Totenbeschwörung

[502] Noch ein Gedicht von Hainlin sollte ich kennen lernen. In einem Buche war's, das droben im Schnützelputzhäusel aufbewahrt wurde. So kam's, daß ich noch einmal zu diesem Ort lieblicher Kindheitsträume gelangte.

Klein-Uli sollte mich hinführen. Professor Ritter konnte den Aufstieg seinem Beine nicht zumuten. Begleitete uns aber bis zur Universitätsbibliothek, wo er seine Arbeit über Hölderlin betrieb.

Den Botanischen Garten hatten wir hinter uns, waren an der Universität vorbei und standen betrachtend vor der Bibliothek. An der Außenwand dieses vornehmen Neubaues sind Bildnisse von Geisteshelden. »Aber Hölderlin ist nicht dabei,« meinte der Professor spöttisch. »Wohl Uhland! ha freili! der war ja Universitätsprofessor. Hölderlin aber hat's net mal zum Stiftsrepetenten gebracht. Ist ein simpler Hauslehrer gewesen, wiederholt stellungslos, so daß er bei Freunden oder bei seim Mütterle Unterschlupf suchen mußte. Dies Götterkind, das im Geistesschauen den Olymp nicht verleugnete, war auf Erden ein unbeholfener Träumer. Als er, von elender Wirklichkeit zerbrochen, in Tübingen die ärmliche Pflegestätte hatte, schalt ihn, wenn er sich auf Spaziergang wagte, Janhagel einen Narren. Jetzt weiß der deutsche Michel, der gern mit seinen Dichtern und Denkern protzt, von Hölderlin immer noch so gut wie nichts. Die Tübinger raunen davon, es hab im Neckarturm ein[503] irrsinniger Dichter gehaust ... Doch nun, Herr Doktor, kommen Sie mit mir in die Bibliothek! Ich zeig' Ihnen leuchtende Spuren des Genius Hölderlin. Bearbeite seine Handschriften, die aus dem Stuttgarter Archiv hergeliehen sind. Die Gelegenheit ist wahrzunehmen, gelt?«

Durch einen Flur gelangten wir in den Lesesaal. Im hellen, weiten Raume saßen an langen Tischen über Büchern grübelnde Männer, schreibende Studentinnen. Die Stille der Beschaulichkeit gemahnte an Tempelandacht. Eine Beschwörung von Geistern schien hier stattzufinden, und dazu paßte das große Wandgemälde:

Szene aus Homer. Am Eingang zur Unterwelt veranstaltet Odysseus ein Totenopfer. Aus der Tiefe nahen Schatten von Toten – Kinder und Bräute, kummergebeugte Greise und Männer in Rüstung. Auch Sänger mit der Harfe, weisheitsvolle Seher. Vom Opferblut nippen möchten die Seelen, um wieder einmal mit irdischem Leben verbunden zu sein – die Erinnerung daran war ihnen bisher benommen – sie haben ja vom Strom der Vergessenheit geschlürft. Immerhin regt sich ein dunkles Heimweh, und lüstern sind sie nach dem dampfenden, roten Lebenssaft. Hat ein Schatten davon genossen, so fühlt er sich verkörpert. Darf mit dem Opfernden plaudern – darf sich nach der Oberwelt erkundigen. Auch Fragen beantworten, die Odysseus stellt So enthüllen sich diesem mancherlei Schicksale. Sogar in die tiefere Unterwelt gewinnt er Einblick. Und erreicht den Hauptzweck seines Abenteuers: der Seher Teiresias sagt ihm wahr, wie seine lange Irrfahrt enden solle. Wiedersehen werde er die Heimat, sein trautes Felseneiland Ithaka, die Gattin und den Sohn.

In das Bild vertieft, fand ich darin einen Bezug auf mich: Auch ich, ein Vielgereister, suche die Heimat. Und bringe ebenfalls Totenopfer dar, Schatten meiner Jugend beschwörend, daß[504] sie aus der Unterwelt heraufsteigen. Blut geb' ich ihnen zu trinken, damit sie Verkörperung gewinnen und ihr Geheimnis offenbaren.


*


Unterm Arme nahm mich der Professor, mir die Handschriften zu zeigen, die im Nebengemach aufbewahrt wurden. Der Knabe hatte Weisung, im Lesesaal zu warten.

Eine Mappe legte der Professor auf den Tisch und nahm mit Ehrerbietung vergilbte Papiere heraus: Hölderlins Briefe – die Handschrift ist rund und schön, fest und klar.

»Eine Stelle lassen Sie sich zeigen! An seinen Halbbruder schreibt der Dichter – bekennt ihm, er hab' in den letzten Jahren einen lieblos kalten Ton angestimmt. Zu entschuldigen sucht er sich auf eine tiefsinnige Art. Lesen Sie!«

Der Professor wies mit dem Finger die Zeilen:» Ein Unglaube an die ewige Liebe hatte sich meiner bemächtigt ...«

Betroffen hielt ich inne und sann: Unglaube an die ewige Liebe? Das allerdings ist ein verwüstender, ist wohl der einzig schlimme Unglaube!

Und ich las weiter: »Ich sollte auch dahinein geraten – in diesen furchtbaren Aberglauben! Aberglauben an das, was eben Zeichen der Seele und Liebe ist. Was aber, wenn es so nicht verstanden wird, ihr Tod ist.«

Wie wahr! Wer nicht den Glauben an die ewige Liebe hat, ist verstrickt in einen Aberglauben, der tödlich sein kann für unsere eigentliche Seele. »Glaub' es, Teuerster,« – schloß Hölderlin das Bekenntnis seiner innerlichen Verödung – »ich hatte gerungen bis zur tödlichen Ermattung – um das höhere Leben festzuhalten im Glauben und im Schauen.«[505]

»Ist das nicht ein Aufleuchten jener Liebe selbst, von der die Rede ist?« meinte der Professor begeistert. »Das Glauben der Liebe ist das höhere Leben, ein Schauen der ewigen Wahrheit. Diese Offenbarung macht mir klar, warum mein armer Vater vom Glasberg stürzte. Weil ihm die bösartigste aller Sorgen, das Zweifeln am geliebten Herzen, ja an unserem Gotteskern – weil ihm dieser Geier mit hartem Flügelschlag das Auge getroffen und geblendet, das Schauen der Liebe genommen hatte. Anders starb Hainlin – ihm leuchtete das Morgenrot der Ewigkeit. Es ist dasselbe Schauen, das Hölderlin durch den griechischen Eremiten verkünden läßt ...«

Und aus einem Heft blätterte der Professor die Notiz heraus: »Eins zu sein mit allem, was lebt, das ist das Leben der Gottheit – das ist der Himmel auf Erden – ist Gipfel der Gedanken und Freuden.«

»Ist der Glasberggipfel,« sagte ich – »wo die Prinzessin, die wahre Seele, gefunden und erlöst wird. Vorausgesetzt, daß man auf Erden fähig ist, vom ewigen Leben – zu nippen. Ja, eins zu sein mit allem, was da lebt – mit allem! Das wäre ein geradezu übermenschliches Leben, für uns kaum faßbar in seiner Hoheit.«

»Uebermenschlich, das stimmt! Nur auf diese Weise verwirklicht sich Zarathustras Sehnsucht: der Uebermensch,« versicherte der Professor – und es erschütterte mich freudig, daß ein Mann so sprechen konnte, der grausige Schlachten durchfochten hatte. Weich fügte er hinzu: »In der Liebe haben wir den Anteil am Göttlichen. Wir sehnen uns danach in jenem Glastelfinger Heimweh, von dem das Gedicht im Schnützelputzhäusel handelt.«

Um seine Studien nicht länger zu verzögern, nahm ich Abschied von Professor Ritter. Er geleitete mich wieder zur Lesehalle, wo sein Knabe wartete. Mit dem ging ich.

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 502-506.
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