[102] Wir haben uns in die Weltanschauung der Indier, der Griechen, des christkatholischen Mittelalters versetzt, und gesehen, wie eine nach der andern mit Leben, Kunst und Dichtung ihren Kreis in der Zeit beschloß und einem unabänderlichen Schicksal anheimfiel. Dadurch bestätigte sich uns die aufgestellte Ansicht, daß die Ästhetik, wenn irgend etwas eine geschichtlich geschlossene Disziplin ist und als solche einem viel höhern, aber zugleich auch beschränkteren Standpunkt angehört, als man ihr gewöhnlich einräumt, nämlich dem Standpunkt der jedesmaligen Weltanschauung selber. In diesem Sinne ist freilich keine Ästhetik der Indier, der Griechen, des Mittelalters vorhanden, wenn wir unter diesem Namen den ganzen heutigen Umfang ästhetischer Gesetze und Urteile begreifen, allein teils ist diese Art wissenschaftlicher Vollständigkeit überhaupt mehr eine Erscheinung der neueren Zeiten, worauf es das Altertum nicht ablegte, teils besitzen wir in den Gedichten, Philosophemen und[103] Kunstwerken der Indier, der Griechen, des Mittelalters die lebendigste Ästhetik jener Zeiten und Völker, um so lebendiger, da sie aus dem Leben selbst geschöpft ist.
Von Geschmack und Ungeschmack kann auf diesem Standpunkt nicht die Rede sein. Die absurdesten Extravaganzen der indischen Phantasie, ein Fluß, die Ganga, die vom Himmel herabfällt, und sich in dem wulstigen Haupthaar eines Gottes verstrickt, ein Gott mit Elephantenrüssel u. dergl. sind für die Anschauungsweise des indischen Ästhetikers ebenso mustergültige Bilder und Vorstellungen, wie nur irgend ein Bild und eine Vorstellung aus dem griechischen und christkatholischen Anschauungskreise, wie z.B. die Venus Anadiomene, die sich aus dem Schaum der Wellen erhebt, oder die weiße heilige Taube, die bei der Taufhandlung Christi über den Wassern des Jordan flattert. Entweder man hat den Geschmack, oder man hat ihn nicht, das ist alles, was sich sagen läßt; denn dies heißt dann weiter nichts, als daß man entweder als Indier, oder als Grieche, oder als Christ die Welt und ihre Erscheinungen auffaßt. So geschieht es allerdings oft, daß dem christlichen Auge mißfällig und unschön vorkommt, was dem griechischen schön und gefällig, was beiden vielleicht übereinstimmend schön, dem indischen Auge als das gerade Gegenteil, oder umgekehrt, daß, was den Indier entzückt, dem Griechen und Christen ein Abscheu und Gräuel ist.
Alle diese verschiedenen Geschmacksurteile sind keineswegs willkürlich und zufällig, nicht etwa nur aus augenblicklicher Laune gefällt, oder aus[104] individueller Mißbildung der Organe hervorgegangen; sondern man muß sie betrachten als direkte, gesetzmäßige Ausflüsse aus der Grundquelle ästhetischer Urteile, als volkstümliche Formen, die nach dem Urtypus der jedesmaligen Weltanschauung ausgeprägt sind.
Solche Gesetze und Formen mußte die Ästhetik, wie schon bemerkt, nach dem wissenschaftlichen Bedürfnisse unserer Zeit, in möglichster Vollständigkeit enthalten, und dies ist eine Aufgabe, welche die Reflexion des Ästhetikers ohne Schwierigkeit zur Lösung bringen kann, sobald sein Leben in eine Zeit fällt, der eine eigentümliche, alles durchdringende Weltanschauung zuteil geworden, sobald sein Leben einer Menschheit angehört, die mit ihm und mit sich selbst sympathisiert und gleichsam aus einem Zeuge gewebt ist. Da denke ich mir den Ästhetiker, wie er zunächst aus dem tausendfältig Gegebenen, vermöge eines Aktes poetisch divinierender Abstraktion, die einfache Formel des ästhetischen Bewußtseins oder, was dasselbe, der zeitig lebendigen Weltanschauung aufsucht. Hat sich ihm diese ahnungsvoll erschlossen, so mag er sie im Eingang seines Werkes aussprechen, als eine Definition der Schönheit, womit auch die modernen Ästhetiker den Anfang zu machen pflegen, und daß in ihrer geschichtlosen und toten Weise der Begriff der Schönheit zur allgemeinen Abstraktion wird, während sie bei jenem eine konkrete Innigkeit gewinnt, da er sie aus den schönsten Blüten der Gegenwart selbst ausgesogen und eingeatmet hat. So mochte z.B. der indische Ästhetiker[105] auftreten und sagen, die Schönheit oder das, was gefällt, ist der Über- oder Untergang des Wirklichen und Natürlichen in Brahm, das hieße bei uns, in das Nichts; der Grieche, die Schönheit oder das, was gefällt, ist die göttliche Idee der Einheit im Mannigfaltigen und Wirklichen, welche verklärt zur Erscheinung kommt; eine Absorption des Geistigen durch das Sinnliche; der Christ, die Schönheit oder das, was gefällt, ist der Sieg des Unsichtbaren über das Sichtbare, des Himmlischen über das Irdische die Absorption des Sinnlichen durch das Geistige, oder wie jeder von diesen Supponierten das eigentümlichste seiner ästhetischen Grundanschauung aussprechen mochte.
Nach diesem denke ich mir den Ästhetiker, wie er den Begriff der Kunst entwickelt und zwar nach dem weitesten Umfang, in dem nicht nur die Poesie und die bekannten Künste eingehen, sondern auch und vorzüglich die größte und erhabenste Kunst, die Kunst, sein inneres und äußeres Leben als einzelner, als Glied der Familie, als Glied des Staats, als Glied der Menschheit zu gestalten, die Kunst also, die sich unser Sittliches und Sinnliches selbst zum Stoffe auswählt, um an ihm die Schönheit zu betätigen. Hierauf hat er auf eine Reihe von Kunstlehren sich einzulassen und in jeder besonderen darauf sein Hauptaugenmerk zu richten, daß das ursprüngliche Gesetz, die Grundanschauung seiner Zeit und seiner Ästhetik durch nichts Fremdartiges verdunkelt werde, sondern möglichst klar und individuell heraustrete und seine Rechtfertigung in sich selber und im[106] ganzen finde. Da aber der Ästhetiker nicht eigentlich Gesetze gibt, sondern nur zurückgibt, sie nur entdeckt und nicht erfindet, kurz, da sie zu den geschichtlichen Wissenschaften gehört, so wird ihm die kritische Betrachtung vorhandener Kunstwerke, des Lebens, der Sitten, der Zeitdichtungen und überhaupt der Produkte des Genies, den Beschluß jener Kunstlehren bilden, wie sie in der Tat auch ihren Anfang erst möglich machten.
Dieses ist in kurzen Zügen das Bild eines. Ästhetikers und einer Ästhetik, wie es mir vorschwebt, vorschwebt, ohne daß ich die entfernteste Möglichkeit sähe, wie es ein sterblicher Mensch heutzutage realisieren könnte, weil Leben, Sitten, Künste, Dichtungen in einem widrigen Zwielicht stehen, wie alles Charakteristische total untergegangen ist, weil noch die Zeit ihren Geist sucht, der ihr abhanden gekommen ist wie Peter Schlemihl seinen Schatten, und weil das, was man vorläufig Zeitgeist nennt, bisher nur mehr negative als positive Lebensäußerung von sich gegeben hat.
Was man bisher deutsche Ästhetik nannte, war ein unästhetisches Gemengsel sogenannter ästhetischer Gesetze und Formen, woraus die Dichter des Ramanja und Mahabarat, wonach Firdusi und Sophokles, wonach Pindar und Horaz, Calderon, Shakespeare und Goethe, jeder etwas und alle nichts hätten schöpfen können. So war auch die Zeit zusammengemischt aus allen möglichen Elementen, und man möchte die größten Dichter derselben poetische Kamäleons nennen, die bald im reichen orientalischen Talar, bald im spanischen[107] Mantel, bald als eiserne Ritter in Helm und Panzer, bald als Moderne im Pariser Frack auftraten und die Poesie fremder Völker und Zeiten auf die täuschendste Weise nachzuahmen verstanden; dadurch ward die Poesie allerdings immer poetischer, und die Zahl der Poeten in einem Poeten nahm mit den Jahren immer zu; allein auf der andern Seite ward das Leben immer prosaischer, immer fader, immer mehr platt wirklich. Die nationale Quelle der Poesie war vertrocknet, und hätten die Poeten auch das poetische Weltmeer ausgeschöpft und den Strom aller himmlischen und irdischen Poesien über die schmachtende Gegenwart ergossen, sie wäre darob um nichts poetischer und blühender geworden, als sie war. Eben dieser Zeitraum, den wirklich geniale und große Dichter, wie Schiller und Goethe verherrlichten, liefert uns den schlagendsten Beweis, daß die Poesie und alles Schönste immer und ewig ein Fremdling bleibt, wenn es aus der Fremde kommt und nicht geboren und aufgewachsen mit den Kindern der Heimat. Und die Poesie unserer Dichter war das Mädchen aus der Fremde, wovon Schiller singt, die erscheint, man weiß nicht woher, und spurlos verschwindet, wenn sie Abschied nimmt. So kam die Poesie zu den Deutschen, so lasen sie Schillers und Goethes Gedichte, so sahen sie den Tell auf der Bühne, und wenn die Poesie wieder weggegangen war, so war ihre Spur verloren und des Philisteriums breite, ausgetretene Fußstapfen wurden betreten, nach wie vor.
Gegenwärtig ist es freilich anders. Nicht, daß[108] wir schöner lebten; doch fühlen wir allmählich Sehnsucht danach, und es fängt uns an zu dämmern von einer Poesie des Lebens, die aller Kunstpoesie Mutter ist und zwar mater, filia pulchrior. Die großen Dichter sind tot und wir grämen uns nicht so sehr darüber, überall sind wir mehr gleichgültig gegen Kunst und Poesie geworden, in dem Verstand, worin beide bisher gepflegt, auch das nenne ich ein gutes Zeichen, auch dieses, daß die sogenannte Prosa, die ungebundene Rede wirklich ungebundener und poetischer zu strömen anfängt, als bisher, wo die Prosa eben den von den Stricken der Philister gebundenen Simson vorstellte und die sogenannte gebundene Rede, die Poesie, schrankenlos umherschwärmte.
Unsere Dichter sind prosaischer geworden, unsere Prosaiker aber poetischer, und das ist ein bedeutsamer Wechsel, ein Wechsel, der zu den erfreulichen Zeichen und Erscheinungen der Zeit gehört, weil Prosa unsere gewöhnliche Sprache und gleichsam unser tägliches Brot ist, weil unsere Landstände in Prosa sprechen, weil wir unsere Person und Rechte nachdrücklicher in Prosa verteidigen können, als in Versen.
Doch ist dem Ästhetiker mit alledem nicht viel geholfen; die Stagnation des Lebens ist noch zu allgemein und vorherrschend, und das grüne, trübschmutzige Wasser ist kaum trinkbar für einen Mülleresel, geschweige für das geflügelte Roß, das seinen Durst in der klaren Flut der Hippokrene stillen will.
Also, es gibt keine Ästhetik im angegebenen Sinn, es kann keine echte Ästhetik geben, wer sie[109] schriebe, müßte vorher (neue Religion, eine neue Moral) eine neue Kunst, ein neues Leben herbeischaffen. Weder in München, noch in Berlin wird sie ein Professor lesen, alle Gemälde, Bildsäulen und geschnittene Steine der Könige von Preußen und Bayern reichen nicht aus, um einen Paragraphen der Ästhetik zu füllen, die der neuen Geschichte, ich meine, der Zukunft angehört. Ist doch selbst jene sogenannte neue Kunst- und Malerschule an beiden genannten Orten nur die Schule einer Schule, nur ein Anfang zur Wiederholung von Kunstideen und Kunstformen, die, wie alles, ihre Zeit gehabt haben.
Indem ich dies Geständnis, das ich schon in der er sten Stunde ablegte, wiederhole, nachdem mir alles bisherige zur Erläuterung und Argumentation desselben gedient hat, schreite ich zur Beantwortung der Frage, was denn, da die Ästhetik gegenwärtig ihrer Aufgabe, eine lebendig geschichtliche zu sein, durchaus nicht entsprechen kann, von Ästhetik noch bleibt.
Zunächst wird jeder gleich sehen, daß uns hier ein reicher Spielraum für individuelle Ansichten aufnimmt, und daß jeder heutige Ästhetiker sich in den Fall versetzt findet, mit hinlänglicher Willkür den alten Weg zu verfolgen und aus dem Chaos untergegangener Schönheiten beliebig dies und jenes auszuwählen, bald mehr die klassischen, bald mehr die romantischen zu begünstigen, bald mehr die Kunst, bald mehr die Poesie in sein Gebiet hereinzuziehen, oder auch den rhetorischen Schönheiten das Uebergewicht zu verstatten.[110]
Aus diesem Wirrwarr ist wirklich das, was wir heutigen Tages Ästhetik nennen, entsprungen. Man ist ausgegangen, sagt Herbart, von der Tatsache, daß über Sachen des Geschmacks verschieden geurteilt wird; man wünscht aber zu einer sicheren Entscheidung zu kommen, und nun betrachtet und behandelt man die Ästhetik als eine der vorhandenen unsicheren Beurteilung des Schönen in der Natur und Kunst vorgeschobene und zum Dienst derselben bestimmte Wissenschaft. Sehr richtig. Jeder abstrahierte nun die Gesetze des guten Geschmacks (ein Wort, das den Alten natürlicherweise nicht bekannt war, da ihr Schönheitssinn nicht allein guten Geschmack an Artistik und Poeterei, sondern auch am Leben bezeichnete, mit dem unser guter Geschmack gar nichts zu schaffen hat, jeder, sage ich, abstrahierte die Gesetze des guten Geschmacks aus den ihm bekannten Poeten und Künstlern. Da nun das vorige Jahrhundert die Livree von Ludwig XIV. trug, so war man anfangs ziemlich einig über die echten Muster der Poesie und Kunst, und daher auch über die Kunsterzeugnisse, welche bei der Abfassung jener steifzierlichen, französisch antiken Meisterwerke zur Richtschnur dienen sollten.
In Deutschland wurde solche Kritik des Geschmacks Ästhetik, und nur etwas langweiliger, gelehrter, philosophischer unter diesem Namen auf den Universitäten doziert. Das durch Winckelmann wieder aufblühende Studium der Antike, die Bekanntschaft mit Shakespeare, mit Kalderon und anderen ausländischen Dichtern, mit dem romantischen Mittelalter, mit Indien und Persien zuletzt,[111] alles dieses, was zur neueren Geschmacksbildung, das heißt, zur neueren Geschmacksverwirrung gehört, bereicherte und verwirrte auch die Ästhetik. Bouterwek, die Schlegel, gaben den Leuten, die ihren Geschmack bilden wollten, die halbe Welt durchzuschmecken, woraus aber mehr Ekel als Genuß und Bildung hervorging, und wovon allmählich Widerwille gegen alles Ästhetische die natürliche Folge war.
Beantworte ich also die Frage, was uns gegenwärtig als Ästhetik noch bleibt, damit, daß ich sage: die alte Ästhetik für die, die ihrer noch nicht überdrüssig geworden sind, für die anderen aber, das leise ästhetische Gefühl, das im Schoß der Zeit sich regt, das prophetische Gefühl einer neu beginnenden Weltanschauung, das sich von Tage zu Tage bewußter und deutlicher wird, die Einleitung zur künftigen Ästhetik.
Als eine solche, meine Herren, mögen Sie auch die gegenwärtigen Vorlesungen betrachten. Was uns betrifft, so könnte uns schon deswegen die gewöhnliche Ästhetik nicht genießlich sein, da wir im Norden aller künstlerischen Bildung ermangeln, da es am hiesigen Ort weder Gemäldesammlungen, noch Gipsabdrücke, noch Daktiliotheken gibt, da ich auch auf keine Anschauungen der Art hinweisen, noch mich auf frühere berufen könnte. Hören Sie also den Plan, den ich in der Zukunft befolgen werde. Was den Stoff betrifft, so müssen wir uns, einige Allgemeinheiten abgerechnet, allerdings beschränken auf Poetik und Rhetorik, was den Geist und die Darstellung betrifft,[112] hoffe ich Sie aber an die unfruchtbare Pedanterie früherer Behandlungen, so wenig als möglich zu erinnern, indem es meine Aufgabe sein wird, sowohl Poesie als Prosa im Zusammenhang mit den Richtungen der Zeit aufzufassen und Sie das Gesetz der Schönheit, das über beiden gemeinschaftlich waltet, als das Gesetz der werdenden Weltanschauung ahnen zu lassen. Meine Bemerkungen werden sich anreihen an die Werke einiger neuerer Schriftsteller, an Byron und Goethe in poetischer, an Heinrich Heine in prosaisch stilistischer Beziehung. Die Prosa wird vor allen Dingen unser Augenmerk sein, und ich hoffe, Sie selbst in den letzten Stunden zu praktischen Übungen zu bewegen. Die Prosa ist eine Waffe jetzt, und man muß sie schärfen; dies allein schon wäre ein erfreuliches Resultat unseres Zusammentreffens.
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