Siebente Vorlesung.

[80] Im Indischen, wie wir gesehen, verwirrt sich der von der Tat und der Welt der Sinne sich lossagende Gedanke einerseits in das Gebiet der abstrusesten Phantasiebilder, andererseits in einen bodenlosen Abgrund der Mystik, wo er überhaupt aufhört, Gedanke zu sein und als ein Nichts über dem Nichts in schauerlicher Öde hinbrütet. Die ästhetische Weltanschauung der Indier machte nur die Augen auf, um sie wieder zu schließen, sie ward sich der Sinne nur bewußt, als zu vernichtender Widerspiele des Geistes, des Geistes nur als einer zu tötenden Mannigfaltigkeit von Gedanken, Gefühlen und Bestrebungen, der ganzen Welt nur, als einer kriminalistischen Mummerei wechselnder Gestalten, welche aus Blumen und Tieraugen den Menschen wehmütig schmerzlich ansehen und in Gemeinschaft mit ihm nach der Zeit schmachten, wo ihre Larven fallen und sie wieder in den Zustand der Seligkeit, das ist der Bewußtlosigkeit, der Vernichtung zurückkehren. – Zu verwesen bei lebendigem Leibe, diese schauderhafte Sehnsucht zieht sich durch die indische[81] Welt, und erfüllt uns mit einem seltsamen, unheimlichen Gefühl, das uns durch den ganzen Orient begleitet und uns nicht eher verläßt, als bis wir an den Ufern des lebensfrischen und lebensfrohen Griechenlands Atem holend angelangt sind. Welcher Himmel, welche Erde, welche Menschen, welche Götter, welche Geschichte, welche Gedichte, welche Natur, welche Kunst, das alles ist Griechenland, und man muß staunen und sich verwundern, daß zwei so ungleiche Länder, wie Indien und Griechenland, auf einem und demselben Planeten zusammenliegen. Unauflöslich würde in der Tat das Rätsel sein, wie die Weltanschauung und das Leben bei Geschöpfen von einerlei Natur und Art, aus einerlei Teig geknetet und mit demselben geistigen Odem durchweht, so grundverschieden, ja in jedem Punkt und nach allen Richtungen entgegengesetzt sich gestalten konnte, wäre uns die Urgeschichte des griechischen Geistes völlig unbekannt und könnten wir nicht einige ahnungsvolle Blicke auf den früheren Zusammenhang orientalischer und europäischer Bildung werfen. Die Natur, das ist unsere Überzeugung, kennt keine Widersprüche, keine schreienden Dissonanzen, sie arbeitet sich durch tausend Mittelglieder hindurch und verbindet die Enden der Welt mit einem unsichtbaren Zauberbande, das im Dunkel des Mythos und der Geschichte flattert und nur vom Auge des Geistes erkannt wird. Alle die Töne der Weltenlyra klingen zusammen in einen einzigen ungeheuren Akkord, in dem nichts Einzelnes mehr unterscheidbar ist, und so haben alle Sprachen und Sagen aller Völker, so fremd und dissonierend sie klingen, einige[82] Grundlaute miteinander gemein, die eben den geistigen Urlaut des menschlichen Daseins bilden. Aber durch allen Sinn und Unsinn der Geschichte, durch den Wirrwarr aller Völkerstimmen geht dieser rein menschliche Ton, diese Stimme der Natur, welche ihre Kinder, die Schwarzen und die Weißen und die Olivenfarbigen und die tausendjährigen Toten und die Lebendigen heutigentags um den einen gemeinschaftlichen Urborn des leiblichen und geistigen Lebens der Menschheit versammelt.

Europäer sind Asiaten, das lehrt die Geschichte: Europa ist ein Stück von Asien, lehrt die Geographie. Die europäische Bildung hat ihre Wurzeln in Asien, das deuten uns die ältesten Mythen und die Urelemente der Sprache, der Schrift, der Sitten und Gesetze der europäischen Völkerschaften; auch die Bildung der Griechen hat ihre Wurzel jenseit des Hellesponts, oder vielmehr sie hat sich mit dieser Wurzel von asiatischem Boden losgerissen und sie in griechische Erde verpflanzt. Es gab eine Zeit, wo die Griechen noch nicht Griechen waren, eine Zeit, wo ihr Geist noch versenkt war in den starren Natursymbolen des Orients, wo Priesterherrschaft und Kastengeist noch die Entfaltung des öffentlichen Lebens hemmte, wo ihre Sinne sich noch mit einem dämmernden Flor umzogen und sie nur noch die ersten Versuche machten, sich aus den bleiernen Armen der asiatischen Tradition loszuringen und ihr Leben auf eigentümliche Weise zu gestalten. Nicht immer ward der griechische Olymp von Göttern bewohnt, wie Homer sie schildert, nicht immer war den Griechen wüste Phantasie und Abgeschmacktheit ein[83] Greuel, ihre ältesten Götterdynastien, ihre Tier- und Menschenungeheuer, Sphinxen und Kentauren, ihre pelasgischen Kabiren verraten uns nur zu deutlich eine frühere Bildungsstufe, auf der sie den Ägyptern und Indiern ähnlicher sehen als sich selbst in späterer Zeit. Lange Zeit mögen sie in dieser dunklen Naturmystik befangen gewesen sein, worin sie, wie die alten Indier noch schlaftrunken und mondsüchtig am Abgrund des Wesens hintaumelten und ihr Hirn schwindeln machten von den mysteriösen Dünsten, welche später die Pythia allein einsog. Nur allmählich kam die Menschheit zur Besinnung, sie aber waren die ersten, welchen das menschliche Bewußtsein aufging, die menschliche Persönlichkeit gegen die dunklen Mächte der Natur geltend machten, die, wenn der Ausdruck nicht zu kühn ist, das Nabelband zerschnitten, das den Menschen bisher, wie ein Tier, mit dem Schoß der Erde verknüpfte und ihm das Bewußtsein eigner freier Existenz fortwährend verdüsterte. Der Indier hatte kein Gefühl von seiner Kraft, daher war auch seine Weltanschauung eine leidende und auf Vernichtung aller Persönlichkeit, aller selbständigen Tat abzielende. Des Griechen Weltanschauung ward eine tätige und drang mit Bewußtsein auf die Harmonie des Gedankens und Willens und griff in alle Seiten der Seele und wühlte Töne auf, die kein sterbliches Ohr bisher geahnt, und setzte Gedanken ins Leben, die nicht untergehen werden, solange die Welt steht. Suchen wir einen Namen, um die besondere Art ihrer ästhetischen Weltanschauung zu bezeichnen, so dürfen wir nur die Augen aufschlagen und auf ihren Werken[84] den eingeprägten Stempel betrachten, die schöne, die freie, die plastische, die persönliche, die harmonische, die rein menschliche; Namen für eine Sache, Strahlen eines Lichts, Blumen auf einem Stengel; denn nur als Persönlichkeit, nur als freie und schöne Persönlichkeit ist der Mensch ein reiner Mensch, ein nach allen Kräften seiner Natur durchgearbeitetes Wesen, ein wachendes, handelndes, freudiges Geschöpf, das den schönen Kreis, der seine bewußte Existenz umgibt, nur dann durchbricht, wenn Schlaf, Traum oder Tod es unwillkürlich herbeiführen. Dem träumenden Indier ward das ganze Leben zum Traum und der Traum selber eine Sehnsucht nach dem Austräumen, das heißt nicht nach dem Erwachen, sondern nach Stillstand, Tod, Auflösung.

Vor Traum und Tod, welche die Lebendigen und Wachenden umlauern, fand der Grieche keinen Schutz, aber er träumte nicht, wenn er wachte, und er tötete sich nicht ab, um dem Tode den Sieg zu verschaffen; ja die Vorstellung des letztern suchte er sich zu verschönern und zu erheitern, und statt eines grinsenden Schädels blickte ihn auf Grabmalen der Jüngling mit umgekehrter Fackel an. Die Spanne zwischen Geburt und Grab, die Stunden zwischen Schlaf und Wachen, die nannte er seine Welt, seine Zeit, sein Eigentum, darin blühten seine Hoffnungen, darin reisten seine Pläne, darin herrschte seine Tat; was draußen und dahinter lag, war für ihn kein Gegenstand der Sehnsucht und der Aufopferungen. Nur das menschlich Gestaltete, das Organische gedieh ihm zur Lust und Freude, und[85] daher belebte er die ganze Natur, Erde, Himmel und Meer, mit Gestalten, die ihm glichen und die zum Mitgefühl seiner Leiden und Freuden sich herabließen. Und nicht allein auf den Gipfeln des Olymps und des poetischen Parnassus lebte eine persönliche, vielgestaltige Götterwelt, sondern auch auf den Höhen der Philosophie regte sich das plastische Streben des griechischen Geistes, und ich sehe in der platonischen Ideenlehre nur Götter, die Plato Ideen nennt und denen er die Idee der Ideen, das Eine, das Gute, als einen Ideenzeus überordnet, so aber, daß jede durch Teilnahme an der Natur des Einen eine volle und selbständige Göttlichkeit genießt.

Wie in Philosophie, Poesie und Kunst, so insbesondere im Staate war das plastische Prinzip der Griechen wirksam, welches wir als ihr oberstes ästhetisches Grundgesetz betrachteten. Unter den Griechen tritt die Beseelung des Staates als eines Kunstwerks zuerst hervor, und zwar nach dem allgemeinen Gang und der Natur des Prinzips durchaus demokratisch. Die erwachte Freiheit machte sich ganz und gar als Besonderheit geltend, auf sich strebte jede Persönlichkeit sich zu basieren, jeder reklamierte im allgemeinen Wechselverkehr seine natürlichen und angeborenen Rechte. Zu gleicher Zeit fügten sich alle diese Einheiten der höhern Einheit des Staats, sie waren frei und beseelt, aber sie teilten ihre Seele miteinander. Es war eine strahlende Lebendigkeit in allen diesen Gestalten, ein inneres, heroisches Ungestüm trieb die Gemüter ins Leben und aus jeder häuslich dürftigen Beschränkung heraus, der[86] Schwung der Gemüter drückte gegen jede Fessel und drohte sie zu zersprengen. Und doch zerfloß das Ganze nicht in Anarchie, denn die verborgene Einheit zügelte wieder den Übermut, diese Einheit, nicht des dumpfen Zwanges der Natur oder Gewohnheit, sondern des Geisterreiches, der Kraft und Zügel, Bedenken und Tun sinnig vereinte, kein modernes Abstraktum, kein logischer Staatsbegriff, sondern die Einheit des Lebens, der Kunst und der Schönheit, welche im Mannigfaltigen das Identische festhält. In dieser Elastizität der Willenskräfte, die federnd nach außen wirkten, verbunden mit jener Sympathie der Vaterlandsliebe, ging das großartige Leben des Altertums hervor. So hatten sie ganz und gar ihren Bestand im Sinnlichen gegründet, waren Autochthone, wie sie sich auch nannten, und hingen mit dem verwitterten Urstamme der asiatischen Menschheit nur insofern zusammen, als sie die nachquillenden rohen Natursäfte desselben zu ihrer eigenen Blüte verwandten.

Leider war auch diese Blüte vom Schicksal bestimmt, um zu verwelken und andern Blüten des menschlichen Geistes Platz zu machen. Die Römer haben Griechenland nicht zerstört, sie haben nur die letzte Hand daran gelegt, sie haben die sterbende Nationalexistenz nach höherem Beschluß exekutiert. Sie stehen überhaupt in der Geschichte als unerbittliche Exekutoren da, die alles Leben, was nicht auf den Beinen feststeht, vor sich niederwerfen und mit eisernem Fuße auf eine unterjochte und zertrümmerte Welt hintreten. Die Griechen waren sich selbst genug, daher machten sie keine auswärtigen[87] Eroberungen, außer geistigen. Die Römer hingegen drängten sich, mit aller Kraft einer isolierten Richtung, aus sich heraus und wurden Eroberer und Unterjocher, weil ihnen das innere poetische Leben und der gestaltende Sinn der Kunst abging. Rom hat keine großen Dichter und Künstler erzeugt, noch viel weniger einen Philosophen, aber Roms Redner besaßen eine dämonische Kraft, weil die Beredsamkeit des Forums mit der Richtung ihres Geistes übereinstimmte und einen tatsächlichen Charakter trug; Männer der Tat hat kein Volk in so großer Zahl und so ununterbrochener Reihe aufzuweisen. Positiv und praktisch war die Weltanschauung der Römer im geraden Gegensatz zur indischen, die sich in sich zurückzog, während die griechische sich in der Harmonie des Geistigen und Leiblichen schwebend erhielt, daher denn auch mit Recht Virgilius den Römern zurief:


Tu regere imperio populos, Romane, memento

Hae tibi erunt artes.


Der Zuruf kam freilich zu spät, die Römer hatten Künste und Wissenschaften bekommen, aber ihre Kraft war gebrochen und der Koloß ihrer Herrschaft ging in Fäulnis und Gärung über.

Das nun hervortretende Christentum, das sich nicht als Volks-, sondern als Völkerreligion geltend zu machen suchte, wurzelte allerdings im Judentum und in den Ideen des Orients, ward aber von einem durchaus neuen und eigentümlichen Geiste beseelt, wie es auch andrerseits von den heidnischen Religionen des Okzidents sich wesentlich unterschied und unter den jüngeren Generationen, welche sich auf[88] dem Ruin der alten okzidentalischen Welt anbauten, eine von allen bisherigen Erfahrungen verschiedene Anschauungsweise hervorrief. Über dem alten Götterhimmel wölbte sich ein neuer Himmel, und wenn einst der sinnlich glückliche Grieche sich von seinen Göttern selbst über die irdische Seligkeit beneiden ließ, so schlug nun die Sehnsucht ihren Blick in die Höhe und die himmlische Seligkeit überstrahlte die irdische, welche keine mehr war, sondern eine Prüfung, ein vergänglicher Wandel, ein Leben im Fleisch, in dem das Böse wohnt und das gekreuzigt werden muß, damit das Leben im Geist beginne. Drängt sich uns danach die resignierende Natur der christlichen Weltanschauung auf, so geraten wir doch nicht auf die irrtümliche Verwechselung der christlichen Resignation mit der indischen Negation des Sinnlichen. Diese hob nicht allein das Sinnliche, sondern mit dem Sinnlichen das verwandte Geistige auf, während der resignierende Christ nur noch energischer und kräftiger die höhere Welt anstrebte und die gedemütigte Seele wieder erhob und zu reineren Regionen mit sich fortriß. Balsam war sie für ihre Zeit; die gesunkene Menschheit richtete sich an ihr wieder auf, und die Millionen Sklaven warfen ihre Fesseln hin, um mit ihren Herren vor den Altar des Herrn aller Herren zu treten. So bemächtigte sie sich anfangs aller Geister, die hienieden nichts zu hoffen hatten, im Fortgang der irdischen Großen die viel zu fürchten hatten, und krönte ihr Werk mit Ergreifung jener jugendlichen Nationen von germanischem Stamm, die wild und feurig in der Welt umherstreiften und sich noch erst[89] Wohnplätze auf der weiten Erde aufsuchten. Neues Blut und neue Kraft drängte sich nun auf die Bühne der Geschichte, und nun erst bekam die neue Lehre ihre wahren Jünger, welche die alte abgestorbene Zeit ihr kaum bilden konnte. Das Element des Mystizismus, das in ihrem Grundcharakter ursprünglich lag, aber in ihrem Verkündiger ganz in unmittelbar praktische Lebenssitte, Kindlichkeit und Reinheit der Gesinnung eingeschleiert war, aber schon in den nächsten Nachfolgern zum Vorschein kam, wurde nun von den nordischen Naturen, die innere Anlage diesem Ziel entgegentrieb, mit frischer, junger Kraft und Energie ausgebildet und zur romantischen Entwickelung hinangetrieben. Es war das Ferment, das mit der ursprünglichen Kraft des Nordens durchgärte und die ganze mittlere Geschichte, Papsttum, Kaisertum, Rittertum, Feudalismus, gotische Baukunst, Poesie, Malerei und Skulptur des Mittelalters bilden half. Solche Gestaltung des Lebens war nur durch die christliche Anschauungsweise möglich, war nur einmal da in der Welt und wird nicht wiederkommen. Selbst die Kunst, welche das Christentum eine Zeitlang verherrlichte, die Malerkunst des 14. und 15. Jahrhunderts trug mit zur Ausartung desselben bei; sie war bei den Griechen in die Schule gegangen und hatte die Schönheiten der Form an der Antike studiert und mit griechischem Auge im Leben aufgesucht. Offne und freie Schönheit der Form aber ist dem Christentume fremd, das Christentum ist ernst, verhüllt und züchtig, und immer ahnt es die Schlange, die hinter den Rosen versteckt liegt. Auf einer raphaelischen Madonna[90] würde der Blick eines Paulus schwerlich mit demselben Wohlgefallen geruht haben wie etwa der unsrige, derselbe Apostel, der der Jungfrau verbot, ihre Haare wallen zu lassen und Kränze auf ihr Haupt zu setzen, mußte auch die Absicht des Malers verraten, bei aller Heiligkeit und Unschuld der Madonna doch hauptsächlich das Bild eines schönen und reizenden Wesens vor Augen zu bringen.

Ebenso gefährlich als die neu erwachende Sinnlichkeit der griechischen Kunst ward der ursprünglichen Anschauungsweise des Christentums der scharfe Verstand, der ungläubige Witz, der scharf die Dinge scheidet, der klar und hell in die Erscheinungen blickt und der fressend, zehrend den Zauber, der ihn fangen will, durchschneidet. Und so sieht sich dasselbe von zwei Richtungen in die Mitte genommen, von der Sinnlichkeit und vom Verstande, und es gärt wieder, wie ehemals, in einem neuen geschichtlichen Prozesse, und jeder von uns fühlt sich mitbegriffen, bewegt und erschüttert im Weben der Zeit und sucht der Richtung zu folgen, welche sich am herrschendsten in ihm geltend macht. Ohne Zweifel wird sich aus diesem Kampf eine neue ästhetische Anschauungsweise entwickeln und damit eine Umgestaltung der Dinge, welche eine neue Kunst, eine neue Poesie, ein neues Leben herbeiführen wird. Mehr in ahnenden Zügen als in wirklichen Umrissen sie darzustellen, wird meine Aufgabe für die nächste Vorlesung sein.

Quelle:
Ludolf Wienbarg: Aesthetische Feldzüge. Hamburg, Berlin 21919, S. 80-91.
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