Aus der Tiefe empor

[506] Von der Lustnauer Baumstraße führte mich Klein-Uli links ab – zur Waldhäuser Höhe. »Mr heißt sie jetzt Aeberhards-Höhe,« erklärte der Knabe.

Zwischen zwei schmucken Landhäusern steigt der Weg empor. Bald öffnet sich zur Rechten der Ausblick ins Lustnauer Tal. Um den gotischen Kirchturm breitet sich das Dorf, neumodische Bürgerheime ragen an der Baumstraße. In meiner Kindheit war hier alles schlicht, gemütlicher als jetzt. Der kasernenartige Bau auf halber Eberhards-Höhe, eine Heilanstalt, paßt nicht ins Idyll der Gärten, die sich am Hang emporstaffeln. Schade, daß von den Wengerthäusle, die einst zahlreich von der Berghalde lächelten, nur wenige übrig sind.

Die Aussicht verschwindet, wir passieren einen Hohlweg, der steil aufwärts führt, überwölbt von Weißdorn und Haselbüschen. Rechts kommt eine Schlucht, in deren struppiger Tiefe ein Wassergefälle rauscht.

Klein-Uli beugt sich übers feste Holzgeländer: »Dees da ischt unsre Wolfsschlucht – i han sie so getauft.«

»Ah!« lächle ich – »Samiel, erscheine!«

»Freile!« scherzt der Knabe – »von da führt e heimlicher Gang grad in die Höll. Aber Sie brauche dees net zu glaube!«

»Ich verstehe!«

»In der Wolfsschlucht bin i mal drunte gwä – o jele! arg wühscht sieht's da aus. Nesseln tun brenne, Dorne steche. Wo[507] Baumwurzle aus der Erd krieche, hat's Löcher – Kröten ond Ratten – sogar e Kreuzotterle hat mr da erlegt.«

»Hu, wie graulich!«

Raunend fuhr der Knabe fort: »Wissen Sie, Herr Doktor – wie mr's Bild von Odysseus betrachtet hänt, han i mir denkt: So ähnlich wie die Wolfsschlucht mag dr Eingang zur Unterwelt sein, draus die Toten kommen sind ... Aber freile, eine Unterwelt gibt's überhaupt net! Hölle scho gar net! Dees ischt Aberglaube, Mythologie – gelt?«

Des Kindes Geplauder lenkte mich auf eine Idee, die ich zunächst im stillen verfolgte – weshalb meine Antwort einsilbig ausfiel.

Was mir durch den Sinn ging, war die Mythe von Hermes: Er ist der Luft- und Geistgott, Herr über den Odem, über Leben und Tod – ist daher der Psychopompos oder Seelenführer. Die Seelen der Toten bringt er zur Unterwelt. Seine weitere Aufgabe ist jedoch, aufwärts zu führen, zur himmlischen Höhe. Ein Christus der Griechen ist Hermes, niedergefahren zur Hölle, auferstanden von den Toten, Erlöser der Unterwelt ...

Nun aber meint der Knabe: Eine Unterwelt gibt es gar nicht! Im buchstäblichen Sinne gibt es natürlich keine. Aber diese Völkeridee ist kein bloßer Aberglaube.

Die Unterwelt bedeutet ja nicht allein den Ort, wo die Schatten weilen, sondern philosophisch bedeutet sie das Reich formlosen Stoffes. Aus Formlosigkeit haben sich die Geschöpfe gestaltet, zu ihr kehren sie verwesend zurück.

Wozu aber dies Aufwärts und Wiederabwärts? Ist es Wellenschlag am Meeresstrand? Ist es die Bemühung jenes Unterweltbewohners Sisyphus, der seinen Felsblock auf den Hügel wälzen soll, jedesmal aber, wenn das Ziel beinahe erreicht ist, aus den Händen rollen läßt?[508]

Oder gibt es ein Auf und Ab, in dem sich eine Leistung vollzieht? Des Uhrpendels Hin und Her leistet etwas: das Uhrwerk geht, der Zeiger rückt. So ist vielleicht auch Werden und Vergehen der Geschöpfe mehr als sinnloses Spiel. Irdisch Leben bedeutet: Gelegenheit haben zum Aufstieg ins Ewige. Oft wird die Gelegenheit verpaßt. Doch dieser Verlust kann wieder gutgemacht werden; der große Wellenschlag bietet immer neue Gelegenheit. Vielleicht hat darum die Natur Zeit ohne Ende – niemals aufhören soll die Möglichkeit, zum Bessern zu gelangen.

Daß ein Schüler mich begleitet, bringt mich auf folgenden Einfall: »Hör', Uli! Du bist jetzt in der sechsten Klasse, und ich war auch einmal darin. Das Pensum, das ihr zu bewältigen habt, ist wohl dasselbe wie zu meiner Zeit! In den viereinhalb Jahrzehnten, die seitdem verflossen sind, hat das Pensum keinen Fortschritt gemacht. Der Schüler schreitet ein wenig fort, indem er die sechste Klasse durchmacht: wenn er sie beginnt, gibt's einfache Aufgaben, zuletzt sieht man, daß ein Stück Weges zurück gelegt ist, aber das Pensum dieser Klasse kehrt, sobald die Versetzung geleistet ist, zurück, von wo es ausgegangen ist. Da haben wir nun das ewige Auf und Ab, den Wellenschlag, ein Hin und Her, wie's der Perpendikel macht. Als ob's keinen Fortschritt in der Welt gäbe. Ist das nicht wunderlich, Uli?«

Der Knabe lächelt: »Ja, wemmer's so betrachtet! Aber Fortschritt gibt's halt dooch! Darin besteht er, daß mr aus der sechsten Klass' versetzt wird in die fünfte. Wer klebe bleibt, der freili macht nochmals dees Pensum durch. Ond 's kommen ja alleweil Schüler von unten rauf. Dees muß so sein.«[509]

»Du willst sagen: Der Fortschritt geht durch die sechste Klasse hindurch

»Ha freili!«

»In die fünfte Klasse geht's dann ...«

»Ond von da noch höher.«

»Unter einer Klasse versteht man also die dem Schüler angemessene Gelegenheit, etwas zu lernen – nicht wahr?«

Belustigt staunte Klein-Uli: »Ha! Dees ischt doch klar!«

»Warum ich's dennoch ausspreche? Weil mir die Frage kommt, ob die Menschheit nicht vielleicht eine bloße Klasse ist.«

Der Knabe stutzt: »Mögli wär's.«

»Oft hört man: die Menschheit schreitet fort und wird's noch zum Himmelreich auf Erden bringen. Aber wenn sie bloß eine Klasse ist, wie etwa die sechste, kann man zwar bis zum Ende ihres Pensums gelangen, bis zur Grenze ihrer Fassungskraft – nicht darüber hinaus! Fürs höhere Pensum ist dann eben die höhere Klasse da. Drum gehört das sogenannte Himmelreich auf Erden nicht zum Pensum der Menschheit – wenigstens nicht in dem Sinne, wie's verkündet wird von landläufigen Aposteln – als ob nach hunderttausend Jahren die ganze Menschenmasse gut und glücklich sein werde. Mir scheint, die Dummen werden nicht alle, auch nicht die Gemeinen, Wüsten und Wilden ... Was meinst du? Sieh mal diesen Weltkrieg! Es hat vorher mancher gesagt: So etwas ist nicht zeitgemäß, die Menschheit hat ja Fortschritte an Gesittung gemacht. Nun aber haben wir die Bescherung: das Erdenrund in zwei Lager gespalten, und blutiger geht's her als im eifersüchtigen Ringen zwischen Rom und Karthago, wüster als in der Völkerwanderung und im Dreißigjährigen Krieg. Die Menschheit ist nicht hinausgelangt über ihre Flegeljahre.«[510]

Uli schmunzelte. Sann und meinte: »Da möcht mr halt – naus aus der Flegelklass'!«

»Nicht wahr? In die höhere! Aber erst muß man Reise dafür gewinnen.«

Und der Knabe mit schüchternem Zögern: »Sie denken, gelt? an den Himmel

»Jedenfalls halte ich die Menschheit für eine Durchgangsstation – das Ziel wird nicht in ihr erreicht. Sie gibt dem einzelnen Gelegenheiten, sich zu läutern – so daß er dem Ewigen näher kommt. Allzu viele freilich lernen gar wenig und bleiben sitzen – das Pensum gerade dieser Klasse ist überaus schwer


*


Schweigsam stiegen wir. Ueber die Wolfsschlucht führte die Straße in aller Bequemlichkeit. Noch einen Blick tat ich hinunter. Und dachte abermals an die Unterwelt.

Das Chaos ist die Unterwelt. Worin aber besteht das Chaos? Im wüsten Durcheinander, so daß der Teil sich nicht ums Ganze bekümmert, einem bornierten Eigensinn ergeben. Jegliche Ordnung fehlt.

Sie zu wecken, ist Aufgabe des Seelenführers Hermes. Aus dumpfer Niedrigkeit ringe sich Geistiges empor: Zusammenstimmen, Ueberordnung, Gemeinschaft.

Gern hätte ich solche Einfälle mit dem Professor durchgesprochen. Nun er fehlte, nahm ich mit Klein-Uli vorlieb und versuchte, den klugen Knaben in meine Anschauungsweise einzuführen:

»Die Wolfsschlucht kommt dir also wie der Eingang zur Unterwelt vor? Laß dir davon eine Geschichte erzählen. Die Unterwelt ist kein Aberglaube – sie bedeutet, was die Griechen[511] auch Chaos nennen. Bevor das Dasein Sinn hatte, war's wüst und leer – wenn auch schon Geist hauch über den Wassern schwebte. In der Chaostiefe gab's keinerlei Einigkeit, da war ein Kampf aller gegen alle. Drachen balgten sich, ineinander verbissen.

Nun geschah's, daß etliche dieser Viecher höher krochen und zur Oeffnung der Schlucht gelangten. Durch Gestrüpp lugte da ein Lichtstrahl – nie zuvor hatten die Drachen solch einen Schimmer gesehen. Wie gebannt hielten sie inne mit ihrem Hader – die Schönheit des Lichtes bezauberte sie, daß sie verliebt waren in den Lichtstrahl. Und sie sannen darauf, ihn zu erobern. Aber damit läßt sich Gutes nicht gewinnen. Es erging den Drachen nicht anders als jenen Riesen, die den Olympus erstürmen wollten – zur Unterwelt stürzten sie hinab. Doch in der finstern Tiefe sehnten sich die Ungetüme erst recht zum Licht. Die Liebe war geweckt. Und sie bändigt das Wilde, macht anschmiegsam, kann den Höllenhund zum Lamm entwickeln. Ja – und ...«

Da ich eine Weile schwieg, fragte Uli: »Und? Wie geht's weiter

»Ja, siehst du, darauf bin ich selber gespannt. Wir sind noch mitten in der Begebenheit, die ich schilderte. Die Unterwelt ist gewissermaßen unsere Welt – die Menschen haben noch etwas vom Drachen. Und da bleibt kein Rat, als daß sie fortfahren sollen, dem Lichtstrahl ihr Herz zu weihen – und aus der Tiefe empor zu klimmen.«

Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 506-512.
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