Scheiden und Meiden

[119] Es war Luisens Geburtstag. Man hatte eben nicht große Notiz davon genommen, doch hatte die Mutter sie glücklich gemacht durch das Geschenk einer eisernen Herdschaufel und[119] eines Bügeleisens, die sie zufällig in einer Auktion erstanden; das war ihr lieber als Rosenstöcke, waren es doch Vorboten der nahen eigenen Heimat! Sie dankte Gott, daß sie indes nicht entbehrlich gewesen auf der Welt.

Gabriele und Adelgunde stritten sich um ihre treue umsichtige Hilfe bei neuen Aussichten auf Mutterfreude. Kornelia aber vertraute ihr, daß sie vielleicht bald Braut sein würde: der junge Regimentsquartiermeister gehe nicht umsonst so oft am Fenster vorbei: »Da gibt's genug für dich zu tun, Luischen, darfst nicht bälder Frau Pfarrerin werden!« Auch die auswärtigen Brüder richteten alle Wünsche, die sie wegen moderner Hemden, neuen Halsbinden usw. hatten, nur an Luise. Ein gichtkranker Onkel der Mutter, der, selbst von seiner Haushälterin geplagt, nun seinerseits alle Welt plagte, hatte Luisens unübertreffliches Talent der Verträglichkeit entdeckt und berief sie gar manchmal zu seinem Beistand. Nein, sie war nicht überflüssig, aber sie blickte doch mit geduldiger Sehnsucht, mit inniger Freude nach dem nahen Friedensport, der sich ihr in Kaltennest auftat.

Es war ihr Geburtstag. Mutter und Schwestern waren auf die Messe gegangen, sie war allein. Sie hatte sich Lehners Briefe geholt, neun Geburtstagsbriefe waren darunter, sie las sie durch vom ersten bis zum letzten. Ihre Augen hatten etwas gelitten von den langen Nachtarbeiten; zu sehr feinen Nähtereien oder Buchstaben bediente sie sich verstohlenerweise einer Brille, aber Lehner hatte dies nie gesehen. Der erste[120] Brief war vier Blätter lang, die spätern wurden allmählich kürzer, der letzte vom vorigen Jahr enthielt nur eine Seite, »aber umso herzlicher,« meinte Luise. Er lautete:


Liebe Luise!

Ich wünsche Dir von Herzen Glück zu Deinem Geburtstag. Du hast ihn nun schon manches Mal allein gefeiert, ich hoffe, den nächsten begehen wir zusammen. Mit der Meldung um Gabelheim oder Birkenbach kann es kaum fehlen. Ich hätte Dir so gern auch eine kleine Freude gemacht, aber man kann hier gar nichts haben, und ich weiß wirklich nicht, was Du brauchen kannst. Ich bin so sehr gedrängt von Amtsgeschäften und muß schließen. Wenn es möglich ist, besuche ich Dich in der Heuvakanz; da dies nicht mehr lange ansteht, so erspare ich alles aufs Mündliche. In treuer Liebe

Dein Lehner.


So gar herzlich kam er ihr beim Durchlesen nicht mehr vor; »aber er ist doch gut gemeint,« tröstete sie sich, »Worte tun's nicht.«

Heute war noch kein Brief gekommen, und sie lauschte mit klopfendem Herzen, ob die Hausklingel nicht töne. Sie erhob sinnend den Blick; sie sah auf keinen grünen Weg mehr, der ihr den Liebsten oder seine Grüße brachte; aber über die zahllosen Hausdächer und Kamine sah sie im Geiste hinaus auf ein kleines Gärtchen – ein solches mußte doch selbst in Kaltennest sein –, auf ein Pfarrhaus, wie klein und bescheiden es immer sein möchte; und sie fühlte sich nicht weniger glücklich, wenn auch ruhiger, als an dem ersten Geburtstag, der ihr die warmen mündlichen Wünsche des Geliebten gebracht.

Die Klingel tönte, sie sprang hinaus, dem Briefträger zu öffnen, und – fuhr mit einem Freudenschrei zurück; er war es ja selbst, der Liebste, groß und lang, ganz elegant in schwarzem Meldungsfrack, der unverändert jeder Tyrannei der Mode trotzte; sie führte ihn ins Zimmer, sie bewirtete ihn mit allem, was sie hatte, und fand im Vorbeigehen Gelegenheit, die[121] fatale Brille nebst den Briefen im Nähkörbchen zu verstecken. In ihrer Geschäftigkeit merkte sie nicht, wie auffallend still und kühl Lehner war.

»Und wie steht's mit Kaltennest?« fragte sie endlich schüchtern, als sie an seiner Seite saß.

»Nichts ist's,« brach August ärgerlich aus, »der Gugenberger hat's! Der uralte Kandidat, der schon wegen dummer Streiche suspendiert und abgesetzt und was alles war. ›Er habe sich gefaßt,‹ meinte der Herr Präsident, ›da dürfe man ihm den Weg zur Rückkehr nicht verschließen, und er habe eine arme Mutter.‹ Überhaupt waren trotz der Empfehlung die Herren gar nicht gnädig; sie zeigten mir auf dem Magisterzettel, wie viele noch vor mir stehen, machten mir bemerklich, wie unangenehm man sich durch solche unendliche Zudringlichkeit mache und wie ein unverständig eingegangener Brautstand noch kein Recht auf vorzeitige Bedienstung begründe.« Lehner ging heftig im Zimmer auf und ab, Luise zerdrückte eine Träne; sie wagte nicht zu sprechen, aus Furcht, sie werde dann in Weinen ausbrechen.

Die Mutter kam mit den Schwestern; sie begrüßte den Herrn Tochtermann und hörte mit Bedauern den Bericht seines Mißlingens, den er ihr in aller Kürze gab. Lehner ward auffallend still und zerstreut, Luisens Geburtstag hatte er noch gar nicht erwähnt; er brach nachmittags bald auf, er müsse noch den Abend einige Stunden gehen, um am nächsten Morgen nach Hause zu kommen. Luise schickte sich an, ihn zu begleiten, wie sie immer getan. Sie gingen schweigsam durch den schönen Schloßgarten. Luise, die sich von seinem Schweigen gedrückt fühlte, wollte ihm scherzend erzählen, wie sie einmal beim Eingang in den Garten geweint, weil sie auf dem Anschlag am Tor fälschlich gelesen: »Vikare und Hunde1 dürfen nicht in die Anlagen,« das sei ihr doch gar zu hart vorgekommen; – aber sie wagte es nicht, als sie in sein finsteres Gesicht gesehen.[122]

Sie setzten sich auf eine abgelegene Bank; alles stand wunderschön in Grün und Blüte, geputzte Kinder suchten Veilchen auf dem Rasen, Vögel zwitscherten und sangen, aber Luise konnte sich nicht freuen wie sonst; es war ihr, als hinge eine schwere Wolke über ihr.

»Liebe Luise,« begann Lehner, »ich habe noch mit dir zu reden, und ich weiß gewiß, daß wir uns verstehen werden.« Er fühlte nicht, wie sie zitterte bei diesem Eingang. »Unsre Hoffnung ist aufs neue fehlgeschlagen und wieder in ungewisse Ferne gerückt: du trittst heute dein einunddreißigstes Jahr an ...« – »Das dreißigste,« warf sie leise ein. – »Nun ja, das dreißigste legst du zurück und trittst das einunddreißigste an,« sagte er etwas ärgerlich – es war diese Jahresrechnung eine schwache Seite von ihm – »das tut nichts zur Sache. Es tut mir leid, daß ich dich um so manches schöne Jugendjahr durch vergebliches Warten gebracht. Mit deinen häuslichen Vorzügen könntest du gewiß jetzt noch eine passende Partie machen, wenn du nicht an mich gebunden wärest. Auch ich könnte ruhiger meinem Beruf vorstehen und eine endliche Entscheidung abwarten, wenn ich nicht immer durch den Gedanken gedrückt wäre, daß du an mich gebunden und zu diesem endlosen Warten, diesen zahllosen Enttäuschungen verurteilt bist. Da halte ich es als redlicher Mann für Pflicht, dir dein Wort zurückzugeben.[123] Ich überlasse es aber gänzlich deiner Ansicht.« Er erschrak vor dem Blick voll unsäglichen Wehs, vor dem todbleichen Angesicht, das Luise langsam zu ihm erhob. »Wenn es dir wehe tut, Luise, wenn du glaubst, ich habe selbstsüchtige Beweggründe,« sprach er hastig, »so lassen wir's immerhin beim alten; ich meine es nicht böse, ich dachte nur, es sei besser für dich und für mich ...« Da erhob sich Luisens weibliches Gefühl, sie wollte nicht seine Treue und Liebe als eine Gabe des Mitleides annehmen. »Du hast wohl recht,« sagte sie sanft und ruhig, »wenn du glaubst, es sei so besser, so tue es in Gottes Namen; – ich wollte es dir selbst vorschlagen,« setzte sie leise und zögernd hinzu; es war vielleicht ihre erste Unwahrheit.

»Siehst du?« rief er wieder lebhafter, »so haben wir einen Gedanken gehabt; es ist freilich sehr schmerzlich, aber wenn wir ruhiger geworden sind, so werden wir beide einsehen, daß es das beste war. Wir waren eben gar jung und unbesonnen, als wir den Schritt eingingen.« – »Du wirst gehen müssen, es wird spät,« sagte Luise nach einer langen, stummen Pause, »leb wohl, Gott behüte dich und segne dich!« – »Ich habe wirklich alle Eile,« sagte er hastig. – »Lebe wohl, August,« sagte sie wieder, »Gott sei mit dir!«

Er ging, kehrte sich aber noch einmal um: »Nicht wahr, du glaubst mir gewiß, daß ich es aus Rücksicht für dein Bestes getan?« Luise nickte mit sanftem Lächeln. »Und«, sagte er nochmals zurückkehrend, »wenn ich dir oder den Brüdern einen Freundschaftsdienst tun kann, nicht wahr, dann zählst du auf mich?« – »Gewiß,« sagte sie wieder und gab ihm die Hand.

Er ging und sagte im Gehen oft und wiederholt vor sich hin: »Es war gewiß das beste, es ist nur, bis es überwunden ist; so ein langes Herumziehen hätte uns beide noch unter den Boden gebracht.«

Er ging, und mit ihm ging Luisens Freude und Lebensglück, die Liebe und die Hoffnung langer Jahre. So blieb sie sitzen, wo er sie verlassen, lange, lange unbeweglich; sie weinte nicht, sie schluchzte nicht, ihr mattes Auge sah auf den Weg,[124] auf dem er fortgegangen, und nur leise Tränen flossen nieder auf ihre zusammengelegten Hände. Die Sonne sank nieder zwischen den blühenden Bäumen, die Vögel sangen und zwitscherten; süßer Duft stieg aus Blumen und Gesträuchen, die Kinder hüpften heimwärts; geputzte Damen zogen den Hauptweg hinab, junge Mädchen, die sich etwa ein hochwichtiges Geheimnis zu vertrauen hatten, gingen an der einsamen Bank vorüber und sahen mit verstohlener Neugierde auf das schmerzverzogene Gesicht. Nicht eine Seele ahnte, welch kummerschweres Herz unter diesem goldenen Abendhimmel schlug, welch heißer Kampf hier lautlos gekämpft wurde.

Er war gewonnen. Langsam erhob sich Luise, leise, leise sagte sie vor sich hin die Worte:
[125]

»Dein' ewig Treu' und Gnade,

O Vater, siehet recht,

Was gut sei oder schade

Dem sterblichen Geschlecht.«


Und langsam ging sie ihren Weg zurück durch den stiller gewordenen Garten, und niemand, selbst Gott im Himmel nicht, hat eine Klage von ihr gehört.

Quelle:
Ottilie Wildermuth: Ausgewählte Werke. Band 2, Stuttgart, Berlin und Leipzig 1924, S. 119-126.
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