[68] Als ich im Frühling 1858 nach München übersiedelte, kam ich wie der Gott Janus mit zwei Gesichtern: das eine sah in das Halbvergangene zurück und hieß noch Student, das andere blickte voraus in meine journalistische Zukunft und hieß Mitredakteur des »Deutschen Kunstblatts«. Friedrich Eggers, der die Last allein nicht trug, hatte mich beredet, sein ungenannter Unterredakteur zu werden; ein etwas voreiliges Amt für einen zwanzigjährigen Studiosus der Jurisprudenz, der nach München ging, um bei Heinrich von Sybel Geschichte zu studieren. Denn dazu hatte mich ein anderer beredet, sehr zu meinem Besten: Franz Kuglers älterer Sohn Bernhard, der im vergangenen Winter heimgekommen war, um sich von einer schweren Krankheit gründlich zu erholen, und mit dem ich mich gleichfalls eng befreundet hatte. Mit ihm und seinem Bruder Hans fuhr ich nun nach dem Süden – die verwitwete Mutter war schon voraus – und stürzte mich leichten Sinnes in mein Doppelleben, das ich junger Übermut gern noch durch allerlei Anbauten zu einem Universalgebäude erweitert hätte.[68]
Da saß ich deni; in meiner Luisenstraße – derselben, in der Heyses und Kuglers wohnten – und schaute frei und weit, ohne Gegenüber, in die bayrische Hauptstadt hinein. Hatte mich in Berlin der schöne, große, hochwipselige Garten der Tierarzneischule durch seine grüne Stille erquickt, so lag hier eine Welt vor mir: zunächst große, reichbepflanzte Flächen, zumal der Botanische Garten mit dem Glaspalast; dann zur Linken die säulengeschmückte Bonifaziuskirche, den altchristlichen Basiliken nachgebaut; geradeaus ein reichbetürmtes Stadtbild, alles überragend die mächtigen, wunderlich aber wirksam abgerundeten Türme der Frauenkirche, das alte Wahrzeichen der Stadt. Wie die Augen hatten auch die Ohren ihr Teil: früh morgens, wenn kaum der Hahn dreimal gekräht hatte, zog bayrisches Kriegsvolk die Karlstraße herauf, zum Marsfeld hinaus, mit klingendem Spiel; bald hoben auch die mir noch neuen katholischen, hellen Glocken an, und an festlichen oder nachfestlichen Tagen fiel von der Basilika die Orgel ein und mit ihr der wohlklingende Knabenchor. An den Werkeltagen begann dafür die Musik des Verkehrs, die halbgesungenen Lockrufe der »Haderlumpen«, des »Sagklein«, der Besen, Früchte, Gemüse; ein Scherenschleifer pflanzte sich etwa an der Ecke, unter unsern Fenstern ein Holzsäger auf. Und am Abend, nach dem Nachtgebet der Kirchenglocken, kam von nah und fern aus den Gärten Volks- und Biermusik, die mich wohl endlich in Schlaf lullte, wie mich als Knaben die Spieldose meiner Warnemünder Großtante lieblich eingeschläfert hatte.
Wollte ich aber Menschen sehn, so hatte ich ein paar Häuser weiter zur Rechten das junge Heysesche Glück,[69] links die arme Frau Klara mit ihren Söhnen; diese grundholde Frau, die nun vollends in ihrem unendlichen Gram bewährte, wie tief in ihr die Holdseligkeit eingewurzelt saß. Sie hatte mit ihrem Gatten das reinste Eheglück verloren; aber mit der wunderbaren Kraft, die sich aus der edelsten Rücksicht auf die glücklicheren andern nährt, wandelte die kleine, zarte, trauerschwarze Gestalt unter uns wie ein Bild der Menschenliebe, des Mitwollens umher und veredelte uns nur das Lebensgefühl, verdüsterte es nicht. Jeder litt mit ihr, jeder suchte ihre Stunden, ihre Tage ein wenig zu erleichtern, und jeder segnete sich, daß sie da war, in all ihrer Umwölktheit doch ein Sonnenlicht. Damals hab' ich gelernt, was für ein Wunderwerk ein wahrer Mensch ist. Von dieser Frau hatte wohl Hans Kugler die unerschöpfliche, noch in der letzten Stunde bewährte höchste Liebenswürdigkeit geerbt, die in all seinen Leiden nicht von ihm ließ, seinen herzerquickenden Humor immer wieder aus der Quelle des Zartgefühls tränkte, durch Liebessinn vergoldete, und aus seinen seltenen Klagen gleichsam Lieder machte, mit denen ein ferner, wehmütiger Gesang uns rührt, das Tragische der Welt in uns feierlich erweckend.
Rechts lernte ich denn nun auch den Frühling kennen, der sich den Herbst nachgezogen hatte: Paul und Grete Heyse und ihre beiden ersten Kinder, Franz und Lulu. Paul Heyse strahlte damals in einer ersten Blüte, die kaum mehr zu überbieten war; eben achtundzwanzig alt und schon von Ruhm und Erfolg gekrönt, in einer jungen Ehe voll Liebe, Eintracht und Glück, schön, gesund, rastlos fruchtbar, und mit Mutterwitz[70] und Humor so reich ausgerüstet, daß er auch Berge von Unglück überstiegen hätte. Sein von langem, schön fallendem Haar umflossener Kopf war ein Dichterkopf; und wie die vordringenden Augen leuchteten, so tönte sein Tenor, so flutete seine Rede, in der jeder, der Ohren hatte, den Poeten hörte. Es war wie angeborene, selbstverständliche Beredsamkeit; und was er an dem Philosophen Vischer, dem Schwaben, bewunderte, war auch ihm schon gegeben: die Schnellfertigkeit des klaren, kristallhellen Gedankens, den dann sofort das glücklich gefundene Bild zu voller Lebenswärme ergänzte. Auf spaßhaft dramatische Weise lernte ich ihn kennen: ich hatte ihn noch nicht (oder einen Augenblick) gesehn und sprach mit seiner Frau, während er nebenan tief in Arbeit steckte; da hörten wir seine Tür zum Vorplatz aufgehn, eine fremde Stimme, und dann Paul Heyses kraftvoll herzlichen Tenor: »Ah! Wie freu' ich mich, dich 'mal wiederzusehn! – Ich hab' gar keine Zeit!« Diese beiden Sätze, so unmittelbar nacheinander gesprochen – und gleich herzlich beide – – ei, das ist genial! dachte ich. So spricht kein Mensch und so sollte jeder sprechen! – Frau Grete und ich sahen uns an und lachten oder lächelten. Der Besuch nebenan war bald zu Ende; ich glaube, der Fremdling ward zu Tisch gebeten. Nach einer Weile erschien dann Paul bei uns, und wie wenn ich nun schon zum Hause gehörte, begann wunderbar schnell die Freundschaft zwischen dem jungen Paar und mir, die aus Kuglers, Heyses und »Ati« (statt Adolf) gleichsam eine Familie machte; das eigentliche Paradies meiner Werdezeit.
Grete Heyse erinnerte wenig an ihre Mutter,[71] sie war ein Wesen ganz für sich; nicht so anmutsvoll, nicht so schön, aber von so edlem, tiefem Reiz und von so vollkommener Wahrhaftigkeit und Reinheit, daß es mir schon ein holdes Gefühl ist, nur an sie zu denken. Fernstehenden Frauen, zumal süddeutschen, konnte sie als hochmütig oder kühl erscheinen, und doch war sie völlig das Gegenteil; es lag aber nicht in ihr, sich leicht anzuschließen, und umgekehrt wie die Sonne, die ihre Wärme verschwendend rings in den Äther ausstrahlt, gab sie fast alles den Nächsten hin; denen aber endlos. Es war viel keuscheste Poesie in ihr. Dieses schöne Leben sollte früh zu Grabe gehn; als ihr viertes Kind in der Wiege lag – vielleicht waren die vier zu rasch gekommen – ward sie von unaufhaltsamer Schwindsucht ergriffen und schon 1862, in Meran, den Ihrigen entrissen.
Als das akademische Semester begonnen hatte, stieß aus Rostock ein Kamerad zu mir: der Verlobte meiner Schwester Luise, Friedrich Strempel, der nun für längere Zeit mein Gefährte ward, um seine (durch Familienschicksale unterbrochenen) akademischen Studien zu vollenden und dann in meiner und seiner Vaterstadt als Oberlehrer sein Haus zu gründen. Er kam aus akademischer Luft, sein Vater war Professor der Chirurgie, sein Oheim unser Rostocker Botaniker; zugleich ein Humorist voll heiterer Einfälle; so hatte er einmal, als mein Vater am schwarzen Brett der Universität angezeigt hatte, daß er »heute wegen Heiserkeit nicht lesen« könne, von dem Buchstaben s in»Heiserkeit« die untere Hälfte wegradiert und den Rest zum t gemacht. So kühn waren meines zukünftigen Schwagers Humore nicht, aber sie hatten auch volles Mecklenburger[72] Maß; wir verstanden und vertrugen uns daher unerschöpflich gut. Er war ein vor allem mathematischer Kopf, aber von einer Lern- und Leselust ohne Grenzen; in diesen Münchener Zeiten las er fast alles mit, was ich mir zusammentrug, es mochte Geschichte oder Kunst oder Literatur oder Philosophisches sein. Das Mathematische seines Denkens zeigte sich wohl auch praktisch im Rätselraten; bei einem Pfingstausflug ins nahe Gebirg, den er und ich mit Paul Heyse machten und der tragikomisch verregnete, vertrieben Paul und ich uns zuletzt die Zeit mit unendlichem Rätseldichten; Friedrich Strempel, seine klugen Augen durch die Brille in die triefenden Wolken bohrend, löste auch die verriegeltsten Rätsel, er löste alle.
Inzwischen hatte ich mich Arm in Arm mit Beruyard Kugler in das Studium der Geschichte gestürzt und in Heinrich von Sybel den Meister gefunden, den ich brauchte. Mein Hauptzweck war, die neue kritische Methode zu lernen, mit der die Geschichtsforschung die alte, treuherzige Art, den Wert der Überlieferungen sozusagen durch das Gefühl abzuschätzen, gründlich abgetan und durch sorgfältigste Ausgrabung und Untersuchung der Urquellen ersetzt hatte. Hier konnte es für mich keinen besseren Führer geben als Sybel, der mit sicherster Handhabung der Methode die Kunst des Darstellers und einen vornehmen, anregenden, fruchtbaren Geist verband. Er hatte soeben erst in München das historische Seminar, das erste in Deutschland, begründet; was er uns hier lehrte, hatte er schon mit vierundzwanzig Jahren in seiner Geschichte des ersten Kreuzzugs aufs glänzendste bewährt. Die innere[73] Unruhe und Beweglichkeit, die ihn zu immer neuen Unternehmungen trieb (zunächst sollte er 1859 die »Historische Zeitschrift« gründen), arbeitete auch in seinem geistreichen Gesicht, spielte um die Lippen und in der ganzen Gestalt. So sah man denn wohl auch die Freude, das Bedürfnis, auf die Jugend zu wirken, sie mit seinem Geist zu erfüllen, ihr Aufgaben zu stellen, an denen sie sich stärken und bewähren konnte. Mir kam er rasch und herzlich entgegen, und ich, der ich wie ein rechter Jüngling am liebsten ins Allgemeinste ging und schon von einer »philosophischen Weltgeschichte« träumte, ließ mich von einem Meister wie Sybel doch gern mit einer Seminararbeit betrauen, die im engsten blieb: Kritik Gottfried Hagens und seiner Kölner Reimchronik (dreizehntes Jahrhundert), insbesondere Feststellung seiner Chronologie und was sich etwa daraus ergab. Ich arbeitete mich mit all meinem Ungestüm hinein, hatte das Glück, eine sonderbare Verwirrung des Textes zu entdecken und aufzulösen, und gewann mir den ersten Preis (fünfzig bayrische Gulden); Anfang und Ende meiner Laufbahn als politischer Historiker.
Daneben trieb ich mein Handwerk als Redakteur des »Deutschen Kunstblatts«, warb und schrieb' dafür (viel zu früh!), lernte helfend von Paul Heyse, der mich die Druckbogen seiner neuesten Dichtung kritisch mitlesen ließ, stürzte mich in die große historische Kunstausstellung, die in diesem Sommer im Glaspalast eröffnet ward, suchte sehen zu lernen und die jungen Augen mit Verstand zu füllen. Luft und Kraft waren da; meine Gesundheit wuchs noch immer, und mit ihr mein Arbeitstrieb. »Es ist nichts ungesunder, als krank[74] sein,« war mein Losungswort, das ich nach Hause schrieb; und ich meldete auch: »Unsre Heiterkeit ist bodenlos wie das Atlantische Meer!«
Die Zeit, das zu bewähren, kam, als das Semester zu Ende ging und wir Studenten den vorausgereisten Frauen und Kindern nachzogen, in die »Sommerfrische« über dem Isartal. Ebenhausen heißt der kleine Ort, damals noch ohne Eisenbahn; in einer erhöht freistehenden Villa, dem »Schlößl«, wohnten wir alle und nur wir, Kuglers, Heyses, eine neue junge Freundin: Fräulein Lotte Pochhammer, mein Schwager und ich. Der Schwager entwich indessen bald, von seinem Rostocker Magneten fortgezogen; dafür kamen Friedrich Eggers, auf Wochen (er hatte mich schon lange in München besucht), und Professor Bernhard Windscheid, auch ein neuer Freund; Platz war für alle. Von unserm grünen Hügel schauten wir weit ins Land hinein; die Isar rauschte ungehört in der Tiefe, im Süden leuchtete oder dämmerte die lange wellige Mauer des Gebirgs, so lockend wie »die Ferne blauer Berge« in Goethes herrlichem Spätgedicht.
Diese meine erste Sommerfrische kam sogleich dem Ideal am nächsten; poetischer, lebendiger und unterhaltender hab' ich wohl nicht eine erlebt. In allen Ecken des Hauses verteilt und jeder ganz nach Wunsch für sich, waren wir doch wie eine Familie, die den besten Willen und die mannigfachsten Talente hatte, die Tage mit schönem Inhalt zu füllen. Der Saal zu ebener Erde gehörte allen; hier ward gezeichnet (Paul Heyse, Grete, Hans, Lotte Pochhammer trieben es mit Eifer, nie war man vor ihrer Porträtierwut sicher),[75] hier ward gesungen, gespielt, mit den reizenden Kindern getollt, Königskuchen und andre kulinarische Kunstwerke wetteifernd geschaffen; hier ward die Luft mit allen Humoren gesättigt, die derselbe Wetteifer aus so vielen leichterregten Köpfen hervortrieb. War das Wetter gut, so lebten wir natürlich im Garten, oder wanderten weit ins Land; schöne Spazierwege gab's genug. Die tägliche Wanderung zum Wirtshaus, das am Fuß unsres Hügels lag, störte die gute Laune nicht, sie kochten, brieten und backten dort gute Dinge, und die allerliebste junge Pepi, die Wirtstochter, war eine Künstlerin in »Windnudeln«, an die (die Windnudeln mein' ich) ich mein Herz verlor. Sonst war für die jungen Herzen durch Lotte Pochhammer gesorgt; sie, unsre einzige Unvermählte, Berlinerin voll Berliner Humor, Malerin, Sängerin, Klavierkünstlerin, so geschwind mit uns befreundet, wie sich in Ebenhausen alles begab, sie hatte bald die drei Jünglinge, Bernhard, Hans und mich, als Chor der »Huldijungen« um sich, wie Paul Heyse uns mit einem seiner ungezählten Wortspiele benannte.
Als diesen unsern Patriarchen (denn Windscheid und Eggers waren noch nicht gekommen) eine Erkrankung seiner Mutter für eine Weile hinwegrief, so versuchte ich, ein übriges zu tun, um das Haus zu erheitern; ich gründete eine Zeitschrift, »Unterhaltungen am Rande des Blödsinns«, wie Gutzkow damals seine »Unterhaltungen am häuslichen Herd« herausgab. Ich warb um Beiträge, schrieb das meiste selbst; der Erfolg war günstig, das Blatt machte seinem Namen keine Schande, wirkte, wie es sollte. Ich unternahm ein zweites,[76] größeres Werk; eine durchgereiste »Dichterin« (laßt mich sie »Agnes Gans« nennen) hatte einen Band halbverrückter Novellen geschickt, an denen die Kolonie sich so ergötzt hatte, daß ihr der Gedanke gekommen war, die tollste zu dramatisieren und zu Pauls Wiederkehr mit beweglichen Puppen aufzuführen. Ich erbot mich, den Text zu schreiben; Frau Grete und Hans übernahmen, die Puppen zu zeichnen, und Fräulein Lotte, sie anzumalen. Das fünfaktige Schauspiel war schnell entworfen, dann in wenigen Tagen ausgeführt; es hielt sich immer am Rande des Blödsinns, jeder fertige Akt ward vorgelesen und fand ein dankbares Publikum. Unterdessen arbeiteten die andern an den Darstellern; als ich den Schluß vorgetragen hatte, ward auch die Puppenschöpfung beendet, und während der rastlos emsige Hans das ganze Personal auf Pappe klebte, blieben wir alle bis lange nach Mitternacht beisammen, alle Lieder der deutschen Sprache heruntersingend und von einer Künstlerlustigkeit erfüllt, an der die ahnungslose Dichterin größten Anteil hatte.
Am Sonntag, nach Paul Heyses Heimkehr, erfolgte dann die Aufführung. Auch ein paar Freunde Pauls waren angekommen, zu kurzem Besuch; man traute ihnen genug unschuldigen Humors zu, so einen Theaterabend mit Verständnis zu genießen, und vor einer Nische unseres Saals, die ein Vorhang abtrennte, saßen sie mit Paul und den Seinen als Publikum. Während Bernhard und Hans die Darsteller mit vieler Kunst agieren ließen, lasen Lotte und ich aus der einzigen Schrift die geteilten Rollen vor; es glückte aber alles. Der Erfolg war glänzend. Das Überraschendste[77] aber, wenigstens für mich, war der Schluß: als ich als Verfasser gerufen wurde und mit Mühe durch den Nischenvorhang herauskam, eilte Frau Grete auf mich zu und drückte mir einen ungeheuren Buchenkranz, der mit – Windnudeln besetzt war, auf den Kopf. Ich brach kniend zusammen; schnell teilte sie aber einige Zettel aus, und nach der Melodie der preußischen Nationalhymne, deren Text sie aufs liebenswürdigste umgedichtet hatte, sang die ganze Gesellschaft:
Heil dir im Nudelkranz,
Dichter der Agnes Gans,
Heil Ati dir!
Fühl' in der Nudeln Glanz
Die hohe Wonne ganz,
Liebling von uns zu sein;
Heil Ati dir!
Die noch folgenden Strophen verschweige ich. Von so viel Ehre und Liebe betäubt, schüttelte ich das bekränzte Haupt. Meine überlangen Haare konnt' ich nicht mehr schütteln: eine Woche früher waren sie in demselben Saal unter Frau Klaras kunstfertigen Händen, bei feierlicher Heiterkeit der zuschauenden Kolonie gefallen.
Wie sehr sich mittlerweile der Stil dieser Kolonie selbständig entwickelt, das heißt: in eine Art von Rotwelsch verwandelt hatte, das zeigte sich, als der heimgekommene Paul schon einige Mühe hatte, sich in unser Deutsch wieder einzuleben; als zwei Wochen später Bernhard Windscheid kam, war die Entartung so weit vorgeschritten, daß er nach vielfachem[78] Sichverwundern, Horchen und Kopfschütteln endlich fast empört in die Worte ausbrach: »Aber verzeiht, ich versteh' euch nicht!« und ihm die Unterhaltungen am Rande des Blödsinns vorgelesen wurden, um ihn dieser närrischen Gesellschaft schneller anzuheimeln. Windscheid, Sybels Düsseldorfer Landsmann, der später so berühmt gewordene, große Pandektist, seit einem Jahr Professor in München, hatte sich mit Heyses befreundet und durch sie Fräulein Lotte Pochhammer kennen gelernt; daß ihn vor allem dieses Mitglied unserer Kolonie nach Ebenhausen zog, merkten wir wohl bald. Er schloß sich aber uns allen, auch den jüngsten, trotz seiner einundvierzig Jahre mit liebenswürdigster Herzlichkeit an; höchst interessant und sein gemischt wie sein Wesen war, aus tiefstem sittlichen und wissenschaftlichen Ernst, reinstem Herzensadel, unermüdlichem Spür- und Denkersinn und einer rheinländischen, geistdurchwehten Heiterkeit, die jeden Humor verstand, den edelsten Salat mit Künstlerhänden bereitete und ein unscheinbar »suer Wienke« von Moselreben ebenso zu würdigen wußte wie das vornehmste Rheingauerblut. Er hatte sich nun auch an die Ritornellenwut zu gewöhnen, die in unsrer Kolonie ausgebrochen und an der ich schuld war. Wie diese italienischen Dreizeilen, die man so leicht improvisiert, gern mit einem Frucht- oder Blumennamen beginnen, auf den sich dann, mit oder ohne Zusammenhang, ein kleiner Gedanke, Gefühlshauch oder Seufzer reimt, so hatte ich mir scherzweise erlaubt, zum Anfang einen bayrischen Speise namen oder dem Verwandtes zu nehmen, zum Beispiel Windnudeln, Weichselstrudel,[79] und dann umzudrehn, wie in folgender Erklärung meiner Bruderliebe an die schwesterlich erwidernde
Strudeichsel.
Ich habe dich, wie ich's gedacht, gefunden,
Nun zieh' ich brüderlich an deiner Deichsel.
In der Ebenhäuser Luft steckte alles sinnig Unsinnige an. Nachdem ich eines Morgens im Gras, am Wald, ein halbes Dutzend solcher Ritornelle gedichtet und, frisch wie sie entstanden, den daneben Zeichnenden vorgelesen hatte, ward eine allgemeine wilde Jagd auf Ritornelle daraus. Paul ergriff es zuerst, Eggers (der inzwischen gekommen war), Hans und Lotte folgten. Geschont ward natürlich niemand und verschwiegen nichts; wie in dem Dreizeiler von Hans an Lotte Pochhammer:
O grause Lotte!
Was pochst und hämmerst du in Atis Herzen,
Da Bess're sind in der Verehrer Rotte?
Oder wie in Eggers' Angriff auf mich, als mein Langhaar wieder wucherte:
Line der Krino (Krinoline).
Wärst du allein im Walde mir begegnet,
Ich hätt' geglaubt, du wärst der Abällino.
Oder Lottens Klage, als sie sich von Paul einen Bleistift geliehen hatte (hier ist der Anfang vielleicht nicht getreu):
Blühende Triften.
So gut und weich der Mann im Leben ist,
So hart ist er in seinen Zeichenstiften.
[80]
Auch diese Epidemie erlosch endlich, wie alle. Paul und ich hatten aber etwas anderes entdeckt: daß in den Gesprächen lebhafter Menschen viel öfter, als man glaubt und bemerkt, vollkommener Unsinn gesprochen wird, der ungenossen vorübergeht, weil die Geister zu sehr beschäftigt sind. Paul fing an, dergleichen schweigend und wo möglich unbeachtet in sein Taschenbuch zu schreiben; dann, zu anderer Zeit, las er es der Gesellschaft vor, und es staunten alle, daß sie darüber hinweggehört hatten. So war Frau Grete einmal, zwischen Scherz und Ernst, in die Worte ausgebrochen: »Reize meine schon so lange niedergekämpfte Schonung nicht noch mehr!« Ein andermal hatte Bernhard in einem nachdenklichen Gespräch bemerkt: »Schlafen ist das einzige, was man allein tun kann.« Wie Paul begann auch ich solche »Apophthegmata hervorragender Männer und Frauen« zu sammeln, und auch das ergab manche unerwartete Heiterkeit.
Indessen sollte diese Sommerfrische auch noch ein edleres Ergebnis haben: nach elektrischer Spannung und dramatischer Verwicklung eine beglückende Lösung, zu der die ganze Kolonie Heil und Segen rief. Bernhard Windscheid und Lotte hatten sich schon in München füreinander erwärmt, eine ernste Neigung war im Werden; als nun aber Windscheid kam, sah er das Bruder- und Schwesterspiel, das sich zwischen Lotte und mir in aller Ebenhäuser Zigeunerunschuld entwickelt hatte, und in einer Art von Eifersucht zog er sich zurück. Lotte, die Verfasserin geist-und seelenvoller Königskuchen, hatte uns auch eine ihrer vielgerühmten Fruchtspeisen versprochen; in der Vorfreude[81] darauf, als »Musteresser« der Kolonie, hatte ich bei einem Pfänderspiel, als ich an das am meisten geliebte Mitglied der Gesellschaft ein Ritornell machen sollte, unverzagt gedichtet:
Speise der Früchte.
Ob ich euch alle gleich ganz heillos liebe,
Verargt mir nicht, daß ich zu Lotten flüchte.
Am Tag darauf, an meinem Geburtstag – der durch unzählige Gaben und eine von Paul redigierte Festnummer der »Unterhaltungen am Rande des Blödsinns«, auch durch einundzwanzig Ritornelle (die Zahl meiner Jahre) gefeiert wurde – prangte eine ungeheure Fruchtspeise, Lottens Werk, auf dem Geburtstagstisch. Zu einem Efeukranz aber, den sie auf einen Aschenbecher gemalt, hatte sie gedichtet:
Grünende Triebe!
Die treu ihr Sturm und Wetter überdauert,
Seid ihm ein Sinnbild meiner Schwesterliebe.
So stand es, als Windscheid in Ebenhausen erschien; aus solchen und ähnlichen Anzeichen einer völlig harmlosen Zuneigung baute sich seine Eifersucht, wie sie's immer tut, ein Hindernis seines Glücks. Lotte ihrerseits, mit ihrem tiefen Gefühl für ihn jungfräulich kämpfend, verdoppelte gern ihre Herzlichkeit und ihre Aufmerksamkeit für uns »Huldijungen«; wir andern verkannten keinen Augenblick, aus welcher Quelle das kam, den Liebenden führte es irre. In uns erwuchs eine schnell sich steigernde Ungeduld: wann endet das nach dem Willen der Natur? Der September kam, das schönste Wetter; eine Wanderung in die Berge war[82] längst geplant; auf, auf! hieß es jetzt. »Die Verlobungsreise!« So nannten wir an dern sie unter uns; so hofften und sannen wir, helfend Schicksal zu machen. Zu Fuß und zu Wagen zogen wir über Wolfratshausen nach Königsdorf, am zweiten Tag nach Bichel und zum Kochelsee. Unterwegs faßte sich Paul ein Herz, da die Schwüle nicht schwand, und flößte dem Professor in diplomatischem Gespräch die Aufklärung ein, daß jenes Bruder- und Schwesterspiel nichts zu sagen habe. Dann vorwärts, vom Kochelsee auf der alten Fahrstraße den Kesselberg hinan, zum hochliegenden Walchensee! Wir andern so geschwind wie möglich voraus, um Bernhard und Lotte allein zu lassen; die zarte Frau Klara ward von uns geschoben, wo die Straße steil ist. Endlich war's erreicht. Die beiden, langsamer folgend, blieben zu kurzer Rast vor dem Denkstein stehen, der auf halber Höhe, in der rissigen Felswand, den Erbauer der Straße (1492) und Herzog Albrecht den Weisen rühmt. Hier sprach er und sie gab ihr Ja.
Etwas anders steht es in der gereimten Beschreibung Pauls, in der Hochzeitsnummer (zugleich der letzten) unserer »Unterhaltungen«, mit der wir im November desselben Jahres die Vermählung der Liebenden feierten, der mithelfenden Ebenhäuser Tage froh und stolz gedenkend. Der Dichter, nachdem er die Felsrast und Bernhards Frage geschildert, singt weiter:
Weil ihr Atem fehlt zum Nein,
Sagt sie: Liebster, ich bin dein!
[83]
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Erinnerungen [Aus der Werdezeit]
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