Absichten als die Mittel wodurch er sie ausführte, und erkannten in ihm den aufrichtigen Liebhaber des Wahren, und den wohl meinenden Freund der Menschheit. Aber zufälliger Weise hatte er das Mißvergnügen, daß einige seiner Grundsätze von einer Art von Leuten gemißbraucht wurden, denen es gleich stark an feinerem Gefühle des Herzens und an Richtigkeit der Beurteilung mangelte. Das Wahre grenzt immer so nah an den Irrtum, daß man keinen großen Sprung vonnöten hat, aus dem sanft sich empor windenden Pfade des einen in die reizenden Irrgärten des andern sich zu verirren. Diese Leute gaben sich das Ansehen, dem besagten Schriftsteller in allem beizustimmen, einen einzigen Punkt ausgenommen. ›Er hat recht‹, sagten sie, ›so lang er in seinem wahren Charakter bleibt, so lang er das Eitle der menschlichen Begriffe und Leidenschaften schildert, und das Lächerliche ihrer Forderungen an Weisheit und Tugend aufdeckt. Aber er schwärmt selbst, sobald er von schönen Seelen, von der Zauberei der Empfindung, von Sympathie mit der Natur, und von der Göttlichkeit der Tugend fabelt. Es gibt keine schöne Seelen, und nur ein Tor glaubt an die Tugend. Was die Menschen Tugend nennen, besteht, wie die Münze in gewissen Ländern, in einer Anzahl abgeredeter Zeichen, welche man unter einem gewissen Stempel für einen gewissen Preis in Handel und Wandel gelten zu lassen übereingekommen ist. Der innere Wert[166] kommt dabei gar nicht in Betrachtung. Dem Korn nach ist eben so wenig Unterschied zwischen dem Schelm, der gehangen wird, dem Nachrichter, der ihn hängt, und dem Richter, der ihn hängen läßt, als zwischen dem geschmeidigen Europäer, dem aufgeblasenen Perser, dem andächtigen Armenier, dem höflichen Sinesen, und dem rohen Kamtschadalen. Das Gepräge macht den ganzen Unterschied.‹

Die Leute, welche so dachten, fanden bald Anhänger genug, um eine zahlreiche Sekte auszumachen. Sie nannten sich die Philosophen, und wer nicht von ihrer Brüderschaft war, hatte die Freiheit von den Titeln Betrüger oder Schwärmer welchen er wollte auszuwählen. Denn nach ihren Grundsätzen mußte er notwendig eines von beiden sein. Der ehrliche Kador erfuhr die Kränkung, von der kurzsichtigen Menge mit diesen anmaßlichen Philosophen in Eine Linie gestellt zu werden, weil sie zuweilen seine Sprache redeten, und in gewissen Stücken eben das zu tun schienen, was Er getan hatte. Man konnte oder wollte nicht gewahr werden, daß nichts verschiedener sein konnte, als der Geist, welcher ihn, und der welcher diese Philosophen beseelte, und als der Endzweck, den Er und Sie sich vorgesetzt hatten. Wenn Er des Schwärmers spottete, und den Afterweisen, den Betrüger, oder den Selbstbetrogenen ihrer Ansprüche an Weisheit und Tugend entsetzte: so geschah es auf eine Weise, welche in Personen von gesundem Urteile keinen Zweifel veranlassen konnte, daß er es nicht redlich mit Wahrheit und Tugend meine. Wenn Sie hingegen eben dies zu tun schienen, fiel es in die Augen, daß ihre Absicht sei, die Tugend selbst lächerlich zu machen, und den ewigen Unterschied zwischen wahr und falsch, Recht und Unrecht aufzuheben. Der Schmerz, sich mit einer Klasse von Menschen, die er verachtete, vermengt zu sehen, und die Gefahr, durch den Mutwillen der einen und den Unverstand der andern wider seinen Willen Böses zu tun, brachte ihn, ohne daß er sich einen Augenblick bedachte, zu der einzigen Entschließung, welche in solchen Umständen eines ehrlichen Mannes würdig war. Er erklärte sich öffentlich, und mit Verachtung des Tadels und der Vorwürfe, welche er von beiden Gattungen zu erwarten hatte, für die Sache der Tugend. Aber da er, seiner Überzeugung treu, fortfuhr, keine Tugend gelten zu lassen, welche nicht, zum untrüglichen Zeichen ihres innern Wertes, mit dem Stempel der schönen Natur bezeichnet war: so erfolgte was er vorher gesehen hatte. Die besagten Philosophen und der Pöbel der Moralisten waren in gleichem Grade unzufrieden mit ihm. Beide fanden in seinen Schriften so viel Vorwand[167] als sie nur wünschen konnten, seine Grundsätze und seine Absichten in ein falsches Licht zu stellen; und am Ende zeigte sich, daß er mit allen seinen Bemühungen nichts gewonnen hatte, als die kleine Zahl der Vernünftigen in der Überzeugung zu stärken: Daß Blödigkeit des Geistes und Verkehrtheit des Herzens gleich unheilbare Übel sind; daß es zwar nicht unmöglich ist, durch mechanische Mittel den großen Haufen der Menschen zu einer ganz leidlichen Art von – Tieren zu machen; aber, daß Weisheit und Güte ewig ein freiwilliges Geschenk bleiben werden, welches der Himmel nur den schönen Seelen macht

»Was du uns hier erzähltest, Danischmend, möchte sich an einem andern Orte ganz gut haben hören lassen«, sagte der Sultan: »aber du scheinst darüber vergessen zu haben, daß die Rede nicht von deinem Freunde Kador, sondern von dem Prinzen Isfandiar, und von einem gewissen schelmischen Kamfalu war, den du uns als einen Verführer dieses jungen Menschen bekannt machen wolltest.«

»Sire« (war Danischmends Antwort), »Ihre Hoheit ziehen mich in diesem Augenblicke aus keiner geringen Verlegenheit. Ich fing eben an gewahr zu werden, daß ich mich verirret hätte; und wer weiß was für Wendungen ich hätte nehmen müssen, um mich wieder auf den Punkt zu finden, den ich unvermerkt aus dem Gesichte verlor! Der Kamfalu also, zu welchem Sie mich zurück zu bringen die Gnade haben, war eines von diesen verzärtelten Kindern der Natur, welche sie in einem Anstoß von verschwenderischer Laune mit allen ihren Gaben überhäuft, aber vor lauter Eilfertigkeit die einzige vergessen hat, ohne welche alle übrige mehr gefährliche als vorteilhafte Geschenke sind. Er war von schöner Bildung, und der Bau seines Körpers schien Unsterblichkeit anzukündigen. Er besaß in einem hohen Grade alles was einen jungen Mann zu einem Günstling des schönen Geschlechtes zu machen pflegt, und alles was ihn im Besitz ihrer Gunst erhalten kann. Er war lebhaft, feurig, unternehmend, und niemand hatte die Kunstsprache der Zärtlichkeit, und alle die schlauen Verführungskünste, wodurch sich die Schönen wissend oder unwissend hintergehen zu lassen gewohnt sind, mehr in seiner Gewalt als er. Das Einnehmende seiner Person, ein unerschöpflicher, mit der größten Leichtigkeit in tausend Gestalten sich verwandelnder Witz, und eine natürliche Beredsamkeit, bei welcher ihm, in gewissen Fällen, seine Begierden die Dienste der höchsten Begeisterung taten, machten ihn zum angenehmsten und gefährlichsten Gesellschafter von der Welt. Nichts konnte leichtfertiger sein als seine Grundsätze in Beziehung auf die Gebieterinnen unsers[168] Herzens; aber unglücklicher Weise für das ganze Scheschian waren diese Grundsätze ein Teil des allgemeinen Systems seiner sittlichen Begriffe. Eblis (so nannte sich der Kamfalu), dessen Herz keine Vermutung hatte, daß es eine höhere Art von Wollust gebe als die Befriedigung der Sinne und das eigennützige Vergnügen des gegenwärtigen Augenblicks – Eblis hatte sich ein System gemacht, aus welchem Wahrheit, Tugend, Zärtlichkeit, Freundschaft, kurz, jedes schönere Gefühl und jede edlere Neigung, verbannt waren. ›Alles ist wahr‹, sagte er, ›je nachdem wir es ansehen; von unserer innerlichen Stimmung und von dem Gesichtspunkt, woraus wir sehen, hängt es lediglich ab, ob uns ein Gegenstand schön oder häßlich, gut oder böse scheinen soll. Tugend ist eine Übereinkunft der feinern Köpfe, durch einen angenommenen Schein von Gerechtigkeit, Uneigennützigkeit und Großmut dem großen Haufen Zutrauen und Ehrfurcht einzuflößen. Sie bedient sich dazu einer gewissen hoch tönenden Sprache, gewisser edler Formen und schlauer Wendungen, welche sie unsern Neigungen und Handlungen gibt, um das Ziel unsrer Leidenschaften desto sicherer zu erhalten, je behutsamer wir es den Augen der Welt zu entziehen wissen. Müßige oder bezahlte Pedanten haben diese Sprache, diese Formen in einen wissenschaftlichen Zusammenhang räsoniert. Blöde Köpfe sind einfältig genug gewesen, diese Zeichen für Sachen anzusehen, und unter diesen leeren Formen gleichsam einen Körper zu suchen. Narren haben sich zu allen Zeiten vergebens oder auf Unkosten ihrer Vernunft bemüht, uns die Tugend, von welcher jene schwatzten, in ihrem Leben zu zeigen. Aber ein dreifacher Tor müßte der sein, der einen Freund auf Unkosten seiner selbst glücklich machen, – der den Augenblick, das Einzige was in seiner Gewalt ist, einem Traume von Zukunft aufopfern, – oder für andre leben wollte, wenn er sie nötigen kann für ihn da zu sein!‹ Diese abscheuliche Moral« –

»Ich besorge, Danischmend, es ist die Moral von zwei Fünfteln meiner Rajas, Omras und Mollas«, sagte der Sultan.

»Das verhüte der Himmel«, versetzte Danischmend. »Aber dessen bin ich versichert, daß es, wenn unser Herz uns nicht, wider Willen unsrer Köpfe, zu bessern Leuten machte, die Moral aller Erdenbewohner wäre.«

»Mir deucht«, sprach die schöne Nurmahal, »nichts beweiset besser, wie wahr es ist, daß nur die schönen Seelen der Tugend fähig sind, als der Ton, in welchem Eblis von dieser ihm unbekannten Gottheit spricht. ›Ein dreifacher Tor müßte der sein, der seinen Freund auf Unkosten seiner selbst glücklich machen wollte.‹ Ja[169] wohl, Eblis! ein dreihundertfacher Tor müßt er sein. Aber dies weiß Eblis nicht – denn woher sollt er es wissen können? – daß der Fall, den er setzt, gar nicht möglich ist. Ein Freund kann für seinen Freund nichts auf Unkosten seiner selbst tun, – denn dieser Freund ist er selbst.34 Welchen größern Gewinn konnt er machen als die Glückseligkeit seines Freundes? Er könnte sein Leben für ihn geben, und würde in dem letzten Augenblicke, der vor diesem süßen Opfer vorher ginge, mehr leben als in zwanzig Jahren, die er bloß sich selbst gelebt hätte.«

»Schwärmerin! – komm und gib mir einen Kuß«, rief der Sultan. »Zweiundzwanzig Jahre, seit ich Sultan bin, verhindern mich nicht zu fühlen, daß etwas in dieser Schwärmerei ist, das meine ganze Sultanschaft aufwiegt.«

»Die Grundsätze des verführerischen Eblis fanden in dem Herzen des Prinzen Isfandiar so wenig Widerstand, daß sie sich ohne große Mühe seines Kopfes bemeistern konnten. Eblis hatte das Anstößige, welches sie für eine jede noch nicht ganz verdorbene Seele haben müssen, so geschickt zu verbergen gewußt, daß der Prinz sich mit vollkommner Sicherheit dem Vergnügen überließ, seinen Geist, wie er wähnte, von Vorurteilen zu entfesseln, deren Joch nur diejenigen tragen müßten, welche zum Gehorchen geboren wären. Da er ohnehin eine starke Neigung in sich fühlte, seine Laune zur einzigen Regel seiner Urteile und Handlungen zu machen: so konnt es nicht wohl anders sein, als daß er ein System sehr überzeugend finden mußte, welches ihm, von dem Augenblick an, da er alles können würde was er wollte, die Vollmacht erteilte, alles zu wollen was er könnte.

Die Ungeduld, so viel Jahre als der König sein Vater noch zu leben hätte, zwischen sich und dem Ziele seiner feurigsten Wünsche zu sehen, nahm mit jedem Jahre so stark zu, daß sie bei einem Prinzen, der so wenig gewohnt war seinen Leidenschaften zu gebieten, sich[170] endlich zu deutlich verraten mußte, um dem alten Azor verborgen zu bleiben. Alle Mühe, die sein Liebling anwandte, ihn zu einem klügern Betragen zu bereden, war vergeblich. Isfandiar tadelte alle Maßregeln des Hofes, sprach mit sehr wenig Zurückhaltung von den Schwachheiten seines Vaters, und begegnete der schönen Gulnaze so, als ob er sich vorgesetzt hätte, sie alle Augenblicke zu erinnern daß sie eine persische Tänzerin gewesen sei.

Azor ertrug diesen Übermut mit einer Nachsicht, welche zu sehr die Miene einer Schwachheit hatte, um den Prinzen zum Gefühl seiner Pflicht zurück zu bringen; und in der Tat würde ein strengeres Verfahren zu nichts gedient haben, als ihn die Abnahme seines Ansehens und die Ohnmacht einer zum Ende sich neigenden Regierung desto kränkender fühlen zu lassen. Die seinige war so verhaßt, daß sein Thronfolger schon dadurch allein, weil er sie öffentlich mißbilligte, der Abgott des Volkes wurde. Der Hof des letztern vergrößerte sich zusehens; und man sprach endlich so laut von der Notwendigkeit, den alten König einer Bürde, welche jüngere Schultern erfordre, zu entladen; daß Isfandiar vermutlich nicht länger gezögert haben würde, diese Gesinnungen der Nation zum Vorteil seiner Wünsche anzuwenden, wenn ihn nicht der Tod des Königs wenigstens dieser letzten Stufe seines Verbrechens überhoben hätte.

Niemals sind die Erwartungen eines Volkes stärker betrogen worden, als an dem Tage, da Isfandiar den Thron von Scheschian bestieg. Aber was für Ursache hatten auch die Scheschianer mehr von ihm zu erwarten als von seinem Vater? Wie viele Könige, welche sich durch die heiligsten Gelübde verbinden müssen nur für die Glückseligkeit ihrer Völker zu leben, erinnern sich dieser Gelübde noch, nachdem sie den ersten Zug aus dem Zauberkelch der willkürlichen Gewalt getan haben? In Scheschian mußten sich die Könige zu nichts verbinden. Das Volk schwor ihnen grenzenlosen Gehorsam, und sie – erlaubten, am Tag ihrer Krönung, dem geringsten ihrer Untertanen – den Saum ihres Mantels zu küssen. Was für Erwartungen kann ein Volk auf eine solche Gnade gründen?

Azor hatte vor seiner Thronbesteigung alle Herzen durch Leutseligkeit und Güte gewonnen; man erwartete goldne Zeiten von ihm, und fand sich betrogen.

Isfandiar hatte sich nie die geringste Gewalt angetan, die ungestüme Hitze, die Unempfindlichkeit und das Wetterwendische seiner Gemütsart zu verbergen. Niemand wußte einen Zug von ihm anzuführen, der eine große Seele oder ein wohltätiges Herz bezeichnet[171] hätte. Allein man war der langen Regierung seines verhaßten Vaters überdrüssig; Isfandiar hatte sich öffentlich an die Spitze der Mißvergnügten gestellt; man hoffte, daß derjenige besser regieren würde, der von den Gebrechen der alten Regierung so lebhaft gerührt schien, und so viele Gelegenheit gehabt hatte durch fremde Fehler weise zu werden. Aber man betrog sich sehr. Isfandiar würde sich eben so mißvergnügt bezeigt haben, wenn Azor der beste der Könige gewesen wäre.

Die erste Probe, welche der neue Sultan von seinem Vorhaben ohne Grundsätze zu regieren gab, war die Veränderung, die er bei Hofe und in der Staatsverwaltung vornahm.

In den letzten Jahren Azors hatte man sich durch die äußerste Not gedrungen gesehen, den übermäßigen Aufwand der Hofhaltung einzuschränken, und einige Männer von bewährter Redlichkeit und Einsicht zu den wichtigsten Staatsbedienungen zu berufen. Es war zu spät für die Glückseligkeit von Scheschian; aber noch immer früh genug, um noch größere Übel zu verhüten. Durch die Weisheit und unverdrossene Arbeit dieser ehrwürdigen Alten war die Staatswirtschaft in bessere Ordnung gebracht, und dem Volk, ohne Nachteil der Krone, beträchtliche Erleichterung verschafft worden. Isfandiar zählte vermutlich beides unter die Mißbräuche; denn er setzte seinen Hofstaat auf einen prächtigern Fuß, als er in den glänzendsten Zeiten Azors gewesen war; und die einzigen unter den Staatsbedienten seines Vaters, welche er um jeden Preis hätte kaufen sollen, wurden abgedankt. Sie mußten einem Schlaukopfe Platz machen, der sich durch ein Projekt, die Scheschianer, mittelst eines neu erfundenen Kunstworts, die Luft, welche sie einatmeten, versteuern zu lassen, das Vertrauen Seiner Hoheit erworben hatte.

Isfandiar hatte kaum einige Monate das Vergnügen geschmeckt alles zu tun was ihm beliebte, als er anfing sich seinen Launen mit einer Sorglosigkeit zu überlassen, welche, ungeachtet des jovialischen Geistes, womit er sie würzte, in den Augen der Vernunft eine desto anstößigere Art von Tyrannei war, weil sie bewies, daß er fähig sei, mit kaltem Blut und bei völligem Gebrauch seiner Sinne die unsinnigsten Dinge zu tun. Er schien sich sehr viel damit zu wissen, daß er keine erklärte Favoritin hatte wie sein Vater. Aber dafür hielt er eine ungeheure Menge von Hunden, Jagdpferden und Falken; gab unermeßliche Summen für Gemälde aus, ohne den geringsten Geschmack von der Kunst zu haben, und belohnte mit unmäßiger Verschwendung alle Abenteurer und Landstreicher, die, mit dem Titel witziger Köpfe, Virtuosen und Besitzer seltsamer Kunststücke, an[172] seinen Hof kamen, weil, wie sie sagten, nur der größte der Könige würdig sei, der Besitzer ihrer Talente und Raritäten zu sein.

Ohne irgend eine herrschende Leidenschaft zu haben, hatte er nach und nach alle, und jede mit desto größerer Wut, weil er vorher sah, sie würde bald von einer andern verdrängt werden. Das arme Scheschian gewann also wenig bei seiner Mäßigung in einem einzigen Punkte; einer Mäßigung, wovon der Grund vielmehr in seiner Unfähigkeit zu lieben, als in seiner Weisheit lag, und welche ihn nicht verhinderte, wenn es ihm einfiel, die Einkünfte einer ganzen Provinz an die erste sinesische Gauklerin, die ihn eine Viertelstunde belustigte, wegzuschenken.

Eben dieselbe wunderliche Laune, welche die Regel seines Geschmacks war, regierte ihn bei Besetzung der wichtigsten oder ansehnlichsten Hofämter und Staatsbedienungen. Er machte in einem solchen Anstoß seinen Pastetenbäcker zum ersten Minister, ein andermal seinen Barbier zum Hauptmann über die Leibwache. Der Reichskanzler wurde abgesetzt, weil er ein schlechter Tänzer war, und ein gewisser Quacksalber schwang sich durch die Erfindung einer Pomade in die Stelle des Oberschatzmeisters, der die Verwegenheit gehabt hatte, Seiner Hoheit vorzustellen, daß zehntausend Unzen Silbers eine zu große Belohnung für die Erfindung einer neuen Pomade sei. Keiner von seinen Dienern konnte eine Stunde lang auf seine Gnade zählen; und das schlimmste war, daß man sie durch Wohlverhalten eben so leicht als durch Übeltaten verscherzen konnte. Der einzige Eblis besaß das Geheimnis sich ihm unentbehrlich zu machen, und, ohne einen andern als den Titel seines Günstlings, den Hof und den Staat eben so willkürlich zu regieren als der Sultan selbst. Ich hatte vielleicht unrecht, das Mittel, dessen er sich dazu bediente, ein Geheimnis zu nennen; denn im Grunde kann nichts einfacher sein. Es bestand in der Kunst, sich in alle Launen seines Herrn zu schicken, ihn alles tun zu lassen was er wollte, und für alle seine Unternehmungen, so ausschweifend sie sein mochten, Mittel zu schaffen.«

»Das letzte ist eben so leicht nicht, als du dir einbildest«, sagte der Sultan.

»Sire«, versetzte Danischmend, »nach des Günstlings Grundsätzen und Art zu verfahren konnte nichts leichter sein. Nach ihm hatte der Sultan das Recht zu nehmen, so lange seine Untertanen etwas hatten, das ihnen genommen werden konnte.«

»Und wenn sie nichts mehr hatten?«

»Dieser Fall war, seiner Meinung nach, so bald noch nicht zu besorgen.[173]

›Der Hunger, und die Begierde nach einem Zustande, worin sie müßig gehen können, wird sie schon arbeiten lehren‹, pflegte er zu sagen, ›und so lange sie arbeiten, können sie geben.‹«

»Dieser Eblis fürchtete sich also nicht vor den Folgen der Mutlosigkeit?«

»Das Übel war, daß er dem Sultan eine Philosophie beigebracht hatte, welche die menschliche Natur in seinen Augen verächtlich machte. Er sah die Menschen für nichts besseres als eine Gattung von Tieren an, von welcher sich mehr Vorteile ziehen lassen als von irgend einer andern; und in der Kunst, sie für ihren Gebieter zu gleicher Zeit so nützlich und so unschädlich als möglich zu machen, bestand, nach ihm, das große Geheimnis der Regierungskunst. Man hätte ihm diesen Grundsatz gelten lassen können, wenn er vorausgesetzt hätte, daß der Vorteil des Gebieters und des Staats allezeit einerlei sei. Aber dies war es nicht was er damit wollte.

›Der Mensch‹, sagte Eblis, ›ist aus zwei entgegen gesetzten Grundneigungen zusammen gesetzt, deren vereinigte Wirkung ihn zu dem macht was er ist: Hang zum Müßiggang und Hang zum Vergnügen. Ohne den letztern würde ihn jener ewig in einer unüberwindlichen Untätigkeit erhalten; aber so groß sein Abscheu vor Abhänglichkeit und Arbeit ist, so ist doch sein Hang zum Vergnügen noch stärker. Um beide zu vereinigen, ist ein Zustand von Unabhänglichkeit, worin er alles mögliche Vergnügen ohne einige Bemühung genösse, das letzte Ziel seiner Wünsche. Er kennt keine Seligkeit über dieser. Daher dieser unauslöschliche Hang zum Despotismus, der dem armseligsten Erdensohn eben so angeboren ist als dem Erben des größten Monarchen. In dem ganzen Scheschian ist kein einziger, welcher nicht wünschte, daß alle übrige nur für sein Vergnügen beschäftigt sein müßten. Allein die Natur der Sache bringt es mit sich, daß nur ein Einziger dieser Glückliche sein kann: alle übrige sind durch die Notwendigkeit selbst dazu verurteilt, sich, so lange sie leben, mehr oder weniger zu diesem letzten Wunsche des Sterblichen empor zu arbeiten; und selbst das Glück, ihm nahe zu kommen, kann nur Wenigen zu Teile werden. Was soll nun der Einzige hierbei tun, der, mit dem vergötterten Diadem um die Stirne, oben auf der Spitze des Berges steht, und nichts Höheres zu ersteigen sieht? Soll er sich etwann in dem Genuß seiner Wonne durch albernes Mitleiden mit der wimmelnden Menge stören lassen, welche voll klopfender Begierde sich aus der Tiefe empor zu heben versucht, und, neidische Blicke auf die versagte Glückseligkeit heftend, bei jedem Tritt auf der schlüpfrigen[174] Bahn in Gefahr schwebt, durch das Gedränge ihrer Mitwerber oder ihre eigene Hastigkeit tiefer, als sie empor gestiegen ist, wieder herunter zu glitschen? Soll er vielleicht so höflich sein, einem unter ihnen Platz zu machen? – Wahrhaftig! Sie mögen sehen, wie sie hinauf kommen; dies ist ihre Sache. Die seinige ist, indem sie von Stufe zu Stufe zu ihm empor klettern, sich ihrer Hände zu bedienen, um alle Güter und Freuden der Welt zu den Füßen seines Thrones aufhäufen zu lassen; und wenn ihm der Genuß alles dessen, was die übrigen wünschen, noch eine Sorge verstatten kann, so ist es, zu verhindern, daß von der wetteifernden Menge keiner hoch genug steige, ihn von seinem Gipfel herab zu drängen. Nichts würde dem Einzigen gefährlicher sein, als wenn die Menge alle Hoffnung in einen bessern Zustand zu kommen verlöre. Diese Hoffnung ist die wahre Seele eines Staats; mit ihr versiegt die Quelle des politischen Lebens; eine allgemeine Untätigkeit verkündigt, gleich der Todesstille vor einem Sturme, die schrecklichen Wirkungen der Verzweiflung, unter welchen schon so manche Thronen Asiens eingestürzt sind. Aber nichts ist leichter als diesem Übel zuvorzukommen. Es gibt zwischen dem Tagelöhner und dem Sultan so viele Stufen; und jede der höhern Stufen ist für den, der einige Grade tiefer steht, so beneidenswürdig, daß etliche Beispiele, welche von Zeit zu Zeit die Hoffnung zu steigen in den letztern wieder anfrischen, hinreichend sind, den Staat in dieser Geschäftigkeit zu unterhalten, wodurch alle Glieder desselben, indem sie bloß ihren eigenen Vorteil zu befördern glauben, dem glücklichen Einzigen dienstbar werden.‹

Es ist keinem Zweifel unterworfen, daß nichts seichter sein kann als diese Trugschlüsse des sinnreichen Eblis. Die Grundfeste eines Staats besteht in der Zufriedenheit der untersten Klassen mit dem Stande worin sie sich befinden, und sein Untergang ist von dem Augenblick an gewiß, da der Landmann Ursache hat, den müßig gehenden Sklaven eines Großen zu beneiden.

Die Grundsätze des sinnreichen Eblis hatten drei große Fehler. Sie hingen eben so wenig unter sich zu sammen, als sie mit der Erfahrung übereinstimmten; und man konnte sie alle Augenblicke übertreten, ohne an Gründen Mangel zu haben, welche die Ausnahmen rechtfertigten. Aber sie schmeichelten den Leidenschaften eines Fürsten, der keine andre Regel kannte noch kennen wollte, als seine Laune. Isfandiar fand nichts bündiger als die Schlüsse seines Lieblings.

Man konnte schwerlich weniger Anlage zu einer mitleidigen Sinnesart haben als dieser Sultan. Das kleinste Ungemach, das ihn selbst betraf, setzte ihn in die heftigste Ungeduld; aber das Leiden andrer[175] fand keinen Zugang zu seinem Herzen. Wie überflüssig war die Bemühung, einen solchen Fürsten noch durch Grundsätze gefühllos zu machen! Und gleichwohl hatte Eblis nichts Angelegeners, als ihm seine Untertanen bei jeder Gelegenheit in dem verhaßtesten Lichte zu zeigen.

›Das Volk‹, sagte Eblis zum Sultan seinem Herrn, ›ist ein vielköpfiges Tier, welches nur durch Hunger und Streiche gebändiget werden kann. Es wäre Unsinn, seine Liebe durch Wohltaten gewinnen zu wollen. Tausend Beispiele von schwachen Fürsten, welche die Opfer einer allzu milden Gemütsart geworden sind, beweisen diese Wahrheit. Das Volk sieht alles Gute was man ihm erweist für Schuldigkeit an, erwartet immer noch mehr als man zu seinem Besten tut, und hält sich von aller Pflicht der Dankbarkeit losgezählt, sobald es sich in seinen ausschweifenden Erwartungen betrogen sieht. Mit Widerwillen trägt es die Fesseln der Abhänglichkeit; unbeständig in seinen Neigungen, willkürlich in seinen Urteilen, und immer mit dem Gegenwärtigen unzufrieden, dürstet es nach Neuerungen; Unfälle, welche seinen Gebietern zustoßen, sind ihm fröhliche Begebenheiten; und wiewohl es selbst unter allgemeiner Not am meisten leidet, sehnt es sich dennoch nach öffentlichem Unglück, um Gelegenheit zu haben zu murren, und seine Vorsteher mit Vorwürfen zu überhäufen. Wenn eine Gottheit vom Himmel stiege, die Menschen zu beherrschen, sie würde nicht frei von ihrem Tadel bleiben. Der schlechteste unter ihnen hält sich für gut genug die Welt zu regieren, und eben darum weil der Pöbel nichts weiß, glaubt er alles besser zu wissen als seine Obern. Vergebens würd es sein, für die Glückseligkeit dieser Unersättlichen zu arbeiten: man müßte einen jeden von ihnen zu einem Sultan machen können, um ihn zufrieden zu stellen; sie bleiben mißvergnügt so lange noch etwas zu wünschen übrig ist. Nichts ist gefährlicher als sie mit dem Überfluß und den Wollüsten bekannt zu machen; es würde weniger Gefahr sein einen schlafenden Löwen, als die Begierlichkeit dieser Leute aufzuwecken. Sie mit seidenen Banden oder Blumenketten binden zu wollen, wäre eben so viel als eine Hyäne mit Spinneweben zu fesseln. Nichts als die eiserne Notwendigkeit, und die Verzweiflung ihre Ketten jemals zerreißen zu können, ist vermögend sie in ihren Schranken zu halten; und, gleich andern wilden Tieren, müssen sie ausgemergelt werden und den Stock immer über ihrem Rücken schweben sehen, um einen Gebieter dulden zu lernen.‹«

»Danischmend«, sagte der Sultan, »ich gestehe, die Abschilderung, die uns Eblis von dem Volke macht, ist nicht geschmeichelt;[176] aber es ist Wahrheit darin. Ich denke ungern an die Folgen, welche sich daraus ziehen lassen: und gleichwohl würd es, wie Eblis sagt, gefährlich sein, sich selbst in einer so wichtigen Sache täuschen zu wollen.«

»Gnädigster Herr«, versetzte der Philosoph, »ich weiß nicht ob mich meine Gutherzigkeit verhindert hat, den Menschen, den ich seit mehr als fünfundzwanzig Jahren studiere, so zu sehen wie er ist. Es mag wohl zu viel Rosenfarbe in meiner Phantasie herrschen. Aber, wie dem auch sein mag, ich kann mich unmöglich überwinden, die Menschen für so bösartig anzusehen, als sie in der Theorie dieses Eblis sind. Wenn die Erfahrung für ihn zu reden scheint, so spricht sie nicht weniger für mich. Kennen wir nicht kleine Völker, welche im Schoße der Freiheit und der einfältigen Mäßigung glücklich sind? Vergleichen wir einmal diese Völker mit denjenigen, welche unter den Bedrückungen der willkürlichen Gewalt einer harten Regierung schmachten! Der erste Anblick wird uns sogleich einen starken Unterschied bemerken lassen. Jene zeigen uns ein gesundes, vergnügtes, fröhliches Ansehen. Ihre Wohnungen sind weder weitläufig noch prächtig; aber auch die ärmste ihrer Hütten sieht einer Wohnung von Menschen, nicht einem Schlupfwinkel wilder Tiere gleich. Sie sind schlecht gekleidet; aber sie sind doch vor Frost und Nässe beschützt. Ihre Nahrung ist eben so einfältig; aber man sieht ihnen wenigstens des Abends an daß sie zu Mittage gegessen haben. Diese schleichen, als lebende Bilder des Elends, mit gesenkten Häuptern umher, und heften aus hohlen Augen gramvolle Blicke auf die Erde, welche sie – nicht für sich und ihre Kinder – bauen müssen. Überall begegnen unserm beleidigten Auge blutlose, ausgehungerte und sieche Körper; – schwermütige, düstre, von Sorgen abgezehrte Gesichter; – alte Leute, welche sich mit Mühe von der Stelle schleppen, um zur Belohnung einer funfzigjährigen schweren Dienstbarkeit das wenige Brot, das ihr vom Mangel eingeschrumpfter Magen noch ertragen kann, dem Mitleiden der Vorübergehenden durch Betteln abzunötigen; – verwahrloste, nackende, krüppelhafte Kinder, oder wimmernde Säuglinge, welche sich anstrengen, einer hungernden Mutter noch die letzten Blutstropfen aus der ausgemergelten Brust zu ziehen. Halb vermoderte Lumpen, die von den dürren Lenden dieser Elenden herab hangen, zeigen wenigstens daß sie den Willen haben ihre Blöße zu decken: aber was wird sie vor der sengenden Sonne, vor Wind und Regen und Kälte decken? Ihre armseligen aus Kot und Stroh zusammen geplackten Hütten stehen jedem Anfall der Elemente offen.[177]

Hierher kriechen sie, wenn die untergehende Sonne sie von der täglichen Arbeit für gefühllose Gebieter ausgespannt hat, ermüdet zusammen, und schätzen sich noch glücklich, wenn sie so viel Vorrat von einem Brote, welches ihre Herren für ihre Hunde zu schlecht halten würden, übrig finden, als sie vonnöten haben, um nicht hungrig auf einem Lager von faulendem Stroh den letzten Trost des Elenden vergebens herbei zu seufzen.«

»Wie du malst, Danischmend!« – rief der Sultan mit einer auffahrenden Bewegung aus, indem er sich zu verbergen bemühte, wie gerührt er war. »Ich schwöre beim Haupte des Propheten, daß ich, ehe der Mond wieder voll sein wird, wissen will, ob innerhalb der Grenzen meines Gebiets solche Unglückliche leben; und wehe dem Sklaven, dem ich die Sorge für meine Untertanen anvertraut habe, in dessen Bezirk ein Urbild deiner verfluchten Malerei gefunden würde! Es ist mein ganzer Ernst, und zum Beweise davon trag ich das Amt dieser Untersuchung dir selbst auf, Danischmend! Morgen, nach dem ersten Gebete, erwart ich dich in meinem Zimmer, damit wir weiter von der Sache sprechen.«

Was der gutherzige Danischmend dem Sultan gesagt haben mag, um ihm im Namen aller, welche bei dieser Aufwallung seines königlichen Herzens interessiert waren, den demütigsten Dank zu erstatten, wollen wir, um uns nicht zu weit von unserm Wege zu entfernen, der Einbildung des Lesers überlassen.

»Gut«, sagte Schach-Gebal, dessen Hitze sich während der Danksagungsrede des Philosophen wieder merklich abgekühlt hatte, »du weißt meinen Willen! Morgen eine Stunde nach Sonnenaufgang, Danischmend! – Itzt will ich noch die Ausführung deiner Einwendungen gegen die Theorie des Günstlings Eblis hören. Laß sehen, wie du dich aus der Sache ziehen wirst.«

»Ich behauptete« (fuhr Danischmend in seinem Vortrage fort), »daß die Erfahrung, auf welche sich Eblis bezieht, um seine häßlichen Gemälde von der Bösartigkeit des Volkes zu rechtfertigen, wenigstens eben so stark für meine als für seine Meinung rede; und ich stellte zu diesem Ende eine Vergleichung an, zwischen einem Volke, welches unter einer freien, oder wenigstens unter einer milden Regierung glücklich ist, und einem Volke, dem ein Tyrann wie Isfandiar, mit Hülfe eines Günstlings wie Eblis, so mit spielt, wie man es von der Vereinigung harter Grundsätze mit einer unempfindlichen Sinnesart erwarten kann. Wenn der Kontrast zwischen dem Wohlstande des einen und dem Elende des andern beim ersten Anblick in die Augen fällt, so wird uns eine fortgesetzte Aufmerksamkeit[178] keinen geringern Abstand zwischen ihrem sittlichen Charakter entdecken lassen. Das glückliche Volk ist zufrieden mit seinem Zustande; es gewöhnet sich mit Vergnügen an ihn, und ist geneigt zu glauben, daß es keinen bessern gebe. Es segnet den guten Fürsten, unter dessen Gesetzen es in ungekränkter Sicherheit der Früchte seines Fleißes und seiner Mäßigung genießt. Weit entfernt Veränderungen zu wünschen, ist es im Gegenteil bereit, Gut und Leben alle Augenblicke für die gegenwärtige Verfassung, für ein Vaterland, worin es glücklich ist, für einen Fürsten, in welchem es seinen allgemeinen Vater erblickt, aufzuopfern. Das unterdrückte Volk, ich gestehe es, sieht dem Bilde sehr ähnlich, welches Eblis unbilliger Weise von dem Volke überhaupt machte. Aber wie sollt es anders sein können? Sollte sich nicht die Menschheit in Geschöpfen, welche ihre natürliche Gleichheit mit ihren Unterdrückern fühlen, gegen solche Kränkungen empören, deren bloßer Anblick alle Gesetze der Natur, der Religion und des gesellschaftlichen Lebens zur Rache aufruft? Ist es zu verwundern, wenn die Vergleichung ihres Elends mit dem wollüstigen und unbarmherzigen Übermut ihrer Herren sie endlich wütend macht? Oder was kann man anders erwarten, als daß anhaltende Tyrannei, Sorglosigkeit für den Staat, Kaltsinn beim Anblicke der allgemeinen Not, und öffentliche Verspottung derselben durch die übertriebenste Üppigkeit, ein Volk, dessen Geduld erschöpft ist, endlich zur Verzweiflung treiben werde?

›Das Volk‹, sagt Eblis, ›ist launisch in seinen Leidenschaften, undankbar für das Gute, das man ihm erweist, ungestüm und unersättlich in seinen Forderungen; es ist neidisch über die Vorzüge seiner Obern, geneigt alle ihre Maßregeln zu tadeln, ungerecht gegen ihre Tugenden, unbillig gegen ihre Fehler; es sieht sie als seine ärgsten Feinde an, und ergetzt sich an allem, was sie kränken und demütigen kann, als an dem angenehmsten Schauspiele.‹ – Aber sollte wohl jemand die Verwegenheit haben können, zu behaupten, die Menschen seien von Natur so bösartige Geschöpfe? Wer macht sie dazu? Was für Gewalt muß der Menschheit angetan worden sein, welche grausame und langwierige Mißhandlungen muß sie erlitten haben, bis sie so werden konnte, wie Eblis sie schildert! Ist es nicht der Gipfel der Ungerechtigkeit, die Menschen dafür zu bestrafen, daß sie die verkehrten Geschöpfe sind, wozu man sie selbst gemacht hat? Mir deucht, die Unterdrücker der Menschheit haben wohl keine Ursache sich zu beschweren. Die unbegreifliche Geduld, womit die meisten Völker des Erdbodens sich zu allen Zeiten von einer kleinen[179] Anzahl von Isfandiarn und Eblissen haben mißbrauchen lassen, ist der stärkste Beweis der ursprünglichen Mildigkeit der menschlichen Natur. Wenn wir von Empörungen, Bürgerkriegen, und gewaltsamen Staatsveränderungen hören, so können wir allemal mit der größten Wahrscheinlichkeit vermuten, daß unleidliche Beleidigungen den Anlaß dazu gegeben haben.«

»Nicht allemal, mein guter Danischmend«, sagte der Sultan: »dein Eifer für die Sache des Volks macht dich vergessen, wie viele Beispiele die Geschichte des Erdbodens uns zeigt, daß auch gute Fürsten, Fürsten, welche wenigstens einige geringe Fehler mit großen Tugenden vergüteten, Schlachtopfer der unbändigen Herrschsucht eines stolzen Priesters, oder der übermütigen Anmaßungen aufrührerischer Emirn geworden sind.«

»Gleichwohl«, erwiderte Danischmend, »würde sich vielleicht in jedem besondern Falle zeigen lassen, daß die Fürsten, auf welche Ihre Hoheit zu zielen scheinen, durch sehr wesentliche Fehler in der Regierung, durch allzu große Nachsicht gegen die Laster ihrer Günstlinge, durch häufigen Mißbrauch einer willkürlichen Gewalt, durch offenbare Ungerechtigkeiten und ein tyrannisches Verfahren sowohl mit dem Volk als mit den Großen ihres Reiches, sich die unglückliche Ehre zugezogen haben, der Nachwelt zu Trauerspielen Stoff zu geben. Ein König gewinne nur die Zuneigung seiner Untertanen, er verdiene sich den glorreichesten und süßesten aller Titel, den Namen eines Vaters des Volks: so wird er gewiß sein können, in ihrer Liebe zu seiner Regierung und zu seiner Person unerschöpfliche Mittel gegen alle Anschläge und Unternehmungen seiner Feinde zu finden. Ich möchte den Priester oder die Emirn sehen, welche die Verwegenheit hätten, sich an einen Fürsten zu wagen, dem die Herzen aller seiner Untertanen zur Brustwehr dienen!«

Schach-Gebal hatte vermutlich einige geheime Ursachen, warum er nicht von sich erhalten konnte, die Gründe seines Philosophen überzeugend zu finden. Indessen schien er doch zu fühlen, daß er den Streit nicht würde fortsetzen können, ohne seinem Gegner Blößen zu geben, die den Sieg nicht lange unentschieden lassen dürften. Er spielte also das Sicherste, und entließ die Gesellschaft für diesmal, indem er zu der schönen Nurmahal sagte: »In der Tat, es fehlt unserm Freunde Danischmend nichts als etwas mehr Kenntnis der Welt, um (für einen Philosophen) ganz leidlich zu räsonieren. Er hat den Fehler aller dieser Herren, gern von Dingen zu reden die er nicht versteht: aber er spricht doch gut, und dies ist, zum Zeitvertreib, alles was ich von ihm fordre.«[180] Die Achseln des weisen Danischmend waren im Begriff die Antwort auf dieses unerwartete Lob zu geben, als er sich noch zu rechter Zeit erinnerte, daß es nicht erlaubt sei, über irgend etwas, das ein Sultan sagen kann, die Achseln zu zucken. Er begnügte sich also, wie gewöhnlich, seinen ungelehrigen Kopf gegen den Erdboden zu stoßen, und schlich davon.

Quelle:
Christoph Martin Wieland: Der goldne Spiegel und andere politische Dichtungen. München 1979, S. 157-181.
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