Zehnter Auftritt

[44] Hermann eine Zigarre im Munde, ist während der letzten Worte in der Haustür erschienen und stehen geblieben.


FRAU SCHMALENBACH zu Juliane, die Hermann nicht bemerkt hat, auf diesen deutend. Sie, Fräulein, da kommt der junge Herr. Juliane, beinah erschreckend, blickt um.

HERMANN ohne seine Stellung zu verändern. Unterbrechen Sie doch nicht, Frau Schmalenbach; jetzt kommen die jungen Männer dran; da hätte man gwiß was lernen können.[44]

JULIANE nimmt voller Verwirrung ihre Strickerei wieder auf. Ach – Sie –

HERMANN kommt die Stufen herab. Was ich Ihnen sage, Frau Schmalenbach, es wird in der Welt nicht eher besser, bis nicht die jungen Männer gleich dreißig Jahre alt geboren werden.

FRAU SCHMALENBACH. Reden Sie man, junger Herr, was das Fräulein sagt, is schon an dem.

HERMANN. Na natürlich. Aber wissen Sie, jetzt werden Menagerien gebaut, da werden die jungen Männer 'reingesteckt, hinters Gitter, wie die wilden Tiere im Zoologischen Garten; alle Sonntage werden die jungen Mädchen hingeführt und dürfen sie sich ansehn.

FRAU SCHMALENBACH schallend lachend. Was Sie aber für Ideen aushecken, junger Herr!

HERMANN. An jeden Käfig wird 'ne Tafel gehängt: »Futtern ist erlaubt, aber nicht anfassen –«

FRAU SCHMALENBACH. Aber nich anfassen – hahaha –

HERMANN. »Und nischt mitnehmen!«

FRAU SCHMALENBACH. Und nich mitnehmen – hahaha!

JULIANE. Aber Hermann –

HERMANN. Was befehlen Sie, Fräulein Cousine?[45]

JULIANE. Sie wissen, daß ich Ihnen nichts zu befehlen habe, ich – wundre mich nur, daß man Sie jetzt hier findet.

HERMANN. Sie meinen, statt im Kontor? Können mir glauben, hier ist's hübscher!

JULIANE. Aber – es ist doch Arbeitszeit?

HERMANN. Besorgt ja alles mein Bruder Singend. »so wunderschön, so wunderschön!«

JULIANE erhebt sich rasch. Das begreife ich aber wirklich nicht, wie man sich wohlfühlen kann, wenn man unter lauter arbeitenden Menschen der einzige ist, der nichts tut.

HERMANN. Frau Schmalenbach, hier werden Leviten gelesen; nu fahre ich Sie hinters Gebüsch. Er faßt Rollwagen und schiebt Frau Schmalenbach hinter ein Gebüsch zur Seite, kommt zurück.

JULIANE. Sagen Sie mir nur, was soll aus alledem werden?

HERMANN. Was aus alledem werden soll, ist mir, unter uns gesagt, höchst Wurscht; fragen Sie lieber meinen cher frère, was aus mir werden soll.

JULIANE. Das kann ich Ihnen statt seiner sagen.

HERMANN. Nämlich?

JULIANE. Ein ordentlicher Mensch.

HERMANN. Ein Arbeitervater, nicht wahr? Wie »unser Herr August«?[46]

JULIANE. Das verlangt niemand von Ihnen.

HERMANN. Wäre vielleicht noch gar nich das Dümmste. Schlagen Sie ihm vor, wir wollen die Arbeit teilen; er sorgt für die Arbeiter, ich übernehme die Arbeiterinnen, heißt das, die hübschen und jungen.

JULIANE. Solche Späße –

HERMANN. Ach was! Man soll den Menschen auf seine Fasson ordentlich werden lassen. Wer gibt ihm das Recht, mich in dem räucherten Nest hier festzuhalten?

JULIANE. Er ist Ihr Vormund.

HERMANN wirft sich mit einem schweren Seufzer auf den Stuhl. Ja – das weiß ich.

JULIANE. Und er hat Ihrem Vater versprochen, Sie dahin zu bringen, daß Sie durch eigenen Erwerb auf eigenen Füßen stehen können.

HERMANN. Da fällt mir ein, was ich Sie schon immer mal fragen wollte: haben Sie meinen Vater gekannt?

JULIANE. Allerdings.

HERMANN. Ich kann mich nicht mehr recht auf ihn besinnen.

JULIANE. Sie waren doch schon zehn Jahre alt, als er starb?

HERMANN. Na ja – wie er aussah, wohl; aber ich meine – wie er war.[47]

JULIANE. Seine Natur?

HERMANN. Nennen wir's also so; war er so in der Art von August?

JULIANE. Ja, soweit ich mich erinnere, bis in die kleinste Eigenschaft.

HERMANN zeichnet mit dem Fuße in den Sand. Hm – das habe ich mir gedacht.

JULIANE. Warum?

HERMANN springt auf, schleudert die Zigarre fort. Wissen Sie, dann ist's mir eigentlich lieb, daß ich ihn nicht genauer mehr gekannt habe!

JULIANE. Weshalb? Um Gottes willen.

HERMANN. Er nahm den Abschied, nicht wahr, weil er sich mit seinen Vorgesetzten nicht vertragen konnte?

JULIANE. So hörte ich.

HERMANN. Na, sehn Sie, ich muß Ihnen gestehn: wenn ich sein Vorgesetzter gewesen wäre – ich – hätte mich wahrscheinlich auch nicht mit ihm vertragen.

JULIANE. Wissen Sie denn auch, was Sie sagen?

HERMANN. Ja.

JULIANE. Aber – das ist ja abscheulich! – Solcher Mangel an Pietät![48]

HERMANN. Ach hol' der Deibel die Pietät, wenn sie einem das Leben ruiniert! Ich passe nicht für die Fabrik, und wenn mein Bruder das nicht einsieht, kann er mir leid tun! Und wenn mein das für mich bestimmt hat, dann hat er mir das Leben vorweggenommen, und – dazu hatte er kein Recht, mein Leben gehört mir!

JULIANE sitzt, wie betäubt auf dem Stuhle. Wozu meinen Sie denn aber, daß Sie sonst passen würden?

HERMANN. Zunächst nur von hier 'raus – alles übrige wird sich finden.

JULIANE. Vielleicht – als Beamter?

HERMANN. Warum nicht?

JULIANE. Aber – als Beamter müßten Sie doch auch arbeiten? Erst recht arbeiten?

HERMANN bleibt vor ihr stehn, verbeugt sich höhnisch. Danke für das Kompliment.

JULIANE. Wieso?

HERMANN. Weil ich nicht in der Art arbeiten will, die mein Herr Bruder mir diktiert, darum bin ich in Faulpelz überhaupt? Nicht wahr? Das macht mich eben so wütend: gegen den letzten Schmierfinken in seiner Fabrik fließt er über von Wohlwollen und Toleranz, und gegen mich ist intolerant wie – wie –

JULIANE. Hermann – Hermann –

HERMANN. Zum Donnerwetter ja! Es ist auch wahr! Haben denn heutzutage bloß noch die Arbeiter ein Recht, daß man nach[49] ihren Bedürfnissen fragt? Ich bin auch von Fleisch und Blut und habe zu verlangen, was jeder Mensch zu verlangen hat!

JULIANE. Bitte bleiben Sie doch ruhig. Es macht mich ja so glücklich, daß Sie gegen Arbeit an sich nichts haben.

HERMANN. Lassen Sie mich nur 'raus, sag' ich, dann sollen Sie sehn!

JULIANE. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen.

HERMANN. Nämlich?

JULIANE. Sie sind noch so jung. Sie haben immer noch Zeit, zu werden, was Sie wollen; heutzutage, glaub' ich, schadet es keinem Beamten, wenn er das Leben kennen gelernt hat, bevor er in seine Laufbahn kommt; es ist viel gesünder, als wenn er am grünen Tisch aufwächst.

HERMANN. Am »grünen Tisch«? Sie sprechen ja wie ein Geheimrat?

JULIANE. Hier lernen Sie Arbeiterverhältnisse kennen; wenn Sie mündig sind, können Sie tun, was Sie wollen; bis dahin dauert es ja nicht mehr lange.

HERMANN. Noch zwei Jahre.

JULIANE. Das ist doch aber nicht die Ewigkeit? Halten Sie so lange aus.

HERMANN. Ein Kriegsjahr gleich zwei Jahr, ein Jahr Langeweile gleich zwei Jahr Kriegsjahr.[50]

JULIANE. Sie sollen sich aber nicht langweilen, Sie sollen die Augen aufmachen und lernen.

HERMANN. Das war also der große Vorschlag!

JULIANE seufzend. Er scheint auf Sie keinen großen Eindruck gemacht zu haben.

HERMANN. Sagen Sie das nicht. Die Augen aufmachen – ganz mein Fall!


Quelle:
Ernst von Wildenbruch: Gesammelte Werke. Band 10, Berlin 1911–1918, S. 44-51.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Selberlebensbeschreibung

Selberlebensbeschreibung

Schon der Titel, der auch damals kein geläufiges Synonym für »Autobiografie« war, zeigt den skurril humorvollen Stil des Autors Jean Paul, der in den letzten Jahren vor seiner Erblindung seine Jugenderinnerungen aufgeschrieben und in drei »Vorlesungen« angeordnet hat. »Ich bin ein Ich« stellt er dabei selbstbewußt fest.

56 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon