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Rostocker Hochzeitsfeier. Frankfurt; Feuilletonredakteur und Romanschreiber: Geister und Menschen. Freiherr von Rutenberg. Schleswig-Holstein; vaterländisch-dichterisches Doppelleben. Nagel. Die Erscheinung. Der verlorene Schalf

[132] Wie anders Mitteleuropa in meinen Jünglingsjahren aussah als jetzt, das kann ich durch einige meiner Erinnerungen sagen: ich habe noch die Österreicher in Mainz (als Bundestruppen), in Verona und Venedig, die Dänen in Altona, die Franzosen in Rom gesehn. So sollte ich nun auch noch in Frankfurt am Main den Bundestag erleben: im November 1862 zog ich dorthin, um an der nach Frankfurt übersiedelten Süddeutschen Zeitung das Feuilleton zu redigieren und zugleich, nahrungssorgenfrei, meinen ersten Roman zu schreiben. Vorher hatte ich »die Schwester dem Gatten gefreit«: bald nach meiner Rückkehr aus Österreich, noch im September, feierten wir die fröhliche Hochzeit meiner Schwester Luise mit meinem Münchner Kameraden, nun Rostocker Oberlehrer Doktor Friedrich Strempel; der lange Brautstand nahm ein gutes Ende. Ich war der Unternehmer und Leiter des Polterabends, der, mit mehreren langen Einaktern verziert, über vier Stunden dauerte; fünfmal »polterte« ich[132] selbst, in fremden und eigenen Dichtungen. Dieses eine Mal stillte ich meinen Komödiantentrieb: ich war betrunken, ich berlinerte, ich verirrte mich als »Entrepreneur« des Abends auf die Bühne, ich spielte endlich sogar meine Schwester, in einem dazu gedichteten Festspiel »Mit der Zeit«. Nachdem ein possenhaftes Gespräch mit meinem Bruder Christian dieses Spiel eingeleitet hatte, erschien mein Bruder Konrad auf der Bühne, zu unserer scheinbaren Überraschung, als wüßten wir nicht, was dieses rätselhafte Wesen wollte: Konrad hatte sich in ein langes weißes Laken gehüllt und Flügel an den Schultern, die er dann und wann feierlich bewegte. Wie ratlos und verstört entflohen wir; das Gespenst blieb allein und ging majestätisch auf und ab. Dann wandte es sich an das Publikum, an dessen Spitze die Neuvermählten saßen: »Ich bitte, mich nicht zu unterbrechen; ich bin die Zeit und die Zeit läßt sich von niemand unterbrechen.


Ich bin die Zeit, ihr kennt mich alle,

Denn allesamt gehört ihr mir.

Ich frag' nicht, ob ich euch gefalle,

Die strenge Herrin bin ich hier.

Ihr klagt, wenn ich euch schnell enteile,

Ihr klagt, wenn ich zu lang' euch weile,

Und wenn ich alle Wunden heile,

Nährt sich auch jede Wund' an mir.


(Mehr zum Brautpaar gewendet:)


Ach, wollt ihr glücklich sein auf Erden,

So wünscht mir raschen Flügelschlag;[133]

Der Tag muß euch zur Stunde werden,

Das liebe lange Jahr zum Tag.

Nur wen ich hasse, den begleit' ich,

An dessen Fersen hängend schreit' ich,

Und ihm den Tag zum Jahr erweit' ich

Und schleich' ihm bis in Träume nach.


Dir will ich wohl, du junges Paar,

Drum werd' ich dir zu schnell entschwinden!

Klagt nicht, ihr müsset drein euch finden,

Kurz scheint zuletzt, was lang doch war.

Und meine Macht euch zu entfalten

Laßt mich hier drei Minuten schalten,

So zählt ihr selber zu den Alten,

Ein wohlgeprüftes Menschenpaar.«


Die Zeit, rechts im Vordergrund stehend, sprach weiter, ließ die nächsten fünfundzwanzig Jahre in gedrängten Versen vorüberziehen, bei jeder neuen Zahl einmal mit den Flügeln schlagend:


Rauscht vorbei, ihr schönen Zeiten!

Eins – wie Frühlicht glänzt der Tag.

Zwei – wird sich das Haus erweiten;

Drei – der Storch schreit auf dem Dach.

Vier – es kommt der Mann zu Ehren –


Und so weiter von Jahr zu Jahr, freundlich prophczeiend. Endlich der letzte Vers: »Fünfundzwanzig sind herum!« Ein kleiner Vorhang im Hintergrund ging zurück; man sah meinen Bruder Christian und mich als die etwas gealterten Neuvermählten, Friedrich und Luise. Mein Bruder, auf dem Sofa liegend, in[134] einem alten braunen Rock des Schwagers, täuschend wie er frisiert und bebrillt, sah ihm wirklich ähnlich; noch ähnlicher ich der Schwester Luise: zu jener Zeit konnte ich mich ohne große Mühe zu ihrem Ebenbild verstellen. In einem Kleid meiner Mutter, eine Haube auf dem Kopf, den noch jungen Bart verdeckt, saß ich neben Christian-Friedrich im Lehnstuhl, einen Strickstrumpf in der Hand, wie über dem Stricken eingeschlafen; wir schliefen beide. Friedrich sprach aus dem Traum, er gab arithmetischen Unterricht; Luise erwachte und weckte ihn. »Was hast du denn eben geträumt, mein Alter?«

Friedrich. Ja, das ist komisch; denselben Traum, den ich in der Nacht vor unserm Polterabend hatte. Ich war gerade dabei, dem dümmsten Jungen in ganz Rostock Arithmetik beizubringen. – Gott, wie lange ist das her –

Die Zeit. Fünfundzwanzig Jahr!

Luise. Mein Gott, wer ist da? – Wer sind Sie? (Steht auf.)

Die Zeit. Ich bin die Zeit.

Luise. Liebe Zeit, Sie sind uns sehr rasch hingegangen.

Die Zeit. Ja, ich hatte einen guten Schritt, seit ihr Hochzeit machtet. Ihr werdet nun übermorgen schon eure silberne Hochzeit haben.

Friedrich (steht auf). Ja, das weiß ich. Seien Sie mir willkommen, geben Sie mir die Hand. Sie waren eine recht glückliche Zeit...

So noch einige Wechselreden; dann sprach die Zeit: »Aber wißt ihr noch, wie es vor fünfundzwanzig Jahren[135] bei euch aussah? Soll ich es euch zeigen?« Sie deutete auf das Publikum, das Friedrich und Luise noch nicht angeschaut hatten. »Seht dorthin, da habt ihr das ganze Bild noch einmal, treu nach der Natur!«

Luise. Wahrhaftig – mein Gott! All unsere lieben Gäste von damals! Alles wie damals!

Die Zeit. Und da sitzt ihr selber – das Brautpaar auf dem Ehrenplatz, am Ehrentag. – Ihr seid seitdem ein wenig älter geworden.

Friedrich. Älter? Wir haben es nicht gemerkt; nicht wahr, Mutter?

Luise fiel ihm um den Hals. Die Zeit sprach noch einige gute und segnende Worte; ein mitverbündeter Teil des Publikums begann nach Verabredung zu rufen: »Es lebe das Brautpaar!« Nun fielen alle ein, und das Spiel ging zu Ende.

Die segnenden Worte der Zeit haben sich erfüllt; es ward eine der glücklichsten, innigsten Ehen, die man denken kann, dreiundvierzig Jahre lang sich bis zum untrennbarsten Zusammenleben als Philemon und Baucis verklärend, bis der Allestrennende auch hier sein Werk vollführte. Im November 1905 zog er meiner Schwester den Gatten fort. Baucis lebt allein.

Furchtbar schwer zu tragen. Über dreiundvierzig Jahre! – Doch ein langer und unverlierbarer Traum!...

In Frankfurt fand ich meine Süddeutsche Zeitung nicht so, wie sie gewesen: Brater, der Chef, lange leidend (wohl das Opfer unserer rastlosen Münchener Jahre), brachte viele Zeit in dem milderen Wiesbaden zu, und der Hannoveraner Lammers, ein vortrefflicher Journalist und Patriot, mußte ihn[136] ersetzen. Auch ich kam nicht so zu ihr zurück, wie ich sie verlassen; ich blieb »unterm Strich«, im Feuilleton, und jede freie Stunde gehörte meinem Roman. Vor dem schönen Eschenheimer Tor – mein Weg in die Stadt führte mich fast immer am Thurn- und Taxisschen Palais vorbei, in dem der gottverlassene Bundestag tagte – von Gärten umgeben und im frühesten Frühling von Amseln und Drosseln umflötet, entwarf und schrieb ich schaffensselig den ersten Band von »Geister und Menschen«, diesem längsten und menschenreichsten meiner Romane – der für mich, als Jugendwerk, auf dem Friedhof liegt. Ich hatte diesen Dreibänder überfüllt mit Gestalten, Problemen, Ideen und Schicksalen; man könnte wohl drei Romane aus ihm machen. Auch mischte sich Altes und Neues wunderlich in ihm: noch zu sehr dem Vorbild »Wilhelm Meister« nachgefühlt, Entwicklungs- und Bildungsroman, gärte er zugleich von unendlich modernen Bestrebungen, griff nach allen Fragen der Zeit. Vorwärtsstürmer und Rückwärtsschauer, vaterländischer Fanatiker und ästhetischer Epigone – wie ein Vorgebirge, an dem sich Gegenwinde kreuzen und bekämpfen: so kommt mir heute der Verfasser vor. In meinem Kleistbuch, als Geschichtsschreiber, hatte ich im wesentlichen schon meinen Stil gefunden; in dem Roman hört man noch zu viel Goethe, Schiller, Kleist durch die neuen Töne hindurch. Das verlor sich mehr und mehr, während im späteren Verlauf des Jahres (1863), vielfach unterbrochen, der längere zweite Band entstand; dafür dichtete dann am dritten eine verhängnisvolle Nervenüberreizung mit, die ihn[137] mit Schrecken, Grauen, Elend und Vernichtung überlud – so daß ich in meinem »Gespräch, das fast zur Biographie wird« (1875) getrost sagen konnte: »Ein wundervoll mißratenes Buch!«

Noch ehe die Niederschrift des Romans begann, hatte ich Frankfurt nah und weit umkreist, das Weihnachtsfest in Wiesbaden bei Braters verlebt, mit Lammers und allein Homburg, Mainz, Aschaffenburg, Darmstadt, den Taunus und den Rhein gesehen, in München die verwaisten Freunde Paul Heyse und Frau Klara besucht. Das schöne junge Leben der Frau Grete Heyse war in Meran an der Schwindsucht erloschen; ihre vier Kinder hatte sie gleichsam der Frau Klara vererbt, die nun aus der Großmutter zur Mutter ward.... Die Frankfurter Patrizier, die sich so gern zu den vornehmen Bundestagsdiplomaten hielten, lernte ich gar wenig kennen, aber ihren Geist (von damals) an einem seltsamen Fall, der mir unvergeßlich ist. Ein kurländisch deutscher Baron, Freiherr von Rutenberg, lebte damals mit seiner Familie in der Bundestagsstadt; ich ward mit ihm bekannt, und er schloß sich mir in herzlicher Zuneigung an. Als ein edler und warmer Idealist hatte er sich in seiner Heimat der alteingeborenen Volksstämme angenommen, die unter nicht immer sanftem Druck der deutschen Herren lebten, und in einer zweibändigen Geschichte der russischen Ostseeprovinzen, dann in einer kleineren Schrift »Mecklenburg in Kurland« auf angemessene Befreiung der Unterdrückten hinzuwirken gesucht. Wie weit ihn da etwa sein Gerechtigkeitstrieb übers Ziel geführt hat, kann ich nicht beurteilen; der Mehrzahl[138] seiner Standesgenossen hatte er sich damit schwerlich angenehm gemacht. Ich glaube, deswegen war er fortgezogen und in Frankfurt seßhaft geworden, wo die Herren Patrizier den in jedem Sinn vornehmen Mann mit Freudigkeit umwarben. Hätte nur nicht seine älteste Tochter die Torheit begangen, sich in einen jungen Privatdozenten an der Heidelberger Universität zu verlieben, der – man schaudere! – der Sohn eines Frankfurter reichen Großschlachters war. Ob groß oder nicht – ein Schlachter! Das Freifräulein heiratete diesen Sohn, den zukünftigen Professor; von Stund' an war's aus. Nicht nur für sie, davon red' ich nicht; ihr Vater, der Freiherr aus altem Geschlecht, war nun nicht mehr würdig, mit Frankfurter Patriziern umzugehn. Er war ein verfemter Mann. Er ward so nachdrücklich von der patrizischen Verachtung verfolgt, daß seine etwas empfindlich weiche Seele es nicht ertrug, in dieser ungastlichen Luft zu leben. Er siedelte nach Wiesbaden über; dort mußte ich ihn dann besuchen, so oft ich konnte.

So hoch hatte der Patrizierstolz sich an dem Bundestagsadel emporgerankt; – dieser morsche Stamm trug den Efeu freilich nicht lange mehr. Nur drei Jahre später starb der Bundestag an den preußischen Siegen und das freie Frankfurt ward eine preußische Stadt.

Inzwischen sollten wir noch einen Versuch Österreichs erleben, die deutsche Einheitsbewegung in die Hand zu nehmen und zu einem Sieg des schwarz-gelben Banners über das schwarz-weiße zu machen. Kaiser Franz Josef, noch in der ersten Mannesblüte, kam nach Frankfurt gezogen, um mit den um ihn versammelten[139] deutschen Fürsten eine Reform des Deutschen Bundes zu beraten. Ich machte mich davon, rheinab, um dieses Schauspiel nicht mitanzusehn; für mich stand das Eine fester als die Alpen: nur ein wahrhaft deutsches Reich unter Preußens Führung! – Der österreichische Versuch scheiterte denn auch, schon daran, daß Preußen beiseitestand. König Wilhelm kam nicht; ihn hielt sein Minister fest, der von uns allen noch unerkannte Zukunftsmeister, der große Begründer des Deutschen Reichs, das noch keimend, embryonisch in seinem vorausdenkenden Gehirn lebte.

Davon wußten wir nach Einheit Hungernden nichts; aber die deutsche Bewegung wuchs. In mir wuchs sie fort und fort. Sie sprang in meinen Roman hinein und füllte den zweiten, den dritten Band mit jugendlicher Beredsamkeit und Leidenschaft (das Beste in dem ganzen Ungeheuer); sie füllte mich selber mit einem langsam wachsenden dunklen Fanatismus. Nicht oft habe ich so gelitten wie in diesen Zeiten, wo mich die vaterländische Schmach zu verzehren drohte und manchmal nur Tränen der Wut und Scham mich erleichtern konnten. Dann warf ich auch die Feder weg; etwas tun! Zur Waffe greifen! Die Muskete tragen! Unser deutsches Schleswig-Holstein war noch immer in der Hand der Dänen, deren kleine, aber rauhe Faust das nach Befreiung lechzende Deutschtum am Boden hielt; mit Gefühlen, die ich nicht schildern kann, hatte ich nach meiner Flucht von Frankfurt, über Köln nach Rostock, die dänischen Soldaten einen Fußbreit von Hamburg im »dänischen« Altona gesehn. Wenn vom Deutschen Bund, von den deutschen Großmächten[140] nichts zu erwarten war, sollte sich denn nicht das Volk selber helfen können? Hatte nicht schon einmal das aufgestandene Schleswig-Holstein jahrelang heldenmütig gegen Dänemark gekämpft? Wenn die neue nationale Partei, die sich dort im Anschluß an den Deutschen Nationalverein gebildet hatte, etwa für neuen Kampf zu gewinnen war? Wenn man den Wagemut dieses tapferen Volks entflammen, heimlich Waffen sammeln, Freischaren anwerben, den Befreiungskrieg vorbereiten konnte? – Ich fand einen Genossen, einen jungen deutschrussischen Edelmann, Freiherrn von Ungern-Sternberg, der ebenso fühlte wie ich. Wir beschlossen, nach Schleswig-Holstein zu gehn und zunächst unter den streitbaren Bauern für den Plan zu wirken. Wir setzten uns mit eingeborenen Patrioten in Verbindung; einer von ihnen, ein Graf Reventlou, gab uns ausführliche Anweisung, wie wir unsre Sache zu betreiben hätten; wobei allerdings ein Kernpunkt war: keinen Trunk verschmähen! Unter diesen gastfreien Kraftmenschen, die fast jedes Getränk durch Schnaps verstärkten, mannhaft bestehn!

Wie weit wir wohl gekommen wären? Ich fürchte, nicht weit: die Dänen waren wachsam geworden, und an schneidig zugreifendem Willen fehlte es ihnen nicht. Woran unser Unternehmen schon vor der Ausführung scheiterte, kann ich nicht mehr sagen; mein Gedächtnis ist hier durch Lücken und Verschiebungen gestört. Zum Heil für mich und uns alle griff endlich das große Schicksal ein: am 15. November 1863 starb der dänische König, Friedrich VII., und das dänische Anrecht auf[141] Schleswig-Holstein mit ihm. Der Stein kam ins Rollen; wohin er gerollt ist, brauch' ich nicht zu sagen.

Eine allgemeine Bewegung begann; selbst der deutsche Bundestag raffte sich zur »Exekution« gegen das widerspenstige Dänemark auf, wenn auch nur für Holstein; wir andern wollten aber auch Schleswig retten. Am 21. Dezember traten in Frankfurt gegen fünfhundert Mitglieder deutscher Landesvertretungen zusammen und erklärten sich einmütig für die Loslösung der beiden Herzogtümer von Dänemark, die Nichtigkeit des Londoner Vertrags und das Erbfolgerecht des Herzogs Friedrich von Augustenburg. Sie setzten einen Ausschuß von sechsunddreißig Mitgliedern ein, der in Frankfurt tagen und den Mittelpunkt der gesetzlichen Tätigkeit des deutschen Volks in dieser Nationalsache bilden sollte. Karl Brater war einer dieser sechsunddreißig, und der Führende; die Aufgabe war, für das ganze Recht der Herzogtümer und gegen das eigenmächtige Eingreifen von Österreich und Preußen, zu dem wir kein Vertrauen hatten (wir wohnten nicht in Bismarcks Kopf), mit allen Kräften geistiger Agitation zu wirken. Sollte ich da abseits stehen? da das Schicksal rief? Ich hatte bisher in Rostock, dann in München, als Windscheids und später Heyses Gast, an »Geister und Menschen« fortgeschrieben, den zweiten Band fast beendet; mein Dichterherz brannte – aber es brannte doch mehr für das Vaterland. Ich schrieb an Brater: Ich lebe in meinem Roman. Aber wenn der Tag kommt, wo du mich brauchst, so telegraphiere nur: Komm!

Anfang Januar erschien sein Telegramm. Es traf[142] mich bei Heyse-Kuglers, ganz Dichter und Freund, recht im Paradies; aber ich erfüllte natürlich mein Wort. Ich landete in Frankfurt, in der Großen Gallusgasse: dort hatte ein nationalgesinnter Patrizier, einer von zwei Brüdern Varrentrapp, uns ein leeres, zum Abbruch bestimmtes Haus zur Verfügung gestellt. Brater wohnte mit seiner Frau im Vor der-, ich im Hinterhaus; durch eine Reihe von Zimmern kam ich in das meine, leidlich wohnliche, dessen tiefe Stille und Einsamkeit nur am Abend die schwirrenden Fledermäuse belebten. Hier sollte nun ein junger Fanatiker hausen, dessen Nerven schon überheizte Dichternerven waren; der in seiner Unerfahrenheit entschlossen war, auf seinen beiden wilden Rossen zugleich, stehend wie im Zirkus, zu reiten, sich zwischen Politik und Roman zu teilen. Ich stürzte mich in meine Aufgaben, verwegener als je: ich schrieb eine volkstümliche Flugschrift »Für Schleswig-Holstein! An den deutschen Bürger und Bauer«, die der Sechsunddreißigerausschuß in weit über hunderttausend Exemplaren verbreitete; ich verfaßte eine oft erscheinende »Autographische Korrespondenz« im Namen des Ausschusses, die für alle patriotischen Zeitungen vervielfältigt ward; und ich füllte Seite auf Seite meines dritten Bandes, um diesen so oft unterbrochenen Roman um jeden Preis zu vollenden.

Nun, ich zahlte einen guten Preis! – Wie durch eine Veranstaltung des Schicksals fand ich hier in Frankfurt, wo ich sonst notgedrungen einsam lebte, einen merkwürdigen Menschen, der gleichsam die Ergänzung meiner phantastischen Existenz und meiner[143] selbstzerstörenden Rastlosigkeit war: Ludwig Nagel, damals Redakteur an der Süddeutschen Zeitung. Wir befreundeten uns sofort, er war einer nach meinem Sinn: durchaus großdenkend und starkbewegt, deutsch bis ins Gebein, mystisch religiös, aber von jeder Schulmeinung frei, in dem Jenseits, an das er glaubte, eine geistige Welt voll unendlicher Entwicklungen erwartend. Dabei ein lebensfreudiger und grundguter Gesell; seine tiefschauenden blauen Augen konnten aber auch Seher-, ja Geisteraugen werden. Er erzählte mir von Erscheinungen, die er vor Jahren (in Leipzig glaub' ich) gesehn, von Geisterstimmen, die er gehört hatte; sie störten ihn nicht in seinem inneren Frieden, er glaubte aber fest an ihre Wirklichkeit. Ich glaubte nicht, ich hielt sie für Halluzinationen, für Selbsttäuschungen. Meinen verwilderten Nerven tat es aber doch nicht gut, daß er mir das alles spät abends im Mondschein erzählte und seine großen, redlichen Geisteraugen mir in das heiße Dichterherz leuchteten.

In der Tür, durch die ich in mein Zimmer trat, sah ich noch etwas Wunderliches: sie war stark zerschossen, eine Menge von Kugelspuren steckte in ihrer hölzernen Haut. Bei einem Romanschreiber war es wohl natürlich, daß die Phantasie an dieser Tür weiterdichtete: hier, in meiner Stube, hatte sich vermutlich ein Selbstmordskandidat im Pistolenschießen geübt; hier hatte er sich dann durch einen Kernschuß aus der Welt geholfen. Wir schrieben noch Januar, da er wachte ich eines Nachts im Dunkeln; ich erwachte durch ein Flüstern, rechts an meinem Kopf; ein rasches, unverständliches Flüstern. Schlaftrunken erschrocken[144] will ich mich aufrichten; nun berührt eine tastende Hand meinen rechten Arm. Ich reiße die Augen auf; vor mir, ganz nahe, steht oder schwebt ein ernster, umlockter Kopf, mit rotem Hemd oder roter Jacke. Als ich ihn anrede oder den Arm gegen ihn ausstrecke, weicht die Erscheinung langsam zurück, bis sie gegen den Ofen zu, im Winkel verschwindet; so lange hatte sie mich angeschaut.

Diese dreifache Halluzination – dafür gilt sie mir jetzt – fiel damals über ein so erschüttertes Nervenleben und einen so phantastisch gestimmten Geist her, daß es mir wie meinem Freund Nagel erging: ich hielt sie, wenigstens monatelang, für einen Gruß aus der Geisterwelt. Bald kam auch hinzu, daß eine Todesnachricht eintraf, die mich sehr ergriff: eine Jugendfreundin war in der Fremde gestorben, die in tragischer Zuneigung an mir gehangen hatte. Ich erlag der Versuchung, die Erscheinung mit diesem Tod zu verbinden; eine unbestimmte Ähnlichkeit des Kopfes, der tiefe, schwere Ernst des Ausdrucks reizten auch dazu. Bedenkt man nun, wie ich in diesem toten Haus Tag für Tag verlebte: immer aus einer Arbeit, einer seelischen und geistigen Erregung in die andre springend, so begreift man wohl, daß ich den nächtlichen Schlaf verlor. Es war aus mit ihm. Er foppte mich nur minutenlang, um mich stundenlang, halbe Nächte lang, endlich ganze Nächte lang zu verlassen. Ein unsinniges Grauen kam über mich. Mein langer Arbeitstisch stand jede Nacht neben meinem Bett, auf ihm stand die Lampe und brannte bis zum hellen Tag. Ich nahm ein Buch nach dem andern und las, oder lag ewig denkend da.[145]

So kam der April; der Roman war fertig, die letzte Durcharbeitung der drei Bände auch; meine Pflicht als Schriftsteller des Sechsunddreißigerausschusses hatte ich schonungslos erfüllt, durch die Widmung einer goldenen Uhr hatten sie mir gedankt. Ich konnte nicht mehr. Ich sagte Ade. Wieder schlafen lernen! Ruhe im Kopf, Bewegung in den Beinen – mich hineinwandern in den Schlaf!

So fuhr ich denn nach Aschaffenburg und marschierte beim tollsten Aprilwetter – Schnee, Regen, Hagel – mainauf am gegenüberliegenden Spessart hin. In jedes Wirtshaus an der öden Straße kehrte ich ein, schlummerbringenden roten Wein zu trinken. Gegen Abend erhellte sich's, das freundliche Miltenberg (wo der Georg im »Götz von Berlichingen« erstochen ward) lag in holder Verklärung da. »Ein Zimmer für die Nacht, Herr Wirt!« sagte ich dort im Wirtshaus, von einer göttlichen Müdigkeit wie vom heiligen Geist erfüllt. Der Miltenberger führte mich in sein bestes Zimmer; »hier werden Sie aber noch lange nicht schlafen können, nebenan im Saal wird gleich unser Orchester spielen, sie üben für morgen, zum Ball«. Ich lächelte wie ein Gott. Auf meinen Lidern saßen hunderte kleiner Schlummergötter; die süßeste, lieblichste Beschwerung, aber zusammen eine unwiderstehliche Macht. Nach kurzem Mahl lag ich schon im Bett; nebenan begannen die Trompeten zu schmettern; sie bliesen mich sofort in den tiefsten Schlaf.

So wanderte ich dann noch ein paar Tage weiter, nach Wertheim, nach Tauberbischofsheim; die Schlafkur gedieh. Als ich nach München kam, zu Paul[146] Heyse und Frau Klara, war ich schon wieder ein Mensch unter Menschen; – und bald war auch wieder der alte Jugendübermut da. Wär' ich in diesem besten Wirtshaus: Villa Heyse-Kugler, noch ein paar Monate müßiggängerisch, traumstill geblieben! Ich hätte die tiefe Lebenswunde, die ich ahnungslos in mir trug, gründlich ausgeheilt. Mich äffte aber die junge Kraft, die in allen Gliedern spielte, und der Weltwandertrieb. Jenseits der Berge lag Italien, und in Rom lebte und malte mein Hans. Nach Rom hatte ich schon im Winter gewollt. Also vorwärts, in der ewigen Stadt Ewiges zu lernen![147]

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Aus der Werdezeit. Erinnerungen. Neue Folge, Stuttgart, Berlin 1907, S. 132-148.
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