[13] Huberts Mansarde.
Die beiden Seitenwände des weitläufigen Raumes sind von ihrem oberen Drittel an abgeschrägt. In der Mitte der Linkswand eine Art Oberlicht in Gestalt eines mehrteiligen Fensters. Darunter ein geräumiger Tisch mit quadratischer Naturholzplatte und derbgedrechselten, braunpolierten Füßen. Jenseits des Tisches ein alter lederner Schreibtischsessel. Links vorne eine schräg ins Zimmer hereingestellte Ottomane mit Teppichüberwurf; an der Wand eine kleine, offene Bibliothek. Vorne rechts eine einflügelige, niedere, braune Holztür. Weiter rückwärts ein einfaches Eisenbett, an dessen Kopfende ein Nachtkästchen angerückt ist. Ganz rückwärts rechts ein altertümlicher Waschkasten, demgegenüber links ein ebensolcher Kleiderkasten. In der Mitte des Hintergrundes eine sehr breite, aber niedere, zweiflügelige Glastür auf einen Holzbalkon hinaus.
Wenn der Vorhang aufgeht, ist diese Tür in ihrer ganzen Breite offen, und man sieht über die Brüstung des Balkons hinaus in eine helle Julinacht, deren silbriger Schimmer auf den nächsten und nahen Wipfeln von Gärten liegt. Jenseits dieser, gegen den Himmel sich abhebend, dunkle
Waldkuppen, deren eine von den glitzernden Bogenlampen eines Hotels gekrönt ist. Der Raum ist vom Dämmer einer Studierlampe erfüllt, die, durch einen roten Papierschirm abgedämpft, auf dem Tische steht. Dieser ist bedeckt mit Schulbüchern, Lexikas, Heften und Requisiten aller Art.
Am Tische im Lehnstuhl.
PROFESSOR REMIGIUS WOHLGEMUT vorne, auf dem Rande der Ottomane vom Publikum halb abgekehrt sitzend.[15]
HUBERT er ist ein junger Mensch von achtzehn Jahren und hohem schmächtigem Wuchse. Verschleierte blaue Augen in einem knabenhaften, doch frühgereiften etwas blassen Gesicht. Die Haltung seines Kopfes und seiner Schultern drückt aus: irgendein Lastendes, von außen her Hemmendes. Dementsprechend auch die Art seines Gehabens und Redens.
Professor Wohlgemut (kurz Remigius genannt) ist ein gütiger Greis. Zarte Gestalt. Gelehrtenhabitus. Das schmale blasse Gesicht, an das Antlitz Franz Liszts gemahnend, gekrönt von einer ungemein ausdrucksvollen Stirne, beherrscht von der Lebendigkeit eines wohlwollend, aber unbeirrbar erkennenden und beurteilenden Auges. In seiner
Stimme die weise Ruhe und Klarheit edler Priester, mit dem Beiklang einer gewissen ewigen Kindlichkeit. Manchmal das huschende Lächeln eines milden und gebildeten Humors. Er trägt dunklen Sommeranzug, ebensolche Kravatte und niederen, vorne geschlossenen Stehkragen, Hubert hingegen Sportanzug und Tennishemd mit offenem Kragen.
Remigius blättert in einem Repetitorium der Weltgeschichte, aus der er Hubert überhört. Währenddessen aus einem nahen Heurigengarten Musik von Geigen, Gitarre und Ziehharmonika.
REMIGIUS lächelnd. Zum Schluß ein rascher Flug durch die Jahrhunderte! Willst du?
HUBERT. Gerne.
REMIGIUS. Eroberung Ägyptens durch die Hyksos?
HUBERT. Zweitausend vor Christus.[16]
REMIGIUS. Verfassung des Lykurg?
HUBERT. Achthundertzwanzig.
REMIGIUS. Bellum Gallicum?
HUBERT. Achtundfünfzig bis einundfünfzig.
REMIGIUS. Vertrag zu Verdun?
HUBERT. Achthundertdreiundvierzig.
REMIGIUS. Winkelried bei Sempach?
HUBERT. Dreizehnhundertfünfundachtzig.
REMIGIUS. Vierundachtzig! – Habeascorpusakte?
HUBERT. Sechzehnhundertneunundsiebzig.
REMIGIUS. Bravo! – Dritte Teilung Polens?[17]
HUBERT. Siebzehnhundertund –
REMIGIUS. – fünfund –?
HUBERT. – fünfundneunzig.
REMIGIUS. Richtig. Schließlich und endlich: – Friede zu St. Stefano?
HUBERT. Achtzehnhundertundachtundsiebzig.
REMIGIUS das Buch zuklappend. Sufficit! Wenn du morgen auch so antwortest, kann Auszeichnung nicht fehlen.
HUBERT trüb. Wenn ich so antworte, guter Onkel!
REMIGIUS. Warum solltest du nicht?
HUBERT. Habe noch immer versagt, wenn es einmal galt; und morgen gilt es.
REMIGIUS. Das ist allerdings die beste Vorstellung, um die Nerven in Unordnung zu bringen.[18]
HUBERT. Vielleicht sind sie das bereits, und daher die Vorstellung.
REMIGIUS. Aber Kind du, mit deinen achtzehn Jahren!
HUBERT. Wenn ich an das Gesicht meines Vaters denke, falls es schiefginge –
REMIGIUS. Du mißkennst deinen Vater, Hubert! Hast keinen bessern Freund als ihn. Weißt du das?
HUBERT. Ich – weiß es.
REMIGIUS behutsam. So laß es ihn auch – bisweilen fühlen! Vielleicht wartet er heimlich darauf. – Doch für dieses Thema ist heute nicht der Augenblick. Wenn ich raten darf: die Bücher zugeklappt, ein kleiner Spaziergang und dann aufs Ohr gelegt! Morgen um die Zeit alles überstanden, die Welt in Rosenrot, das Leben saathungriges Ackerland! Willst du mir folgen?
HUBERT. Gerne; könnte heute ohnehin nichts mehr aufnehmen.
REMIGIUS. Gute Nacht also! Dein Vater wartet auf mich, wollen noch[19] zur Friedhofsbank, zum täglich gesuchten Schauspiel: die lichterglitzernde Stadt! Hast am Ende Lust mitzuhalten?
HUBERT verlegen. Nein, vielen Dank! Verzeih mir, bleib' heute lieber allein.
REMIGIUS. Passiert! Aber kein Buch mehr angerührt! Hand darauf!
HUBERT nimmt die gebotene Hand und beugt sich rasch, sie zu küssen; in plötzlicher, verschämter Inbrunst. Ich danke – danke.
REMIGIUS die Hand entziehend, fast knabenhaft errötend. Was fällt dir denn ein? Für das bißchen Examinieren?
HUBERT schamvoll. Bist immer so gut zu mir gewesen.
REMIGIUS ebenso, aber heiter. Unsinn! – Kann leider nicht anders sein als gut. Zu anderem reicht's nicht bei mir. Weiter hab' ich's im Leben nicht gebracht. Rosl tritt ein. Da kommt holdere Gesellschaft. Leb wohl! Ab.
Rosl ist eine junge, blonde, ländliche Person, aber ihr gesundes Blühen hat nichts Derbes, ihr Wesen nichts Lautes. Sie gehört in den Wald und ist in die[20] Stadt verschlagen. Als entfernte Verwandte der Mutter ist ihre Art sich zu geben freier und familiärer als die eines fremden Dienstmädchens. Demgemäß auch ihre Kleidung mehr die einer Haustochter.
ROSL stellt ein Servierbrett mit einem Glas Milch und kaltem Nachtmahl auf den Studiertisch. Dein Abendbrot, Hubert.
HUBERT. Schon gut. Danke.
ROSL geht zum Bett und deckt es auf.
HUBERT der sie dabei betrachtet hat, beklommen. Was hat es heute unten wieder gegeben?
ROSL unter der Arbeit, gedämpft. Zwischen den Eltern? – Ich weiß nicht.
HUBERT mißmutig. Habe ihre Stimmen doch bis herauf gehört!
ROSL herb. Der Horcher an der Wand –
HUBERT. Diese dummen Sprichwörter! Man kriegt eben ängstliche Ohren, wenn man auf einem Pulverfaß sitzt. Ging es also wieder um mich?[21]
ROSL. Zerbrich dir nicht den Kopf! Iß lieber!
HUBERT das Essen wegschiebend. Hab' keinen Hunger.
ROSL mit nicht mehr verhohlenem Anteil. Heute fasten und morgen bei Kraft sein?
HUBERT in bezug auf den Applaus im nahen Heurigengarten. Wie's die Bestien treiben! Woher sie den Humor nehmen? Gibt es wirklich so viele fidele Kreaturen auf der Welt?
ROSL. Sind halt bescheiden in ihren Ansprüchen.
HUBERT verbissen. Eine ironischere Nachbarschaft als diesen Lustgarten könnte unser Haus nicht haben! Fiedeln, Johlen und Klatschen täglich bis um Mitternacht. Villa Pax ist übrigens auch kein übel-diabolischer Einfall meines Begründers. Pax – zu deutsch: der Friede!
ROSL um ihren Anteil zu verbergen, abschneidend. Gute Nacht jetzt.[22]
HUBERT bei ihr, dumpf. Wirst heut' für mich beten?
ROSL verhalten. Wie alle Tag' – für Freund und Feind.
HUBERT. Zu welchen gehör' ich?
ROSL befangen, mit einer gewissen verlegenen Schelmerei. Zur Freundschaft nicht.
HUBERT. Also zur Feindschaft! – Somit darf ich dir ja wehtun! Packt sie bei beiden Handgelenken.
ROSL den Schmerz verbeißend. Ich spür' nichts
HUBERT drückt sie stärker und zieht sie dabei nah an sich. Noch immer nicht? – Wie deine Haare duften! Wie Wiesen, wie junges Grün!
ROSL ganz verhalten. Das ist vom Garten. Sie ziehen die Feuchte an.
HUBERT seine Wange an ihr Haar legend, in scheuer Erregung. Wohl, feucht sind sie auch. Lindenblüten! – Mir ist der[23] ganze Frühling verloren über dem vielen Latein und Griechisch. – Tu' ich dir noch weh?
ROSL plötzlich, hastig. Laß aus, die Mutter kommt!
HUBERT auch zusammenschreckend, aber aus Trotz nicht auslassend. Und wenn?! Darf das nicht sein, daß – deine Haare duften?
ROSL sich mit einem Ruck losmachend. Wenn sie uns trifft, da wäre es gleich aus!
HUBERT sich abwendend, mit knabenhafter Bitterkeit. Ich hätte, Gott behüte, einen Augenblick lang vergessen können, daß dies ein Haus des Friedens ist! Mit ostentativ lauter Stimme zu Rosl, die sich verlegen am Tische zu schaffen macht. Laß das Essen nur stehen, Rosl! Ich kriege vielleicht noch Hunger! Wieder gedämpft. Jetzt werd' ich ja allsogleich erfahren, womit ich heute meinen Eltern wieder einmal die Eintracht versalzen habe.
Die Mutter tritt auf. Sie ist eine mittelgroße Frau, Ende der Vierzig. Sie hat etwas Unstetes und Unsicheres in ihrem Wesen, die verdrossene
Befangenheit von Menschen, die ihr eigentliches Milieu verfehlt haben und sich in der Rolle, zu der sie durch äußere Umstände verhalten sind, unwohl fühlen. Ihre ganze Haltung, Kleidung, Haartracht entspricht der Vorstellung, die sich eine Kleinbürgerin von einer Frau von Stand macht.
[24]
MUTTER nervös, unsicher. Schon Feierabend, Hubert?
HUBERT von ihrer Nervosität sofort angesteckt. Wie du siehst, Mutter.
MUTTER. In allem vorbereitet?
HUBERT. Soweit es eben möglich.
Rosl, die beim Eintritt der Mutter, um ihre Befangenheit zu verbergen, scheinbar beschäftigt in den Hintergrund gegangen, unauffällig ab.
MUTTER. Es gibt also keine Frage, die du nicht beantworten würdest?
HUBERT quälerisch. Es gibt deren unendlich viele.
MUTTER fassungslos. Das ist ja furchtbar!
HUBERT mit boshaftem Behagen. Ganz entsetzlich, jawohl.
MUTTER. Und das sagst du so ruhig? Denkst du nicht, was dein Vater täte, wenn –[25]
HUBERT selbst gequält. Du bist keine ermunternde Gesellschaft vor einer Prüfung, Mutter!
MUTTER. Mein Gott, von solchen Prüfungen verstehe ich doch nichts. Für andere hat dein Vater reichlich gesorgt.
HUBERT anzüglich gereizt. Darin, denke ich, seid ihr einander nichts schuldig geblieben.
MUTTER. Das sagst du, den er ebenso knechtet wie mich?
HUBERT in der Wunde wühlend. Mich knechtet er nicht, mich – mißachtet er bloß. Du warst ihm wenigstens ehemals so viel wert, daß er an dir zu arbeiten versuchte; mich läßt er beruhen als – hoffnungslos.
MUTTER. Ich bin starr. Woher hast du das?
HUBERT hitzig. Die Frage ist bezeichnend. Muß ich denn alles von irgendwoher, will sagen, von einem anderen haben? Aus Kindern werden eben Leute, die Augen gehen einem eben auf mit der Zeit. Man hatte ja Muße dazu in der bekannten[26] goldenen Jugend als der Zankapfel, der man ist, als der Amboß, den man abgibt für die Hämmer von links und rechts!
MUTTER echt berührt. Redest du von dir?
HUBERT bekümmert. Von wem sonst?
MUTTER exaltiert. Das muß anders werden! Du gehst mir ja zugrunde!
HUBERT. Das tut man nicht so schnell. Müssen's eben jeder für sich tragen.
MUTTER plötzlich verändert, beziehungsvoll. Warum jeder für sich? Warum nicht endlich – zusammen?
HUBERT aufmerksam, forschend. Zusammen? Was meinst du damit?
MUTTER vorsichtig. Es könnte immerhin der Augenblick kommen, wo du vielleicht eine Stütze brauchst, eine Helferin –
HUBERT. Verstehe bereits. Danke gehorsamst, mache nicht mit, verschwöre mich nicht.[27]
MUTTER bedeutsam. Es werden sich Fragen ergeben, gegen die alles Bisherige Kinderspiel war.
HUBERT unbehaglich, beklommen. Fragen?
MUTTER. Die Wahl des Berufes zum Beispiel. Erschrickst du?
HUBERT. Davon hat der Vater noch nie mit mir gesprochen.
MUTTER. Um so ratsamer, daß wir beide einig werden, ehe er darüber spricht.
HUBERT. Einig ich mit dir gegen den Vater?
MUTTER einlenkend. Nicht gerade gegen ihn
HUBERT an sich haltend. Mutter, so deutlich warst du bisher noch nie!
MUTTER eindringlich. Willst du auch dein ganzes Leben hinter Büchern am Schreibtisch versäumen? Auch griesgrämig werden in deinen besten Jahren?[28]
HUBERT ausweichend. Habe darüber noch nicht nachgedacht!
MUTTER. Das glaub' ich dir nicht, Hubert! – Willst du auch in deinen alten Tagen den Kreuzer zehnmal wenden müssen, eh' du ihn ausgibst? Weil das ewige Studieren eben doch ein brotloses Geschäft ist?
HUBERT qualvoll. Ich kann es nicht mehr hören, Mutter!
MUTTER. Höre es nur, ehe es zu spät ist!
HUBERT hoffnungslos. Was soll ich also?
MUTTER mit zunehmender Übermacht immer echter, mütterlicher in ihrem Tone. Ein froher Mensch sollst du mir werden, Hubert! Du hast es ja in dir! Von mir hast du es und von all den Meinen! Soll das alles umsonst sein, was die für dich vorgebaut haben? Du brauchst doch nur anzuklopfen bei ihnen, und es wird dir aufgetan! Sind lauter tüchtige, wohlwollende Menschen, die es zu was gebracht haben!
HUBERT. Händler und Krämer – nennt sie der Vater![29]
MUTTER. Neid und Hochmut, nichts anderes!
HUBERT. Hab' ich denn das Zeug zu ihrem Gewerbe?
MUTTER. Hast du das Zeug zum Bücherwurm?
HUBERT. Mutter, Mutter, wozu gehe ich morgen zu dieser Prüfung?
MUTTER. Das fragst du mich? Das frag' deinen Vater! Sein Leben nur hast du bis jetzt gelebt! Aber jetzt Hubert, komme ich daran! Ich, deine Mutter! Jetzt muß auch ich endlich an der Reihe sein, Kind, mein Kind!
HUBERT in qualvollster Verwirrung. So wäre es also, daß ich nicht so sehr einen Beruf, als zwischen Vater und Mutter zu wählen habe! – Das ist etwas viel für einen – Knaben!
MUTTER mit einer gewissen schicksalhaften Betonung. Auf eine Seite mußt du endlich treten, Hubert! Das ist nicht anders!
HUBERT. Und wenn ich auf die – andere trete?[30]
MUTTER aufblitzend. Auf die andere? Sich fassend. Dann – ja dann hilfst du eben dem anderen mein Glück und das deine zerstören.
HUBERT losbrechend. Mutter, fühlst du denn nicht, daß ich auf diesem Wege wirklich in Brüche gehen muß?!
MUTTER einlenkend, betroffen. Sei ruhig, beruhige dich, mein Kind! Ich will ja keine Selbstverleugnung von dir. Opfere mich nur, wenn es sein muß! Was kann eine Mutter anderes verlangen als geopfert werden für ihr Kind, von ihrem Kind? Das erste, was ich um dich erfahren, war Schmerz, warum soll denn nicht auch das letzte – Schmerz sein? Deshalb brauchst du nicht so verstört vor dich hinzustarren, Hubert. Wie immer du mußt, dafür werde ich dich nicht aus meiner Liebe stoßen. Das kann ja eine Mutter gar nicht, das kann sie ja nicht.
HUBERT. Und was wird sein?
MUTTER. Zunächst spreche ich mit Onkel Remigius; wenn wir ihn auf unsere Seite bringen –
HUBERT erschüttert. Warum muß denn alles, was von euch Eltern der[31] eine mit mir will – warum muß es denn gegen den anderen sein?
MUTTER zuckt zusammen, schweigt.
HUBERT mit einem Anflug wirklicher Kindlichkeit der Mutter gegenüber. Mutter, sag' – habt ihr einander liebgehabt, als ihr mich – als ihr mein Dasein beschlosset?
MUTTER sehr verhalten. Was fragst du da?
HUBERT. Ob ihr einander liebgehabt, als ihr mich –
MUTTER mühsam. Ich – weiß es nicht, Hubert. Sie sehen aneinander vorüber.
Nach einer Pause beklommenen Schweigens klopft es an der Tür. Die Mutter sagt: Herein! und Rosl tritt ein.
ROSL in ungewissem Ton. Rabanser ist unten, will Hubert unbedingt sprechen.
HUBERT irritiert. Rabanser? Das bedeutet nichts Gutes.
MUTTER nach raschem prüfendem Blick. Warum? Zu Rosl. Er soll herauf![32]
HUBERT beklommen, erregt. Der Vater hat ihm das Haus verboten.
MUTTER. Und ich, der das Haus gehört, bitte ihn wieder herein. Ich werde es verantworten. Ein Anfang muß endlich gemacht werden. Hast du gehört, Rosl? Da Rosl unschlüssig mit dem Blick auf Hubert stehenbleibt. Ach so, du hast auch Angst! So hol' ich ihn selbst. Ab.
HUBERT nach einigen Augenblicken seiner Ohnmacht nervös Luft machend. Was gaffst du denn?!
ROSL wie unter einem Peitschenhieb zusammenzuckend, mit wunder Stimme. Sei nicht so häßlich zu mir! Dein Prügelknab' kann ich nicht auch noch sein! Rasch ab.
HUBERT steht starr, aber innerlich aufs äußerste erregt. Nach einigen Augenblicken hört man jemanden die Treppe heraufkommen.
RABANSER tritt auf.
Rabanser ist ein junger Mensch von ungefähr dreiundzwanzig Jahren. Seine Gestalt schlank, beinahe abgezehrt, aber von kräftiger, knochiger Anlage. Seine Bewegungen verraten einen durch starken Willen trainierten Körper, wie bei jungen Arbeitern. Das schmale Gesicht von blasser Bräune. Das dunkle Haar in natürlich anmutiger Unordnung. Sein Blick klar, prüfend und beruhend. Seine Art zu sprechen ist latente Rebellion, dabei[33]
immer überlegt und gelassen. Kleidung: dunkler, abgetragener Sommeranzug, weiches Hemd mit schwarzer Masche (salopp gebunden), grauer Havelock und weicher Hut.
RABANSER an der Tür, Hut auf, nachlässig. Servus.
HUBERT seine Befangenheit und Nervosität möglichst verbergend. Es freut mich, Rabanser –
RABANSER ihn prüfend, etwas spöttisch. Wirklich? – Es klang nicht eben überzeugend. Wirft seinen Hut auf die Ottomane.
HUBERT verlegen. Es war nur gerade meine Mutter bei mir –
RABANSER sarkastisch. Muß allerdings anstrengend sein. Die meinige hat mich rechtzeitig weggelegt, um mir solche Unannehmlichkeiten zu ersparen.
HUBERT zupft nervös an seinem Schnurrbartanflug.
RABANSER sieht ihn an, lacht kurz vor sich hin, dann durchs Zimmer auf und ab. Wunderst dich wohl, daß ich den Sprung in de Höhle des Löwen wage? Wie? – Der Mut ist nicht so überwältigend.[34] Sah ihn soeben mit der alten Nachteule Professor Wohlgemut an der Friedhofsmauer sein unheimliches Stelldichein halten. Erkannten mich nicht Deo gratias. Sprachen eben über Thales von Milet. Werden über Thales von Milet auch noch um Mitternacht sprechen. Ich hier folglich sicher und du mit mir, was die Hauptsache. Wünsche dir keine Ungelegenheiten zu bereiten.
HUBERT gequält. Ich verdiene deinen Spott nicht. Du weißt, daß ich für dich nichts tun konnte.
RABANSER kalt. Beileibe nicht! – Du überschätzest die Hoffnungen, die ich auf dich und deinesgleichen jemals gesetzt. Du, dieser Komplex aus bürgerlicher Hemmung und Menschenfurcht, konntest wirklich nichts für mich tun. Ebenso nichts wie alle meine anderen Herren Kameraden jener glorreich verflossenen Oktava, aus der man mich – hinausgeschmissen.
HUBERT unsicher. Hättest du doch mit deiner Broschüre gewartet bis nach der Prüfung! Man hätte dir nichts anhaben können.
RABANSER. Bübische Ranküne von Kneipzeitungsschreibern! Pfui Teufel. Mir ging es um ernstere Dinge. Barrikaden auftürmen[35] und verduftet sein, wenn es zum Schießen kommt. Diese Anmutung hast du schon einmal versucht und ich habe dir schon damals erwidert, daß sie – feig ist.
HUBERT aufgewühlt. Vielleicht bin ich eben – feig!
RABANSER stark, unwidersprechbar. Das bist du nicht; sonst würde ich nicht mit dir verkehren! Mit gesenkter Stimme. Von all den Kreaturen, mit denen ich auf der Schulbank saß, du immer noch der Beste. Dir dieses – zum Abschied zu eröffnen, einer der Gründe meines Hierseins.
HUBERT aufquellend, weh. Abschied?
RABANSER mit erkünstelter Rauheit. Keine Waschlappereien jetzt! Die Stunde ist kalt wie ein Rasiermesser. Wieder gesenkt. Übrigens war die Schmierage nicht der einzige Hebel meines Hinauswurfs. Sie gab ihnen bloß sublimere Witterung: ein Kerl, der solches wagt, muß auch moralisch ein Haderlump sein! Also Hunde von der Koppel! Spürhunde, Polizeihunde, Bluthunde! Vorstadtgerüchte, Mägdeklatsch, das Dutzend Lügen um einen Gulden! Vom Erdgeschoß bis auf den Dachboden ein Ameisenhaufen der Verleumdung! –[36] Bis sie mir draufgekommen auf das – Ungeheuerliche! Lacht wild auf.
HUBERT erschüttert, leise. Worauf?
RABANSER bitter. Worauf? – Frag' deinen Vater! Ihm werden sie es wohl gesteckt haben! Hätte mir sonst nicht den Brief geschrieben, diesen Peitschenhieb in das Antlitz eines – Menschen! Hubert –! Aber nein! Jetzt noch nicht! Erst wenn ich wieder einmal oben sein sollte, oben! – Dann sehen wir uns wieder, dann reden wir davon. Frag jetzt nicht! Auch mir fiel ein Lindenblatt zwischen die Schultern. Nichts mehr von mir jetzt! Wieder beherrscht und gelassen. Gehst du nicht morgen zur Matura?
HUBERT. Ja.
RABANSER aufgeräumter. Das klang gepreßt wie aus einer verstopften Klistierspritze!
HUBERT. Es hängt so vieles davon ab für mich.
RABANSER. Für wen nicht? Aber merke dir, Leute deines Schlages fallen nicht. Davor schützt sie die nichtswürdige Solidarität[37] der sozialen Klasse. Bei unsereinem ist's was anderes. Will damit dir persönlich nicht auf die Zehen getreten haben.
HUBERT. Glaubst du, dasselbe hab' ich nicht tausendmal gedacht, seit sie dir den Garaus gemacht haben? Mir die Wege eben und offen, und du –!
RABANSER mit Humor. Mensch, verkleinere dich nicht, sondern nimm Trost an! Denn auch ich darf mich morgen aus Gnade und Barmherzigkeit auf meine – »Reife« prüfen lassen.
HUBERT in echter Freude. Rabanser, du?! Jetzt ist alles wieder gut! Auf ihn zu.
RABANSER sich lachend erwehrend. Die Schwägersnichte meiner Hausbesorgerin – die Konkubine eines Amtsdieners bei einem Hofrat! Der Weg ist dreckig, aber gangbar für einen, der nichts zu verlieren hat.
HUBERT. Jetzt wirst du es ihnen zeigen!
RABANSER Huberts knabenhaftem Furor heiter überlegen. Glaubst du?[38]
HUBERT. Mit deinem Wissen, deinen Stahlnerven, deiner göttlichen Hybris! Du wirst nicht wie ein Schlachtkalb schlottern vor ihren Fragen! Du nicht! Wir übrigen verdienen ja nichts anderes als zittern und kuschen!
RABANSER die Hoffnung mühsam von sich abhaltend. Schwärme nicht, Jüngling! Es wird anders kommen. Die Dolche sind bereits geschliffen, die mich vom Rumpfe der bürgerlichen Gesellschaft endgültig trennen sollen. Sie werden mir Netze stellen – nichts leichter als dies! – und ich werde mich verstricken. Allwissend bin ich nicht, doch dies ist mir bewußt.
HUBERT. Sie werden es nicht wagen!
RABANSER. Wer sollte sie hindern? Nein Hubert, ich gehe nicht zu dieser Prüfung, um durchzukommen. Dieser Fall ist im Repertorium der menschlichen Gemeinheit nicht vorgesehen. – Ich habe bloß eine kleine heimliche Verantwortung; für die muß ich selbst das Aussichtslose versuchen. Nicht um meinetwillen.
HUBERT behutsam. Willst du mir das erklären?[39]
RABANSER aufgewühlt, leise. Es gibt jemanden in meinem Leben, dessen Maß an Leid ist voll, das verträgt keinen Tropfen mehr. Darum will ich morgen auch nicht – in Fetzen zu meiner Hinrichtung gehen – in diesen Fetzen. Er schlägt seinen Mantel auf.
HUBERT betreten, verwirrt. Rabanser!
RABANSER. Ich habe nur diesen Rock. Dir dieses zu eröffnen, ist ein zweiter Grund meines Hierseins.
HUBERT sieh in ratloser Teilnahme an ihm vorüber. Wie kann ich –?
RABANSER mit wunder Sachlichkeit. Bei Melchior Magentrost und Sohn, Kleiderverleihanstalt, wäre ein schwarzer mit Schößeln für acht Kronen zu entlehnen. – Ich habe auch diese acht Kronen nicht.
HUBERT aus allen Taschen. Nimm alles, was ich besitze!
RABANSER starr an sich haltend. Wird es nicht zuviel sein?[40]
HUBERT stürmisch. Nimm, zähle nicht!
RABANSER nimmt mit einer abwesenden Geste. Was darüber, als Almosen? Scham und Erregung macht sich in einem einzigen rauhen Aufatmen Luft, durch seine Gestalt geht eine jähe Schwäche.
HUBERT nahe bei ihm. Was hast du?
RABANSER. Nichts.
HUBERT in jäher Erkenntnis. Hunger?
RABANSER. Auch – ein wenig.
HUBERT ihn stürmisch nehmend, zum Tisch hin drängend. Iß – trink!
RABANSER nach kurzem Besinnen, leert gierig das Glas mit Milch. Das war – nicht ein dritter Grund meines Hierseins.
HUBERT drängt ihm ein Brot auf. Noch das![41]
RABANSER nimmt es. Nicht – für mich. Steckt es ein. Hab' ich mich jetzt genug vor dir – gedemütigt?
HUBERT leise, bittend. Still!
RABANSER. Wie arm ich heute zu dir gekommen und wie du mich – gelabt, vergesse ich nicht.
HUBERT. Kann sein, daß es mir eines Tages ärmer ergeht, in anderem Sinn.
RABANSER. Dann komm!
HUBERT. Dank.
RABANSER. Leb wohl. Sie stehen einige Augenblicke Hand in Hand, aneinander vorübersehend. Draußen auf der Treppe Schritte.
HUBERT zusammenschreckend, Rabansers Hand fahren lassend, gespannt lauschend. Es steigt wer die Treppe herauf!
RABANSER. So schreitet in diesem Haus nur Einer. – Nimmt seinen[42] Hut von der Ottomane auf. Thales von Milet scheint dennoch nicht bis Mitternacht vorgehalten zu haben. – Das hätte ich dir gerne erspart. Er geht mit lässigem Schritt gegen den Hintergrund, während Hubert in der Nähe des Schreibtisches starr stehenbleibt.
Der Vater tritt ein.
Dr. Fallmer ist ein hochgewachsener Mann gegen Sechzig. Breite Schultern, sonst schlank und sehnig, sein Schritt unbetont, aber von Stahl. Glatt rasiert, stark gebräunt. Die breite und hohe Stirn von aufgestelltem dichtem, grauem Haar umrahmt. Die Stimme männlich tief, nicht hart, aber voll Energie. Er trägt schlichten, dunkelgrauen Sportanzug von Schnitt und Nüchternheit einer Felduniform. Dunkelbraune Ledergamaschen und Schuhe. Er ist in lässiger Haltung eingetreten, ein paar Schritte ins Zimmer auf Hubert zu. Da er Rabanser gewahrt, bleibt er stehen. Ein jähes Wetterleuchten geht über sein Gesicht, aber er zwingt sich zu eisiger Ruhe, in der er sich von den beiden halb abwendet.
VATER. Man hat mir leider nicht gemeldet, daß mein Sohn Besuch hat. Sonst hätte ich meinen Sohn und seinen Besuch – nicht gestört.
RABANSER höchst gelassen, mit höhnischem Unterton. Die Störung ist meinerseits.
VATER innerlich bebend. Wer sind Sie?
RABANSER. Ich heiße Rabanser. Das wissen Sie so gut wie ich.[43]
VATER. Es – wundert mich, Sie hier zu sehen. Denn ich entsinne mich, einem gewissen Rabanser, Verfasser eines respektlosen, wenn auch geistvollen Elaborats Ironisch. vom »Ethos der Ungeborenen«, wegen dieses und anderer dunkler Vorgänge relegiert –
RABANSER. Haben Sie die Dunkelheit jener Vorgänge geprüft?
VATER. Das ist nicht meines Amtes. Ich entsinne mich bloß, wiederhole ich, jenem Rabanser – mein Haus verboten zu haben.
RABANSER wild, gedämpft. Ich bin kein Auswürfling!
VATER. Ist mir gleichgültig. Ich staune nur über meinen Sohn, der von jenem Verbote Akt genommen und dennoch –
RABANSER gehässig. Ersparen Sie sich den Nachsatz! – Leb wohl, Hubert. Geht auf Hubert zu und reicht ihm die Hand hin.
HUBERT in seiner Erstarrung die Hand unabsichtlich übersehend. Leb wohl, Rabanser. Ganz starr.[44]
RABANSER ein bitteres Lächeln geht über sein Gesicht. Ach so!
VATER mühsam gehalten. Wenn du mich im Unrecht glaubst, kannst du deinem – Freund die Hand ja geben!
RABANSER. Den Mut besitzt er nicht. Wendet sich zum Gehen.
VATER von der Beleidigung seines Sohnes selbst getroffen, aufblitzend. Gehen Sie endlich!
HUBERT erst jetzt zum Bewußtsein der Situation gelang verwirrt Rabanser die Hand hinstreckend. Rabanser!
RABANSER. Bemüh' dich nicht! Zum Vater bedeutungsvoll. Auf – Wiedersehen!
VATER mit höhnischer Verbindlichkeit. Nicht nötig!
RABANSER nach einem Blick, den er auf Hubert zurückwirft, ab.[45]
VATER ach einer Pause, in der er seine Erregung niedergekämpft, mit tiefer, aufgewühlter Stimme. Brauchst du wirklich solche Freunde, Hubert? – Du machst mich doch hoffentlich für diese Szene nicht verantwortlich? – Wäre gerne eine Stunde mit meinem Sohn allein gewesen an diesem Vorabend. – Hörst du mich, Hubert?
HUBERT paralysiert, mechanisch. Jawohl, Vater.
VATER immer mehr mit dem Unterton der Werbung. Der Ausgang der Prüfung, wollte ich sagen, ist mir – unwichtig. – Meinetwegen brauchst du nicht befangen zu sein morgen. – Verstehst du mich, Hubert?
HUBERT wie oben. Jawohl, Vater.
VATER. Viel Glück zum Gelingen will ich dir trotzdem wünschen. – Gib mir die Hand, Hubert! Reicht ihm die Hand hin, die Hubert wie im Traum ergreift.
HUBERT. Jawohl, Vater.
VATER aufbebend. Sonst nichts?[46]
HUBERT will sprechen, kann nicht.
VATER mit einem Schritt ganz nah zu ihm, heiß. Kann dich nicht teilen mit jedem dahergelaufenen – –! Drückt ihn an sich. Muß teilen genug! Läßt ihn rasch los und geht, seiner Bewegtheit entflüchtend, ein paar hastige Schritte zur Tür. Dort bleibt er stehen, faßt sich. Dann mit gütiger Vaterstimme. Gute Nacht, Hubert! Ab.
HUBERT erst nachdem der Vater draußen, ohne sich nach der Tür zu wenden, wie aus Traumverwirrung, mit einem leisen, demütigen Nicken des Kopfes. Jawohl, Vater ...
Langsam der Vorhang.
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