Vorrede.

[11] Jedwede That, so lange sie nicht in ihrem geistigen Wesen als wahrhaft vollendet erscheint, mag eines Vor- und Fürworts bedürfen: Wenn die Wissenschaft es nicht verschmähte, ihre großen und unverwelklichen Gedanken, ihre ewigen Systeme, ihre Kritiken der Vernunft, ihre Wissenschaftslehren und Phänomenologieen des Geistes mit schöner, tiefsinniger, glänzender Fürsprache der Welt und ihrem Denken an's Herz zu legen – dann wird auch die winzig-kleine, vielfach zerstückte und zerpflückte That, welche der deutsche Poet seiner Gegenwart dar bringt das Recht eines leitenden und versöhnenden Fürworts für sich in Anspruch nehmen dürfen.

Die deutsche Poesie wird in den nächsten Decennien denselben Kreislauf vollenden müssen, den[11] die deutsche Wissenschaft längst vor ihr vollendet hat. Denn wie vormals der deutsche Gedanke, nachdem er die Monas des allgemeinen Denkens verloren und sich in die unendliche Kleinlichkeit dürftigsten Formelwesens zersplittert hatte, traurig dastand auf der Schädelstätte seiner selbst, vergehend in Erinnerung und Sehnsucht, wie Jeremias auf den Trümmern Jerusalems; wie er dann, sich selbst in der Macht des Subjekts ergreifend, zuerst die Fähigkeit seiner Erkenntniß grausam untersuchte, secirte und scalpirte, dann aber sein Erkennen in die einfache Unerschütterlichkeit des Individuums, in den dunklen Abgrund des sich selbst gleichen Ich zurückzog und versenkte, welches in höchster Vermessenheit die Gottheit und die Welt selbst aus sich gebären will; wie aber dann in dieser grausamen Einsamkeit des Beisichselbstseins ihm selbst, dem deutschen Gedanken, nicht wohl ward, und er, gewaltigst strebend, das Universum suchte, das er verschlungen,

(Gib diesen Todten mir heraus, ich muß

Ihn wieder haben – –)

den Gott suchte, dessen Wesen ihm zerflossen war, die Natur suchte, aus deren mütterlichem Schooß er sich losgerungen, unfähig, sie wieder zu erzeugen – wie er in der unendlichen Sehnsucht dieses Beginnens[12] zuerst, statt des trostlosen Ich, das Absolute erkannte, bis er endlich seine eigne geistige Wirklichkeit und sein eignes erscheinendes Wesen klar und wahr zu ergreifen, und sich als Geist mit allem, was Objekt ist, geistig zu vermitteln und zu versöhnen vermochte – so und nicht anders, wird es – freilich in weit anderen Kreisen und Formen – auch der deutschen Poesie ergehen.

Denn die deutsche Poesie schläft jetzt einen eisernen Geistesschlaf. Nicht Mohnkörner sind es, die der schlaftrunkne Gott auf sie herniederstreute, sondern die schwarzen Körner des Bilsenkrauts. Und das Grabmal – fragt ihr – das kalte, enge, feuchte, grauenerfüllte Haus, in welchem die Poesie diesen ehernen Schlaf hält – welches ist es? Es ist die Schlacke des eigensten, selbstischsten Egoismus, jener Geistesanmaßung, die im Mark des Subjekts wie ein Typhus wüthet, und welcher, da sie ihres ewiges Inhalts entleert ward, zuletzt nichts übrig bleibt, als der einsame Hochmuth der Unkraft, der mit dem Schein der Kraft fort und fort sich betrügenden Gesinnung. So und nicht anders, steht das poetische Individuum in dieser öden Gegenwart. Die Epoche der »Kritik seiner Vernunft« ist ihm vorüber; allein, ohnmächtiger in[13] sich, als die Wissenschaft sich bezeugte, hat sich bei ihm der Zweifel an der Wahrheit und ruhigen Wirklichkeit der Objekte nicht zur Unerschütterlichkeit des aus sich selbst die Dinge gebärenden Ichs erhoben, sondern aus der Verzweiflung, die dem Nachtigall-Heine-Löwen noch mit ihrer Gluth die Weste durchbrannte, ist nur die Aufgeblasenheit einer sich selbst vergötternden Unkraft geworden, und was sich, anstatt der verlorenen Welt, ja der verlorenen Gottheit, herausgebildet, ist der unendliche Dünkel und die schale Koketterie des halbpoetischen Bewußtseins mit sich selbst, welches sich allmorgentlich vor dem ästhetischen Spiegel den Bart kräuselt und in der namenlosen Süßigkeit solcher freien göttlichen That zu sich spricht: Und dennoch werde ich seyn und fortexistiren, und die Welt wird mir zugeben, daß ich liebenswürdig bin, und schön und wohlgefällig, und daß ich in dem Himmel meines Unverstandes mich friedvoll und selig fühle! –

Wer da fähig ist, die Armseligkeit und Unwürde dieses Bewußtseins, welches sich für den Kosmogetor der Zeit, für den Heiland deutscher Dichtung ausgibt, recht zu begreifen, dem sagt sein Denken und Empfinden unwiderleglichst, daß die deutsche [14] Poesie von jetzt an Alles zu erringen hat; Alles, das heißt: das All der Welt, welches sie, versunken in den schmutzigen Tümpel der Societät, zu lange schon verleugnet hat; Alles, das heißt: die Gottheit, welche sie frevelhaft, hoffärtig an's Kreuz schlug und mit Essig tränkte; Alles, das heißt die unendliche Natur, aus welcher alles, was lebendig, hervorgeht, von welcher aber die halbschürige Geckenpoesie der Zeit nichts wissen will, weil die Natur keine Narren duldet und ihre Blumen und Früchte nur treuer Forschung weiht; den Affen des Jahrhunderts aber Dorn und Distel.

Eine Poesie ohne Weltall, ohne Gott, ohne Natur, das ist die deutsche Poesie der Gegenwart! vielmehr die Unpoesie, welche sich aus dem Schlamme der socialen Interessen, Zustände, Richtungen, Conflicte, herausgeboren hat als eine neue Afrodite – aber der Häßlichkeit und des geistigen Elends Unsere Dichter haben es verlernt, zu forschen; verlernt, in den heiligen Hallen der Schöpfung zu wandeln, um aus dieser Andacht tiefsinnigster Beschauung den Geist zu entlocken und sich selbst ihn einzuimpfen. Die Welt ist ihnen nicht der göttliche Inhalt der Welt, nicht das unendliche Keimen,[15] Sproßen, Sich-Gestalten, Verwandeln und Vergehen des Allbewegers Geist, sondern ihre Welt ist der Weltlauf in seiner trivialen, durchnüchterten, durchlüsterten, und in allem diesen so unsäglich öden Modernheit. Von dem Naturgeist und den Wundern, die er überall und jederstund entfaltet, wissen sie nichts, denn sie glauben nicht an die Natur, und glauben nicht daran, darum, weil sie die Natur nicht erkennen als die ursprüngliche Heimath aller poetischen Gedanken. Unsere Dichter glauben nur zwei Götter; der eine, das ist ihr Selbst, wie es so leibt und lebt in seiner fleischgewordenen Unzulänglichkeit; die andere Gottheit ist ihre Welt, das ist das langweilig-sociale Element, worin sie sich bewegen und worin sich jeder bewegen muß, der es liebt Conzerte zu hören und Champagner zu trinken. Unsere Dichter schreckt Alles, was eine Tiefe hat, und wenn die Geister der Tiefe ihnen dafür die Spitze bieten und sie rächend verfolgen, dann, in der trostlosen Oede ihrer Gemüthseinsamkeit, klagen sie, anstatt zu dichten, schwatzen sie aus die Misere ihrer Brust, anstatt zu gestalten, und ergreifen zuletzt, in der vollsten Verzweiflung ihrer poetischen Anlage, denselben uralten Popanz Ideal,[16] welchen durch die Macht und Fülle der Wirklichkeit zu bezwingen, schon vor neunzig Jahren Vater Göthe in die Welt kam. Seltsam! Während die poetisch empfindende Welt, während das Bewußtsein des deutschen Volks, in dessen Herzen die Poesie zu allen Zeiten so groß und leibhaftig blühte, während dieses nach dem Drama dürstet, nach jener heiligen Labung, die einst Shakspeare den Seinen spendete – während dessen kommen unsere Dichter und wärmen uns die alten vermoderten Kaiser auf, und suchen in den Chroniken herum, um ein Stückchen Weltpoesie dort heraus zu lesen, wie die alte Großmutter um Drei-Königs-Zeit den Enkeln noch die Reste sucht eines alten Pfefferkuchens aus ihrem Handkörbchen. Solche Ansichten hegte Shakspeare nicht, als er die ersten Gedanken faßte zu Hamlet, Lear und Macbeth, und niemals suchte er die Vorzeit stückweise, wenn es galt, sie im Lichte seiner Poesie zu verklären. Wunderbar! während das erste blasse Morgenroth der Zukunft uns Dichtungen verkündet, wie vor Jahrhunderten Parcival war; Dichtungen, in denen die zerspaltene Menschenseele ihre uranfängliche Einheit mit den Mächten wiedersucht, die ihr Dasein begründen – während dessen kommen[17] unsre residenzlichen Herrchen, die sich für deutsche Dichter ausgeben, und tischen uns das Geschlinge und die kleinen Gedärme auf von dem Leichnam der deutschen Novelle; stinkenden Unrath des Geistes, der seit jenen Tagen auf dem Anger der Literatur fault, wo die deutsche Novelle secirt ward von dem Manne, der einst den Kaiser Octavianus schrieb. Seltsam! während tief-einsame Geister über dem heiligen Mythus des Welterlösers und der Welterlösung brüten und forschen; während die wahre Wissenschaft Seite für Seite ihrer »Jahrbücher« dem Unverstand und der Feindschaft und der eingefleischten göttlichen Dummheit abtrotzen muß – während dessen rotten sich die kleinen öden Seelen unsrer neubacknen Schriftsteller-Literatur zusammen und geben Journale heraus für die Emancipationstendenzen und für das Bauchgrimmen. Seltsam! während die wenigen reinen Dichtergeister, die in dem Miasma der Gegenwart noch athmen, blöde und schüchtern sich zurückwenden zu dem einsamen Reichthum des eignen Gemüths – während dessen schreit der lange Hans von vorgestern sein Genie auf dem Markte des Lebens aus, und nicht einmal zu der Genialität vermag er es zu ring en, daß er vor seiner Begeisterung erschrecke.[18]

Sieh da, du reiche Gegenwart, Deine Poeten! Deine Gaukler, sage lieber, denn die deutsche Poesie ist zum Gaukelspiel geworden.

Aber der Gedanke muß siegen, sagte jener stille, große, tiefe Denker, dessen Gebein im Sande des Oranienburger Friedhofs bleicht, neben der Asche seines Bruders Fichte. Der Gedanke muß siegen – und dabei bleiben wir, und in diesem Glauben leben und sterben wir. Wer nicht mit ihm ist, mit dem deutschen Gedanken, der ist freilich wider ihn; aber den Geist zu dämpfen vermag Niemand. Darum ist es wohl traurig zu bedenken, daß die deutsche Dichtung ihr Alles wieder zu erringen hat, aber auch trostreich, zu wissen, daß der Kampf, durch welchen das errungen wird, schon sich zu rüsten beginnt. Die deutsche Poesie wird wiederfinden, was sie verloren: ihre Welt, ihre reiche, volle, schöne, keimende, blühende Erdenwelt, ihre Natur und ihre Gottheit. –

Ich hätte, mein Vor- und Fürwort hier beschließend, nur ein Weniges noch zu sagen über die kleine Dichtung, die ich hiermit der deutschen Liebe und dem deutschen Verständniß übergebe. Hier ist nur Saame, deutscher Leser; keine Blüthe, keine Frucht! das ist unser trübes, aber auch wieder[19] der schönes Loos, Saamen zu streuen, während wir selbst uns schwerlich erlaben werden an Frucht und Blüthe. Der Weg, den der Verfasser dieses kleinen Faustfragments gegangen, es ist wiederum ein dunkler Nachtweg; es ist der Weg nach unten, von welchem schon vor Jahrtausenden Herakleitos zeugte. Von der Natur hebt alles Geistige an; aber die Natur ist auch das Nächtige; das Leben saugt aus ihr seinen Frieden und seine Verzweiflung, seine Seligkeit und seine Verdammniß; aber die Kunst ist es, die zuletzt Alles versöhnt. Hiermit endet die schwache Skizze. Der arme, von der Qual der Erinnerung im Zeugen und Gebären selbst so oft geängstete Dichter aber schlägt an seine Brust, wie jener Zöllner that, und ruft mit Inbrunst: Nicht, daß ich schon ergriffen hätte (o nein, nein!), ich jage ihm aber nach, daß ich's ergreifen möge.


F. Marlow.[20]


Quelle:
Marlow, F. [d.i. Ludwig Hermann Wolfram]: Faust. Ein dramatisches Gedicht in drei Abschnitten, Neu herausgegeben und mit einer biographischen Einleitung versehen von Otto Neurath, II. Teil: Text des Faust, Berlin [1906], S. 11-21.
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