Robinson im Winkel

[156] Wie meine Mutter von ihrem Sonnenland, schwärmte ich von urwüchsiger Natur, von Seefahrt, Steppen-und Waldläuferei, von einem Leben, das alle brauchbaren Kräfte in freier Betätigung heranbildet. Früchte wollte ich pflücken, wo sie wild wachsen, oder durch Anbau gewinnen; Tiere jagen und züchten, die Hütte mir selber bauen, mein Boot zimmern, Kleidung und Gerät verfertigen. Mein Held war Robinson, der durch Selbsthilfe ein von Kultur unberührtes Eiland zum tropischen Glastelfingen gestaltet.

Unter den Freunden war's besonders Uli, der mich in solchem Idealismus bestärkte. Wendelin liebte weniger das Urwüchsige als Kunst, Wissenschaft, feine Lebensart. Immerhin spendete er Beifall, wenn Uli grollend loslegte: »Engbrüschtige Menschheit! Deine Gesittung mag i net! Die Naturkinder in der Südsee ond in Afrika laß du in Frieden, statt deine Missionare ond Krämer auf sie zu hetzen. Was mr Kultur heißt, bringt dene nicks Guts! So wenik, wie's den Büffeln der Prärie gut getan hat, daß sie der Kulturmensch umgewandelt hat in Stallviecher, in Madeere-Büffel. Auch ons Pennäler will mr so komme. Aber wir dulden's net, gelt? Zum Kaschpar Hauser, der die Sonne net kennt, laß i mi net mache! Unsre Hörner wolle mr brauche! Die freie Welt tun mr dooch entdecke, gelt?«

Dieser naturhafte Trieb ins Freie regte sich auch in anderen Mitschülern. Einer namens Gaiser war plötzlich verschwunden – »durchgebrannt«, wie man raunte. Aus dem Brief, den er[157] hinterlassen hatte, ging hervor, daß er gegen die Schule eine unbezwingliche Abneigung habe. Er wolle – schrieb er – nach Brasilien, auf dem Rio Negro im Kanu als Fellhändler leben. Man möge ihm nicht nachsetzen – eher werde er sich totschießen als zurückführen lassen. Merkwürdig, daß Gaiser keineswegs zu den schlechtesten Schülern gehörte und durch seinen Schritt alles verblüffte. Seine Schweigsamkeit hatte bewirkt, daß er keinen Vertrauten hatte, und daß die Lehrer, obwohl sie seine Leistungen anerkannten, ihn fast übersahen. War nun Gaiser durch seine Tat der Held des Tages geworden, so stürzte er rasch von seinem Glasberg ab. Keine Woche nämlich war vergangen, so erschien er wieder in der Klasse, als sei nichts vorgefallen – hatte sogar einen Entschuldigungszettel von seinen Eltern. Er machte dasselbe gleichgültige Gesicht, das er immer gemacht hatte. Von den Schülern war nichts aus ihm herauszubringen. Durch seine Eltern wurde bekannt, in der Nacht hab' er geklopft und sei, wie man geöffnet, schweigend eingetreten. Ohne weiteres hab' er sich seiner nassen Kleider entledigt und ins Bett ge legt. Kaum daß er etwas Nahrung, die ihm die Mutter reichte, hinuntergeschlungen habe, so sei er in schnarchenden Schlaf verfallen. Da die Lehrerschaft dem Ausreißer weiter nichts vorzuwerfen hatte, ging sie achselzuckend über den Fall zur Tagesordnung über. Ulis Versuch, Gaisers Vertrauen zu gewinnen, erzielte nichts, als daß dieser mit verlegenem Lächeln meinte: »Wemmer koi Geld hat, kammer nicks mache!«

Das war ein ernüchternder Wasserstrahl für meine Robinson-Schwärmerei. Enzio meinte, Gaiser sei e Stümper – mit Geld müss' mr halt hinreichend versehen sein – das hab' auch Gassenmaier gesagt.

Meine Robinsonade spielte sich, während der Winter ins Land geschnoben kam, zahm hinterm Ofen ab – in Gestalt von Handwerkerund[158] Erfinder-Basteleien. Es reizte mich, Ideen aus mir heraus zu verwirklichen. Ich tüftelte schnurrige Mechanismen zusammen: Windmühlenflügel bewegten sie, durch den Luftstrom am heißen Ofen getrieben. Aus Pappe, die ich bemalte, wurde ein Schmied, der beide Arme bewegte: während der linke die Zange mit dem glühenden Eisen zum Amboß streckte, schlug der rechte mit dem Hammer drauf. Das pinkende Geräusch brachte ich durch eine Drahtsaite heraus, gezupft von einer Federpose, die mit der Mühle zusammenhing. Variante dieser Grundidee war eine singende Harfenspielerin: Taktmäßig riß sie den Mund auf, verdrehte das Auge und griff in die Saiten – diese spannten sich von ihrer ellenlangen Nase nach dem ebenfalls langen Fuß, so daß Harfe und Sängerin in einer Gestalt vereinigt waren; hinter ihr war natürlich wieder ein Klimperwerk.

Was dazu beitrug, daß ich mich auf solche Basteleien warf, war das Gefühl meiner Unfähigkeit, das Epos vom Glasberg herauszukriegen. Die Poesie, die mir in Worten nicht gelang, wollte sich plastisch ausdrücken. In dieser Hinsicht fand ich besondere Freude an der Gestaltung einer Weihnachtskrippe. Unterm Tannenbaum auf Waldmoos war der Stall von Bethlehem mit der heiligen Familie, mit Engeln von oben, Hirten und allerlei Getier. Der Hintergrund zeigte, vom Monde beflimmert, den steilen Glasberg. Das Erfinden, Zeichnen und Tuschen, Kleben und Ausschneiden, diese Robinsonade im Winkel, verwob sich gemütlich mit den Stimmungen, die das Weihnachtsfest herbeiführte. Während der Adventzeit erwachte ich vom Chorsingen der »Pauper«. So nannte man ärmliche Knaben, die sich unter Führung ihres Gesangmeisters durch religiöse Morgenständchen etwas Geld verdienten, das ihre Hauskollekte zusammenbrachte. Aus hellen Kehlen scholl es bald fern, bald nah: »Vom Himmel hoch, da komm' ich her.«[159]

Auf die Weihnachtsromantik erfolgte eine neue Periode meiner Robinson-Schwärmerei, als wir Anfang März das Haus zum Madeere-Beck verließen – wir hatten einen Ersatzmieter gefunden. Unsere neue Wohnung war im Hause des Malermeisters Hebsacker im »Neckarbad«; so genannt, weil sich da ein paar hölzerne Badehäuschen befanden. Westliche Nachbarschaft war jenes Haus, wo nach seinem Verunglücken Herr Bolkendorf gemietet hatte, um Raum für Frau Kuttler und Rosel zu haben, die ihn pflegen sollten. Die zu beiden Häusern gehörigen Gärten bildeten ein einziges, durch keine Abgrenzung geteiltes Gelände, wo es Gemüsebeete, Rosen, Obstbäume und Lauben gab, auch eine ragende Tanne. Jenseits des rauschenden Flusses hob die Platanen-Allee das noch kahle Gezweig. Mit seinem Rücken drängte sich das Hebsackersche Haus an die Stadtmauer, und diese schob, nur einen Steinwurf von uns ostwärts, den alten Befestigungsturm vor, wo Hölderlin, der irre Dichter, lange gehaust hat. Dorthin erstreckte sich, unterhalb der Mauer, an sie gebaut, ein nach der Neckarseite offener Schuppen, wo früher einmal, wie es hieß, Tuchmacher ihre Gewebe gespannt hatten.

Jetzt gab es da Gerümpel und Brennholz. Aber noch etwas Seltsames: eine Kiste, so groß, daß ein Mensch darin Platz fand, wenn er sich zusammenkrümmte. Tatsächlich diente die Kiste selbem Zwecke. Einen Sonderling beherbergte sie nachts, sogar im Winter. Gewähren ließ man den »alten Faulhaber«, weil er arm war und es im »Gutleuthaus«, wo man ihn früher untergebracht hatte, nicht aushielt. Mit anderen Menschen zusammenhausen und nach Vorschrift leben, war ihm zuwider. Im Schuppen, sagte er, sei's gemütlich. Die frische Luft sei er gewohnt, in einer Kammer würd' er ersticken. Den Neckar hör' er gern rauschen, der Garten komm' ihm wie sein eigener vor,[160] hier dürf' er leben, wie's ihm passe, hier hab' er seine Heimat. Niemand legte dem alten Faulhaber etwas in den Weg, da er still für sich lebte und den Nachbarn gefällig war, obwohl ihm keine vorgeschriebene Arbeit paßte. Man gab ihm Essen und abgelegte Kleidungsstücke; etwas Geld verdiente er sich, ein Bettler mochte er nicht sein.

Als ich ihn mit Wilhelm Hebsacker, dem Sohn unseres neuen Wirtes, besuchte, saß der Graubart vor seiner Bettkiste und flickte einen zersprungenen Topf mit Draht. Willkommen schien ihm der Besuch nicht zu sein, scheu lugten die Augen unter grauen Augenbrauen. Einsilbig antwortete er auf Hebsackers Fragen, geriet aber schließlich ins Plaudern. Vom Fischfang erzählte er, den er mit Vorliebe betrieb. Nächstens werde er viel Fische fangen, meinte er; einen Nachen wolle er bauen. Auf die Frage, wie er das anzustellen gedenke, winkte er geheimnisvoll und führte uns zum Winkel des Schuppens, hinten beim Hölderlin-Turm. Da lag die Ruine einer Bodentreppe, bestehend aus zwei Balken mit aufgenagelten Brettern. Und es erklärte Faulhaber, wie sich draus das Fahrzeug zimmern lasse. Ich war vom Alten begeistert und raunte Hebsacker zu, das sei ein Robinson im Winkel.

Ihn allein zu besuchen, wagte ich bald, und es gab eine leidliche Verständigung. Ich erzählte vom weisen Diogenes, zu dem, als er sich grade sonnte, König Alexander herablassend sprach: »Ich möchte dir eine Gnade erweisen – was soll ich tun?« – »Mir aus der Sonne gehn,« antwortete Diogenes, der ebenso freimütig wie bedürfnislos war. Die Hofschranzen waren entrüstet über den Grobian, doch der König sprach: »Lassen wir ihn in Frieden! Er hat recht und könnte mich fast beschämen. Während ich unersättlich die Welt erobern möchte, hat er sich freigemacht von allen Dingen, an denen unsereins hängt. Wenn ich nicht Alexander wär, möcht' ich Diogenes sein.«[161]

Gespannt und nachdenklich hatte der alte Faulhaber zugehört; er nickte und nickte. Noch einmal mußte ich die Geschichte erzählen, und wie er alles begriffen hatte, blitzten seine Augen, er kicherte in sich hinein, wohlerhaltene Zähne zeigend. Als ich bald darauf wiederkam, grinste er: »Grieß di Goot, mei Alexanderle!«

Es war das letztemal, daß ich ihn sah. In der Frühe andern Tages fand man ihn tot. Am Neckar lag er, das Gesicht im Wasser. Er hatte sich waschen wollen, war ohnmächtig geworden, vielleicht infolge Schlaganfalls, und ertrunken. Den Leichnam tat man in die Bettkiste, darin hat man ihn begraben. Wären wir Knaben nicht durch die Schule verhindert gewesen, unserm Diogenes hätten wir die letzte Ehre erwiesen.

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 156-162.
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