Erster Auftritt

[290] Karl liegt schlafend auf dem Ruhebett. Judith sitzt neben ihm, ihn in Gedanken betrachtend; sie trägt einen dunklen, von Haupt zu Füßen niederwallenden Schleier.


JUDITH.

Schlaf, trauter Sohn; nicht scheuchet mehr Gefahr

Den süßen Schlummer fern von deinem Lager.

Auf dieser Stirn, umduftet und umweht

Vom Fittiche der Jugend, lastet nicht mehr

Der dunkle Schatten der Rechtlosigkeit;

Der königliche Tag ist angebrochen


Sie erhebt sich und beugt sich über ihn.


In dieses Antlitz schrieb mit tiefen Zügen

Natur das Zeugnis, daß du Ludwigs Sohn –

Und das Gesetz des angestammten Blutes

Hält klammernd dich an ihn. – Sei Leibeserbe,

Doch Erbe seiner schwachen Seele nicht

O, könnt' ich deinem Geist den Vater geben,

Ich wüßte, Karl, wen ich für dich erwählte –

Du, König nicht, doch aus dem Löwenmark

Entsprossen, das die Könige gebiert –

Bernhard – – sprich leise diesen Namen, Herz,

Daß er nicht töne in den Traum des Sohnes

Ihr wilden Ströme, die in diesem Busen

Aufbrandend steigen, wo ist euer Ziel?


Quelle:
Ernst von Wildenbruch: Gesammelte Werke. Band 7, Berlin 1911–1918, S. 290.
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Die Karolinger. Trauerspiel in vier Akten