|
[225] Drei Monate später, an einem Dezemberabend, spazierte Graf Muffat in der Passage der Panoramen. Der Abend war sehr milde; ein Regenguß hatte eine Menge Leute in die Passage getrieben. Zwischen den Kaufläden drängte und schob sich die Menge; man kam nur langsam von der[225] Stelle. Die verschiedenen Beleuchtungsmittel, weiße Kugeln, rote Lampen, ganze Reihen von Gasflammen schütteten Tageshelle über die lange Doppelreihe von Auslagen, in denen die Waren der Juweliere, der Zuckerbäcker, Modistinnen usw. ausgebreitet lagen. Weiter ragte ein riesengroßer roter Handschuh in die Luft, der aussah wie eine abgehackte, blutige Hand, durch eine gelbe Manschette festgehalten.
Graf Muffat war langsam bis zum Boulevard hinaufgegangen. Er warf einen Blick auf die Straße und ging dann langsam wieder zurück. Die warme, feuchte Luft hatte in dem engen Durchgang allmählich einen durchsichtigen Dunst entwickelt. Trotz der zahlreichen Menge herrschte eine Stille, in der man auf den von Regenschirmen benetzten Steinplatten die Schritte der Spaziergänger hören konnte. Um den neugierigen Blicken der Menge sich zu entziehen, pflanzte der Graf sich vor einem Papierladen auf und betrachtete mit großer Aufmerksamkeit die dort ausgestellten Waren.
Tatsächlich sah er nichts, er dachte an Nana. Warum hatte sie wieder gelogen? Am Morgen hatte sie ihm geschrieben, er möge sich heute abend nicht zu ihr bemühen; ihr Ludwig sei krank, und sie wolle die Nacht bei ihrer Tante zubringen, um ihren Sohn zu pflegen. Doch er schöpfte Verdacht, erschien in ihrer Wohnung und erfuhr da von der Hausmeisterin, daß Madame ins Theater gefahren sei. Das setzte ihn in Erstaunen, denn sie hatte in dem neuen Stücke, das an diesem Tage gegeben wurde, keine Rolle. Wozu die Lüge, und was konnte sie diesen Abend im Varietétheater zu tun haben?
Der Graf merkte gar nicht, daß ein Vorübergehender ihn weggestoßen hatte und daß er jetzt vor der Auslage eines Galanteriewarenhändlers stand, wo eine bunte Menge von[226] Notizbüchern, Zigarrentaschen u. dgl. ausgebreitet lag, die alle eine blaue Schwalbe in der Ecke trugen. Gewiß: mit Nana war eine Veränderung vor sich gegangen. In der ersten Zeit, nachdem sie vom Lande nach Paris zurückgekehrt war, machte sie ihn schier wahnsinnig mit ihren Liebkosungen und ihren Versicherungen, daß er der einzige Mann sei, den sie anbete. Er fürchtete Georges nicht mehr, der von seiner Mutter in Fondettes zurückgehalten wurde. Es blieb noch der dicke Steiner, den der Graf zu verdrängen dachte, ohne sich über den Gegenstand in Erklärungen einzulassen. Er wußte, daß der Bankier wieder einmal in argen Geldverlegenheiten und nahe daran war, von der Börse ausgestoßen zu werden; er klammerte sich nur noch an die Aktionäre der Landessalinen und hoffte, noch eine letzte Einzahlung durchzusetzen. Als der Graf den Bankier einmal bei Nana traf und diese darüber zur Rede stellte, erwiderte Nana in ernstem Tone, sie könne Steiner nach den großen Ausgaben, die er für sie gemacht, nicht wie einen Hund davonjagen. Übrigens lebte er seit drei Monaten in einem solchen Sinnentaumel, daß er kaum eine andere Empfindung hatte als das Bedürfnis, sie zu besitzen. In dem späten Erwachen seines Fleisches bekundete er eine kindische Gier, die keinen Raum übrig ließ weder für die Eitelkeit noch für die Eifersucht. Ein einziges bestimmtes Gefühl traf ihn hart: Nana war nicht mehr so wie früher, sie küßte ihn nicht mehr auf den Bart. Das beunruhigte ihn. In seiner Unkenntnis der Frauen fragte er sich, was sie ihm vorzuwerfen habe. Er glaubte, alle ihre Wünsche befriedigt zu haben, und immer wieder fiel ihm der Brief vom Morgen ein, dieses Lügengewebe, das keinen andern Zweck hatte, als ihr zum Vorwande für den Besuch des Theaters zu dienen. Ein neuer Menschenstrom hatte ihn inzwischen auf der Passage hinausgeschoben und er stand jetzt vor der Auslage[227] eines Restaurateurs in stummer Betrachtung eines riesigen Rheinlachses versunken.
Endlich schien er sich von diesem Anblick losreißen zu wollen. Er blickte auf und sah, daß es nahezu neun Uhr sei. Jetzt mußte Nana bald das Theater verlassen, und er würde die Wahrheit erfahren. Er setzte seinen Weg fort und erinnerte sich der Abende, die er an diesem Orte schon zugebracht, und an denen er gekommen war, um sie nach dem Theater abzuholen. Alle Kaufläden waren ihm schon bekannt; er erkannte sie nacheinander an dem Geruch des Juchtenleders, der Vanille, der Pomaden usw. Er wagte es nicht, vor den Zahltischen der Geschäfte stehen zu bleiben, deren Damen ihn, als eine bekannte Figur, ruhig ansahen. Einen Augenblick schien er die lange Reihe von kleinen runden Fenstern oberhalb der Türen der Kaufläden studieren zu wollen, als ob er sie jetzt zum ersten Male unter dem Gewirre der Firmentafeln entdecke. Dann kehrte er wieder bis zum Boulevard zurück und blieb eine Minute stehen. Der Regen floß jetzt in Form eines feinen Staubes herab, dessen Kälte ihm Gesicht und Hände erfrischte. Er dachte jetzt an seine Gattin, die sich zur Zeit auf einem Schlosse bei Macon befand, um Madame de Chezelles zu besuchen, die seit dem Herbste kränkelte. Der Landaufenthalt mußte jetzt abscheulich sein bei diesem regnerischen, schmutzigen Wetter. Plötzlich erfaßte ihn die Unruhe wieder. Er eilte zurück aus Furcht, daß Nana ihm durch die Galerie des Montmartre entkommen könnte.
Jetzt stellte er sich vor der Theatertür auf die Lauer. Nur ungern wartete er an diesem Ende des Ganges, wo er erkannt zu werden fürchtete. Es war dies an der Ecke der Galerie der Variétés und der Galerie Saint-Marc, ein häßlicher Winkel mit dunklen Buden, eine Schusterei ohne Kundschaft, Niederlagen von staubigen Möbeln, ein rauchgeschwärztes,[228] schläfriges Lesekabinett, dessen Lampen unter ihren Schirmen ein grünliches Licht verbreiteten. An diesem verdächtigen Orte sah man stets nur elegant gekleidete Herren, die geduldig vor diesem Theaterzugang warteten, bei dem betrunkene Theaterdiener und schlampige Statistinnen aus und ein gingen. Eine einzige schwache Gasflamme warf ihr Licht auf die Theatertür. Der Graf hatte einen Augenblick den Gedanken, Madame Bron zu befragen, doch hielt ihn wieder die Furcht davon ab, daß Nana durch die Hausmeisterin von seiner Anwesenheit benachrichtigt, ihm über den Boulevard entschlüpfen könne. Er nahm seinen Gang wieder auf und war gefaßt darauf, daß man ihn hinausweisen werde, um das Gitter zu schließen, wie es ihm schon zweimal geschehen war. Der Gedanke, allein zu Bett gehen zu müssen, schnürte ihm die Brust zu. Jedesmal, wenn Mädchen in bloßem Haar oder Männer in schmutziger Wäsche herauskamen und ihn betrachteten, blieb er vor der Türe des Lesekabinetts stehen und schaute hinein. Drinnen saß an einem langen Tische ein einziger Leser, ein altes, grünes Männchen, das eine grüne Zeitung in den grünen Händen hielt. Einige Minuten vor zehn Uhr erschien noch jemand: ein großer, blonder Mann in eleganter Kleidung, er ging gleichfalls vor der Theaterpforte auf und ab. Bei jeder Begegnung blickten die Herren einander mißtrauisch an. Der Graf ging bis ans Ende der Galerie, wo ein hoher Spiegel in die Wand eingelassen war, und als er sich in dem Spiegel erblickte, ergriff ihn ein Gefühl, gemengt aus Scham und Furcht.
Es schlug zehn Uhr. Es fiel plötzlich Muffat ein, daß er sich ja leicht überzeugen könne, ob Nana in ihrer Loge sei. Er stieg die drei Stufen des Theaters empor, durchschritt rasch den gelb getünschten Vorraum und schlich sich dann in den Hof.[229]
Um diese Stunde schwamm dieser Hof, feucht und schmal wie ein Brunnen, mit seinen verpesteten Aborten, seinem Brunnen und dem Kochherde der Hausmeisterin in einer schwarzen Dunstwolke. Die beiden hohen Mauern waren durch die Fenster beleuchtet, die auf den Hof gingen. Unten befand sich das Requisitenmagazin und der Feuerwehrposten, links lag die Kanzlei, rechts im Stockwerk befanden sich die Logen der Künstler. Der Graf hatte sofort bemerkt, daß die Fenster der Loge Nanas beleuchtet waren; er war getröstet, glücklich und stand, in die Höhe starrend, selbstvergessen in dem Moraste des Hofes und in dem abscheulichen Gestank, der in diesem rückwärtigen Teil eines alten Pariser Hauses herrschte. Aus einer geborstenen Dachtraufe fielen schwere Tropfen nieder. Aus der Loge der Madame Bron fiel ein Strahl des Gaslichtes schräg herab und beleuchtete einen schmutzigen Winkel des Hofes, wo allerlei Gerümpel und altes Scherbenwerk angehäuft war. Jetzt wurde irgendwo eine Tür kreischend geöffnet und der Graf entfloh von diesem Orte.
Nana mußte bald kommen. Graf Muffat kehrte in die Passage zurück. Er dehnte jetzt seinen Spaziergang weiter aus, durchschritt die große Galerie und folgte der Galerie der Variétés bis zur Galerie Faydeau, die um diese Stunde kalt, öde und düster dalag. Er kam denselben Weg wieder zurück am Theater vorbei, ging um die Ecke der Galerie Saint-Marc und kam bis zur Galerie des Montmartre, wo eine Zuckersägemaschine, die bei einem Gewürzkrämer in Tätigkeit war, seine Aufmerksamkeit fesselte. Bei dem dritten Rundgang aber ließ ihn die Furcht, daß Nana ihm entrinnen könne, alle menschliche Würde vergessen. Er nahm, gleich dem erwähnten blonden Herrn, vor dem Theater Stellung, wobei die beiden einen Blick wohlwollender Freundlichkeit, aber doch nicht völlig frei von Argwohn, wechselten. Im[230] Zwischenakte wurden sie von Maschinisten, die herausgekommen waren, um rasch ein Pfeifchen zu rauchen, hin und her gestoßen: sie schienen es nicht zu merken. Drei nachlässig frisierte Mädchen in schmutziger Kleidung erschienen auf der Schwelle und aßen Äpfel, wobei sie die Kerne ausspuckten. Die beiden Herren sahen zu Boden und ließen sich die schamlosen Scherze dieser Dirnen gefallen, die schließlich die Frechheit hatten, einander auf die Herren zu stoßen.
Jetzt stieg Nana die drei Stufen herab. Sie erbleichte, als sie Muffat bemerkte.
Sie sind's? stammelte sie. Bitte, reichen Sie mir den Arm.
Sie entfernten sich langsam. Der Graf, der allerlei Fragen vorbereitet hatte, fand jetzt kein Wort. Sie dagegen war sehr gesprächig und erzählte ihm mit großer Zungenfertigkeit, sie sei noch um acht Uhr bei ihrer Tante gewesen, dann aber, als sie sah, daß es Ludwig besser gehe, auf ein Stündchen ins Theater gegangen.
Gewiß aus einem wichtigen Grunde? fragte der Graf.
Ja, entgegnete sie nach einigem Zögern. Man führt ein neues Stück auf und wollte mein Urteil darüber hören.
Er merkte, daß sie log; aber als er ihren warmen Arm an dem seinigen fühlte, schwand ihm alle Kraft und Selbständigkeit. Er vergaß die Pein des langen Wartens und dachte nur daran, sie zu behalten, jetzt, da er sie hatte. Er hatte ja Zeit, am folgenden Tage zu erfahren, was sie in ihrer Loge zu tun hatte. Nana, sichtlich die Beute innerer Kämpfe, blieb an der Ecke der Galerie der Variétés vor dem Schaufenster eines Fächerhändlers stehen.
Ist das reizend! rief sie, auf eine Elfenbeingarnitur zeigend.
Dann fuhr sie in gleichgültigem Tone fort:[231] Also, du begleitest mich nach Hause?
Gewiß, sagte er, dein Kind findet sich besser.
Sie sprach davon, daß der Knabe möglicherweise noch einen Anfall bekomme, und daß sie nach Batignolles zurückkehren möge; doch ließ sie davon wieder ab, als sie sah, daß der Graf sich anheischig machte, sie zu begleiten. Einen Augenblick wurde sie von der inneren Wut der Frau ergriffen, die sich in der Klemme sieht; doch faßte sie sich und dachte nur daran, Zeit zu gewinnen. Wenn sie bis Mitternacht sich seiner entledigt hatte, konnte noch alles nach Wunsch gehen.
Du bist frei heute, bemerkte sie, deine Frau kehrt erst morgen zurück?
Ja, erwiderte der Graf, einigermaßen verwirrt durch den vertraulichen Ton, in dem Nana von der Gräfin sprach.
Sie fragte, um wieviel Uhr die Gräfin eintreffen werde? Der Zweck dieser Frage war zu erfahren, ob er nicht die Gräfin vom Bahnhofe abzuholen gedenke. Dann verlangsamte sie ihre Schritte und schien sich für die Kaufläden sehr zu interessieren.
Schau, das schöne Armband, rief sie vor einem Juwelengeschäft.
Sie liebte es, durch diese Passage der Panoramen zu gehen. Diese Schwärmerei für das schillernde Geschmeide und die Galanterieartikel hatte sie aus ihren Jugendjahren behalten. Wenn sie vorüberkam, konnte sie sich von den Schaufenstern nicht trennen, ganz wie zu jener Zeit, als sie noch in ihren Kinderschuhen umherlief; sie vergaß sich vor den Süßigkeiten eines Schokoladehändlers, lauschte den Klängen einer Spieluhr in einem benachbarten Laden und wurde besonders durch den aufdringlichen Geschmack des wohlfeilen Tandes der Nähzeuge in Nußschalen angezogen, der Zahnstocherbehälter, der winzigen Nachahmungen der[232] Vendômesäule und der Obelisken, die als Thermometerständer dienten. Heute abend jedoch schaute sie nur, ohne zu sehen; sie war zerstreut und verdrießlich. Es ärgerte sie, daß sie nicht frei war, und es kam ihr der Gedanke, irgendeinen dummen Streich zu begehen. Was hatte sie davon, daß reiche Verehrer ihr zu Füßen lagen? Sie ruinierte den Bankier und den Prinzen durch kindische Launen, ohne zu wissen, wohin das Geld kam.
Ihre Wohnung am Boulevard Haußmann war noch immer nicht vollständig möbliert. Bloß der Salon, ganz in rotem Satin, fiel durch die Überladung und Fülle an Möbeln auf.
Gerade jetzt wurde sie von ihren Gläubigern mehr als je gepeinigt. Seit einem Monate mußte sie diesem diebischen Steiner mit dem Hinauswerfen drohen, wenn sie tausend Franken von ihm haben wollte. Er schien völlig auf dem trocknen zu sitzen. Muffat wieder war in diesen Dingen ohne jede Erfahrung; er wußte nicht, wieviel man zu geben habe, und Nana konnte ihm wegen seines Geizes nicht zürnen. Ach, wie würde sie alle diese Leute an die Luft gesetzt haben, wenn sie sich nicht zwanzigmal täglich Grundsätze einer guten Aufführung wiederholt hätte! Es galt vernünftig sein; Zoé sagte es jeden Morgen, und sie selbst hatte stets eine fromme Erinnerung gegenwärtig, das herrliche Bild von Schloß Chamont. Deshalb verhielt sie sich, trotz ihrer inneren Wut ganz untertänig am Arme des Grafen, während sie von Schaufenster zu Schaufenster schritten. Draußen trocknete schon das Pflaster; ein frischer, lauer Wind strich unter der glasgedeckten Galerie hindurch und brachte die farbigen Lichter, die Gasflammen, den brennenden Riesenhandschuh, der einem Stück aus einem Feuerwerke glich, zu hellerem Leuchten. Vor der Türe des Restaurants löschte ein Kellner die Lichter aus, während in[233] den hell erleuchteten, aber leeren Läden Mädchen an ihren Zahlpulten mit offenen Augen zu schlafen schienen.
Sie verließen langsam die Passage; Nana wollte zu Fuß gehen; das tue ihr gut, meinte sie; auch habe sie keine Eile. Vor dem Englischen Kaffee bekam sie Lust, Austern zu essen; sie habe, sagte sie, seit dem Morgen nichts gegessen; weil Ludwig krank sei. Muffat wagte nicht, ihr zu widersprechen. Aber da er sein Verhältnis zu ihr nicht offenkundig machen wollte, verlangte er ein Kabinett und eilte rasch durch den Gang, um dorthin zu gelangen; sie folgte ihm langsam mit der Miene einer Frau, die die Örtlichkeit genau kennt. In dem Augenblicke, als sie eintreten wollten, wurde die Tür des anstoßenden Kabinetts, aus dem lauter Jubel und Gelächter hörbar wurde, plötzlich geöffnet, und Daguenet trat heraus.
Schau. Nana ...
Der Graf huschte rasch ins Kabinett, dessen Tür angelehnt blieb. Daguenet blinzelte mit den Augen und bemerkte zu Nana:
Du machst Fortschritte, meine Liebe; wie es scheint, holst du dir die Herren aus den Tuilerien.
Nana lächelte und legte den Finger an die Lippen.
Wie geht es dir? fragte sie ihn dann freundschaftlich.
Ich werde vernünftig und trage mich mit Heiratsgedanken.
Sie zuckte mitleidig die Achseln. Er blieb jedoch bei diesem Thema und meinte, er sei dieses Leben satt, bei dem er auf der Börse just soviel gewinne, um hier und da einem Mädchen einen Strauß kaufen zu können. Er wolle ehrbar werden, eine reiche Ehe eingehen und als Präfekt enden wie sein Vater.
Nana lächelte noch immer ungläubig. Sie zeigte nach dem Kabinett, aus dem Daguenet gekommen war und fragte:[234]
Mit wem bist du da?
Oh, eine ganze Bande, sagte er. Denke dir, Lea erzählte ihre ägyptischen Reiseabenteuer. Es ist höchst drollig. Unter andern eine Badegeschichte ...
Er erzählte die Badegeschichte, die Nana wohlgefällig anhörte. Sie standen einander gegenüber, an die Wand gelehnt. Von der niedrigen Decke hingen Gaslaternenarme herab; ein wüster Speisengeruch erfüllte den Gang. Von Zeit zu Zeit, wenn das Geräusch in dem Kabinett gar zu laut wurde, neigten sie sich vor, um einander besser zu hören. Jeden Augenblick wurden sie durch Speisen tragende Kellner gestört; das kümmerte sie aber nicht; sie setzten ruhig ihr Gespräch fort, als ob sie zu Hause wären.
Schau einmal, sagte Daguenet, indem er auf die Tür des Kabinetts wies, in dem Muffat sich befand.
Beide blickten hin. Die Tür schwankte kaum merklich, als ob ein Hauch sie bewegen würde, dann wurde sie sehr langsam und völlig geräuschlos zugemacht. Sie tauschten ein stummes Lächeln.
Beiläufig, fragte Nana, hast du den Artikel gelesen, den Fauchery über mich geschrieben?
Ja, »die goldene Fliege,« entgegnete Daguenet; ich wollte dir nichts davon sagen, um dir keinen Kummer zu verursachen.
Kummer, weshalb denn? Der Artikel ist sehr lang.
Es schmeichelte ihr, daß man sich am »Figaro« mit ihr beschäftigte. Ohne die Erläuterungen ihres Friseurs Francis, der ihr das Blatt gebracht, hätte sie gar nicht gewußt, daß es sich in dem Artikel um ihre Person handle.
Erlauben ... schrie ein Kellner, indem er eine Schüssel Gefrornes tragend, sich zwischen beiden hindurchdrängte.
Nana wandte sich dem kleinen Salon zu, in dem Graf Muffat wartete.[235]
Lebe wohl, sagte Daguenet; geh- zu deinem Hahnrei hinein.
Sie blieb stehen und fragte:
Warum nennst du ihn einen Hahnrei?
Weil er es ist.
Ach! sagte sie höchlich erstaunt, indem sie sich wieder an die Wand lehnte.
Wie, du wußtest das nicht? Seine Frau hält es mit Fauchery ... Das Verhältnis muß schon in Fondettes begonnen haben. Ich habe vorhin Fauchery getroffen; ich vermute, daß er zu einem Stelldichein mit der Gräfin eilte, die heute irgendeine Reise vorgeschützt hat.
Nana stand stumm und bewegt da.
Ich dachte mir's, sagte sie endlich und schlug sich auf die Schenkel. Ich sah sie nur flüchtig neulich bei La Mignotte und wußte genug. Ist es möglich, daß eine ehrbare Frau ihren Gatten betrügt? Und obendrein mit diesem Schwein Fauchery ... Sie wird saubere Dinge von ihm lernen ...
Ach, es wird nicht ihr erster Versuch sein, meinte Daguenet boshaft. Sie wird von ihm nichts mehr zu lernen haben.
Sie stieß einen Ruf der Entrüstung aus.
Wahrhaftig, eine saubere Gesellschaft, meinte sie.
Erlauben ... rief ein Kellner, der mit Flaschen beladen, die beiden trennte.
Leb wohl, mein Püppchen, rief Daguenet ihr jetzt zum Abschied zu. Du weißt, ich bete dich noch immer an.
Schafskopf, zwischen uns beiden ist's aus, entgegnete sie lachend, aber das tut nichts, zeig' dich einmal bei mir; wir wollen ein wenig plaudern.
Dann fügte sie leise und nachdenklich hinzu:
Also ein Hahnrei? Das ist dumm. Ein Hahnrei hat mich immer angeekelt.[236]
Als sie endlich in das Kabinett eintrat, sah sie den Grafen geduldig auf einem schmalen Diwan sitzen. Er machte ihr keinen Vorwurf; sie empfand bei seinem Anblick Mitleid und Verachtung zugleich. Sie hatte Lust, diesem bedauernswerten Mann, den ein abscheuliches Weib in so unwürdiger Weise betrog, um den Hals zu fallen und ihn zu trösten. Sie aß rasch ihre Austern und ließ ihn dann in ihre Wohnung mitgehen. Es war elf Uhr; bis Mitternacht mußte sie ein Mittel finden, sich seiner zu entledigen. Im Vorzimmer erteilte sie Zoé ihre Befehle.
Wenn der andere kommt und dieser noch bei mir ist, wirst du ihn bitten, sich hübsch still zu verhalten.
Aber wo soll ich ihn hintun?
In die Küche, das ist das sicherste.
Muffat hatte inzwischen seinen Überrock abgelegt. Im Kamin brannte ein helles Feuer. Es war das gleiche Zimmer mit den Möbeln aus Palisanderholz, Vorhänge und Sesselüberzüge von gesticktem Damast, große, blaue Blumen auf grauem Grunde. Nana hatte wiederholt die Absicht, den Damast durch schwarzen Samt zu ersetzen, aber sooft auch Steiner das Geld dazu hergab, stets hatte sie andere Verwendung dafür. Neu war bloß ein Tigerfell, das vor dem Kamin lag und eine Kristallampe, die von der Decke herabhing.
Ich gehe nicht zu Bett, denn ich bin nicht schläfrig, sagte sie, den Riegel vorschiebend.
Wie du willst, erwiderte der Graf in unterwürfigem Tone.
Es gehörte zu Nanas Lieblingszeitvertreib, sich vor dem Stehspiegel, der ihre ganze Figur zeigte, völlig nackt zu entkleiden und sich lange zu betrachten. Sie konnte viele Stunden in dem stillen Entzücken über ihren herrlichen Leib, ihre samtweiche Haut und die Wellenlinien der Taille[237] zubringen. Oft traf der Friseur sie in dieser Stellung, ohne daß sie auch nur den Kopf wandte. Wenn Graf Muffat sich darüber ärgerte, tat sie überrascht und meinte, sie tue dies für sich selbst und nicht für andere.
Heute zündete sie, um besser zu sehen, noch sechs Kerzen an. Im Begriff, das Hemd zu Boden gleiten zu lassen, hielt sie an sich und fragte:
Hast du den Artikel im Figaro gelesen? Das Blatt liegt auf dem Tisch. Man sagt, es sei von mir die Rede; was denkst du darüber?
Sie ließ das Hemd fallen und blieb nackt, bis der Graf den Artikel zu Ende gelesen hatte. Muffat las langsam. Der Artikel, betitelt: »Die goldene Fliege«, erzählte die Geschichte eines Mädchens, das von vier Säufergenerationen abstammt, dessen Blut durch das lange Erbe von Elend und Trunksucht vergiftet ist. Sie ist in irgendeiner Vorstadt dem Pariser Pflaster entsprossen. Groß, schön und verführerisch wie eine Düngerpflanze, rächt sie die Bettler und Verlassenen, von denen sie herstammt. Der Schmutz, den man bisher in dem Volke hatte gären lassen, stieg mit ihr in die Aristokratie auf, um diese zu verpesten. Ohne es zu wollen, war sie eine Naturkraft, ein Gärmittel der Zerstörung geworden; ganz Paris verdarb und verunreinigte sie zwischen ihren schneeigen Schenkeln.
Am Schlusse des Artikels wurde sie mit einer Fliege verglichen, mit einer goldschimmernden Fliege, die im Schmutz gedeiht, die von den Aasen am Rande der Straße das Leichengift holt, um dann summend und in allen Farben schillernd in die Paläste der Reichen durch die Fenster einzudringen und die Männer zu vergiften.
Muffat erhob den Kopf und blickte starr ins Feuer.
Nun? fragte Nana.
Er antwortete nicht. Er schien den Artikel noch einmal[238] lesen zu wollen. Ein Gefühl der Kälte lief ihm vom Kopf über die Schultern. Der Artikel war voll übertriebener Redewendungen und wunderlicher Ausdrücke. Dennoch war der Graf von der Lektüre dieses Artikels gepackt, der alles das plötzlich in ihm erweckte, wovon er seit einigen Monaten nicht sprechen wollte.
Er blickte empor. Nana war wieder in die Bewunderung ihres Leibes versunken. Sie wandte den Nacken, um im Spiegel ein kleines braunes Mal aufmerksam zu betrachten, das sie oberhalb der rechten Hüfte hatte; sie berührte es wohlgefällig mit der Fingerspitze. Dann betrachtete sie andere Teile ihres Körpers mit der lasterhaften Neugierde eines Kindes. Dies hatte für sie immer etwas Überraschendes: sie machte die erstaunte Miene eines jungen Mädchens, das seine Reife entdeckt. Sie streckte langsam ihre Arme aus, um den kräftigen Venusrumpf frei hervortreten zu lassen; sie bog die Taille, um sich von vorn und von rückwärts zu beschauen, verweilte länger beim Anblick ihrer runden Brüste, ihrer vollen, schön gebauten Schenkel. Sie schloß damit, daß sie gleich einer tanzenden Almeh sich in den Hüften wiegte.
Muffat beobachtete sie. Sie flößte ihm Furcht ein. Das Zeitungsblatt war seinen Händen entfallen. In diesem Augenblick, da er so klar sah, mußte er sich selbst verachten. In drei Monaten hatte sie sein Leben vergiftet; er fühlte sich verdorben bis in das Mark seiner Knochen durch Unflätigkeiten, die er nie geahnt hatte. Er sah im Geiste sein Familienleben zerstört, eine ganze gesellschaftliche Stellung in Trümmern ... Dennoch vermochte er die Augen von ihr nicht abzuwenden ... Er zog sich voll mit dem Ekel über ihre Nacktheit ... Nana rührte sich nicht. Einen Arm hinter den Nacken legend und die Hände zusammenschließend lehnte sie das Haupt zurück, während sie die Ellbogen[239] auseinanderstreckte. Er sah so gleichsam nur den Abriß ihrer halbgeschlossenen Augen, ihres halboffenen Mundes, ihres in ein verliebtes Lächeln getauchten Gesichtes, das reiche gelbe Haar, das über ihren Rücken hinabfloß, glich dem Haar einer Löwin. Wie sie zurückgebeugt und mit gespanntem Körper dastand, zeigte sie die kräftigen Lenden und die harte Brust einer Kriegerin, mit starken Muskeln unter der samtweichen Haut. Eine feine Linie, kaum gewellt durch die Schulter und die Hüfte, zog sich vom Ellbogen bis zum Fuße. Muffat folgte diesem zarten Profil, dieser Flucht des blonden Fleisches, das sich in einem goldigen Schimmer badete, diesen Rundungen, über die das Licht einen Widerschein von Seide ausgoß. Er dachte an seinen ehemaligen Abscheu gegen das Weib, an das lüsterne, nach dem wilden Tiere riechende Ungeheuer, von dem die heilige Schrift erzählt. Nana war mit feinen Härchen bedeckt; ein rötlicher Flaum machte ihre Haut zu Samt, während in ihrem Kreuz und ihren Schenkeln eines edlen Rosses, in den fleischigen Anschwellungen mit den tiefen Falten, die dem Geschlecht den sinnverwirrenden Schleier ihres Schattens liehen, etwas Tierisches lag. Es war das goldene Tier, unbewußt wie eine Macht, dessen Geruch allein die Welt verdarb. Muffat schaute noch immer festgebannt, verzaubert, daß, als er die Augen geschlossen hatte, um nicht zu sehen, das Tier aus dem Dunkel wieder auftauchte, größer, furchtbarer, seine Stellung noch übertreibend. Jetzt wird es immer vor seinen Augen, in seinem Fleische bleiben.
Da hockte sich Nana hin. Ein Liebesschauer schien durch ihre Glieder gefahren zu sein. Mit feuchten Augen duckte sie sich zusammen, wie um sich besser zu spüren. Dann tat sie die Hände auseinander und ließ sie bis zu den Brüsten niedergleiten, die sie mit einem nervösen Druck plattpreßte. Und sich aufrichtend, gleichsam in einer Liebkosung ihres[240] ganzen Körpers aufgehend, rieb sie ihre Wangen rechts und links an ihre Schultern. Ihr lüsterner Mund blies das Begehren über ihren Leib. Sie spitzte die Lippen und küßte ihre Arme in der Gegend der Achselhöhle und lachte dabei über die andere Nana, die sich im Spiegel küßte.
Muffat seufzte lang und tief. Dieses einsame Vergnügen erbitterte ihn. Die Leidenschaft brach mit Sturmesgewalt in ihm los. In einer Aufwallung von Brutalität faßte er Nana um den Leib und schleuderte sie auf den Teppich.
Laß mich, sagte sie, du tust mir weh. Das ist grob.
Er hatte das Bewußtsein seiner Niederlage; er wußte, daß sie dumm, gemein und verlogen war und er verlangte dennoch nach ihr, selbst wenn sie eitel Gift wäre.
Oh, das ist blöd! rief sie wütend, als er sie endlich aufhob.
Allmählich besänftigte sie sich wieder. Jetzt werde er vielleicht gehen, dachte sie.
Sie legte ein mit Spitzen besetztes Nachthemd an und setzte sich vor dem Feuer auf den Boden nieder. Das war ihr Lieblingsplätzchen. Da sie ihn wieder über den Artikel Faucherys befragte, antwortete Muffat ausweichend, weil er eine Szene vermeiden wollte. Sie erklärte übrigens, sie pfeife auf Fauchery. Dann wurde sie wieder still. Sie sann über ein Mittel, den Grafen fortzuschicken. Sie hätte eine freundliche Art gewünscht, denn sie blieb im Grunde gutmütig und betrübte die Menschen nicht gern; ihn um so weniger, als er ein Hahnrei war, was sie mitleidig stimmte.
Also morgen erwartest du deine Frau? fragte sie.
Muffat, der erschöpft in einen Sessel zurückgesunken war, nickte bejahend. Nana beobachtete ihn ernst; dabei hielt sie einen ihrer nackten Füße in den Händen und drehte ihn mechanisch hin und her.
Bist du schon lange verheiratet? fragte sie dann.[241]
Neunzehn Jahre, erwiderte der Graf.
Und wie ist deine Frau? Ist sie liebenswürdig? Lebt ihr gut miteinander?
Er schwieg eine Weile, dann sagte er verlegen:
Ich habe dich gebeten, niemals von diesen Dingen zu reden.
Warum denn nicht? sagte sie spitz. Ich werde deine Frau nicht fressen ... Mein Lieber, alle Frauen sind gleichwertig ...
Sie hielt inne aus Furcht, zu weit gegangen zu sein. Aber sie nahm eine überlegene Miene an, weil sie sich zu gut dünkte. Diesen armen Mann mußte sie schonen. Übrigens war ihr ein heiterer Gedanke gekommen. Sie betrachtete ihn lächelnd.
Dann fuhr sie nach einer Weile fort:
Ich habe dir noch nichts von den Geschichten erzählt, die Fauchery über dich in Umlauf bringt. Ist das eine Schlange ... Ich bin Fauchery nicht böse, da sein Artikel möglich ist; aber eine Viper bleibt er doch.
Indem sie ihren Fuß losließ, rutschte sie lachend zu ihm hin, lehnte die Brust an seine Knie und sagte:
Denke dir: er schwört, daß du deine Unschuld noch hattest, als du deine Frau heiratetest ... Ist das wahr?
Sie fixierte ihn scharf, legte ihre Hände auf seine Schulter und schüttelte ihn, um ihn zu diesem Geständnis zu bringen.
Tatsächlich, sagte er endlich in ernstem Tone.
Da ließ sie sich wieder auf den Teppich nieder und wand sich vor Lachen.
Das ist unbezahlbar! rief sie; du bist einzig ... Ein Wunder ... Mein armes Hündchen, da mußt du ja eine sehr alberne Figur gespielt haben ... Es gibt nichts Drolligeres, als wenn ein Mann nicht weiß, wie ... Oh, da wäre[242] ich gern dabei gewesen! ... Und ist's glücklich vonstatten gegangen? Erzähl' mir doch einmal, bitte ...
Sie überhäufte ihn mit Fragen, die sich auf alle Einzelheiten erstreckten. Und das amüsierte sie dermaßen, wie sie da saß, den entblößten Oberkörper vom Scheine des Kaminfeuers vergoldet, daß der Graf ihr allmählich seine Brautnacht erzählte. Schließlich schien er selbst daran Gefallen zu finden, zu berichten, »wie er seine Junggesellenschaft verloren«. Nur wählte er in einem Rest von Scham feine Ausdrücke. Auf die Erkundigungen Nanas nach seiner Frau, erwiderte er, die Gräfin sei vorzüglich gebaut, aber kalt wie ein Eiszapfen.
Du hast keine Ursache zur Eifersucht, schloß er feige.
Nana hatte aufgehört zu lachen. Sie hatte ihren Platz vor dem Kamin wieder eingenommen und saß da, das Kinn auf die Knie gestützt.
Endlich bemerkte sie ernsten Tones:
Mein Lieber, es ist nicht gut, wenn der Mann in der ersten Nacht vor seiner Frau eine so unbeholfene Figur macht.
Warum? fragte der Graf überrascht.
Weil ... Die Frauen lieben diese Art nicht ... Sie sagen wohl nichts ... aus Schamhaftigkeit ... du wirst es begreifen ... Aber sei versichert: sie denken lange Zeit daran, und früher oder später entschädigen sie sich anderwärts.
Muffat schien nicht zu begreifen. Sie gab ihm daher nähere Erläuterungen. Seitdem sie wußte, daß er ein Hahnrei sei, wurde sie von diesem Geheimnis geplagt.
Mein Gott, sagte sie endlich, wir reden da von Dingen, die mich eigentlich nichts angehen ... Ich möchte eben gern jeden glücklich sehen ... Wir plaudern ja nur ... Du wirst mir offen antworten, nicht wahr?
Sie unterbrach sich, um ihre Lage zu ändern.[243]
Es ist ordentlich warm hier, wie? Ich habe schon den Rücken gebraten ... Warte, ich will mir nun auch den Bauch braten ... das ist gut gegen Leibschmerzen ...
Sie wandte nun die Brust dem Feuer zu, zog die Beine unter die Schenkel und fuhr fort:
Laß hören: Du hast keinen intimen Umgang mehr mit deiner Frau?
Nein, ich schwöre es dir, sagte Muffat, der eine Szene befürchtete.
Und du hältst sie für unempfindlich wie ein Stück Holz?
Er nickte bejahend.
Und deshalb liebst du mich? fragte sie weiter. Antworte frei, ich werde nicht böse.
Er nickte mit dem Kopf.
Gut, schloß sie. Ich dachte mir's gleich ... Ach, mein armes Hündchen ... Kennst du meine Tante Lerat? Wenn sie kommt, laß dir von ihr die Geschichte des Obsthändlers erzählen, der ihr gegenüber wohnt. Denke dir, dieser Obsthändler ... Herrgott, ist es hier warm! Ich muß mich wieder umwenden. Jetzt will ich mir die rechte Seite braten.
Sie wandte nun die rechte Hüfte dem Feuer zu und lachte, als sie sich so fett und rosig sah.
Ich sehe wie eine Gans aus! rief sie heiter; wie eine Gans am Spieße. Ich drehe und drehe mich und brate im eigenen Fett ...
In diesem Augenblick wurde draußen ein Geräusch von Stimmen, von auf- und zuschlagenden Türen hörbar.
Muffat blickte erstaunt auf Nana. Sie machte eine besorgte Miene, meinte aber, es sei gewiß Zoés Katze, ein verteufeltes Tier, das alles im Hause zerschlage.
Es schlug halb eins. Der andere war schon da, wie werde sie den Hahnrei los?[244]
Was sagtest du vorhin? fragte der Graf, entzückt über Nanas zutunliches Wesen.
Doch Nana verfiel jetzt in einen schroffen Ton; sie mußte ihn wegschicken und beobachtete keinerlei Rücksicht mehr.
Ach ja, der Obsthändler und seine Frau ... Nun, mein Lieber, die beiden haben einander nie berührt. Sie war begreiflicherweise wütend darüber, er aber blieb ungeschickt und wußte nicht, wie es machen. Schließlich, da er glaubte, sie sei von Holz, hat er andere Wege aufgesucht und sich mit Dirnen abgegeben, bei denen er dann eine saubere Schule hatte, während sie sich mit jungen Leuten tröstete, die geschickter waren als ihr Mann. Und das geht immer so, wenn ein Ehepaar sich nicht verständigt.
Muffat erbleichte; er begriff endlich die Anspielungen und wollte Nana zum Schweigen bringen, doch diese war nun im Zuge.
Nein, laß mich in Ruhe. Wenn ihr nicht dumm wäret, so müßtet ihr euch bei euren Frauen gerade so benehmen wie bei uns; und wenn eure Frauen nicht alberne Dinger wären, würden sie sich ebensoviele Mühe geben, euch an sich zu fesseln wie wir, um euch an uns zu ziehen. All das ist nur Ziererei. Das wollte ich dir sagen; du kannst es einstecken.
Rede nicht von den anständigen Frauen, sagte er hart; du kennst sie ja nicht.
Nana richtete sich plötzlich auf den Knien auf.
Ich kenne sie nicht? rief sie ... Sie sind ja nicht einmal rein, eure braven Frauen; sie sind nicht rein. Ich wette, daß nicht eine einzige es wagt, sich so zu zeigen, wie ich da jetzt bin. Geh, du machst mich lachen mit deinen ehrbaren Frauen. Treibe mich nicht zum äußersten und zwinge mich nicht, Dinge zu sagen, die ich später bereuen könnte.[245]
Statt aller Antwort murmelte der Graf einen Fluch. Nana erbleichte. Sie betrachtete ihn einige Augenblicke stillschweigend. Dann fragte sie mit ihrer klaren Stimme:
Was tätest du, wenn deine Frau dich betrügen würde?
Er machte eine drohende Gebärde.
Und wenn ich dich betrügen würde?
Ach, du ..., sagte er achselzuckend.
Nana war im Grunde nicht bösartig. Sie widerstand von Anbeginn dem Verlangen, ihm seine Hahnreischaft an den Kopf zu schleudern. Sie hatte es vorgezogen, ihn ruhig darüber auszufragen. Allein sein Benehmen erzürnte sie. Sie wollte ein Ende machen.
Dann, mein Lieber, weiß ich nicht, was du bei mir suchst, warum du seit zwei Stunden mich langweilst? Geh' und such' deine Frau auf, die es mit Fauchery hält ... Jawohl, und gerade jetzt auch. Du kannst die Adresse haben; Rue Taitbout, Ecke der Provence-Straße.
Muffat sprang empor wie ein Ochse, den die Hacke des Metzgers an die Stirn getroffen.
Sie aber fügte in triumphierendem Tone hinzu:
Was sollen wir von den ehrbaren Frauen halten, die uns unsere Liebhaber wegkapern?
Sie konnte nicht fortfahren, denn er hatte sie mit furchtbarer Wut der ganzen Länge nach zu Boden geschleudert und erhob den Fuß, wie um ihren Kopf zu zertreten. Sie zitterte in furchtbarer Angst. Er rannte wie ein Wahnsinniger im Zimmer umher. Ein furchtbarer Kampf tobte in ihm. Nana wurde von diesem Anblicke zu Tränen gerührt. Sie bereute tief, was sie getan. Sie wandte jetzt dem Feuer ihre andere Seite zu und begann, ihn zu trösten.
Ich glaubte, du wüßtest es. Sonst hätte ich geschwiegen. Vielleicht ist es auch nicht wahr. Ich beschwöre es nicht. Man spricht davon, aber was beweist das? Es ist nicht[246] recht von dir, daß du darüber so bekümmert bist ... Wäre ich ein Mann, ich würde mich um die Weiber nicht grämen ... Die Frauen sind alle schlecht; die hohen wie die niedrigen.
Sie schimpfte auf alle Frauen, um den Streich zu mildern, den sie gegen ihn geführt. Doch er hörte sie nicht mehr: er zog in aller Hast Schuhe und Überrock wieder an, rannte noch eine Weile im Zimmer umher und ging. Nana blieb, ziemlich verdrossen, allein.
Glückliche Reise, rief sie dem Davoneilenden nach. Der ist aber wenig höflich, wenn man mit ihm spricht ... Und da habe ich mich noch bemüht, ihn zu schonen, habe zuerst eingelenkt, habe mich entschuldigt. Warum kam er aber auch, um mich zu ärgern?
So suchte sie sich selbst zu beruhigen, doch blieb sie in gedrückter Stimmung. Sie rieb sich eine Weile die Beine mit beiden Händen, dann schien sie mit der Lage sich abzufinden, denn sie meinte:
Ach was. Ist's meine Schuld, wenn er ein Hahnrei ist?
Gebraten von allen Seiten, schlüpfte sie ins Bett und läutete Zoé, damit sie den anderen einlasse, der bis jetzt in der Küche gewartet hatte.
Muffat eilte hastig fort. Es hatte seitdem noch geregnet und das nasse Pflaster war glatt. Er blickte unwillkürlich in die Höhe und sah einzelne Wolkenfetzen vor dem Monde dahineilen. Zu dieser späten Abendstunde gab es auf dem Boulevard Haußmann nur wenig Passanten. Er eilte längs der Magazine der großen Oper zu, wobei er die dunklen Teile der Straße suchte, und murmelte ohne Zusammenhang Worte vor sich hin. Die Dirne log. Aus Dummheit und Grausamkeit hatte sie diese Geschichte erfunden. Er hätte ihr den Kopf zertreten sollen, als er sie unter seinen Füßen hatte. Er würde sie nie wieder sehen, nie mehr berühren,[247] sonst wäre er ein Feigling. Es war zu schändlich! ... Er seufzte erleichtert auf. Ha ... dieses nackte, dumme Ungeheuer, das sich brät wie eine Gans, will alles mit Füßen treten, was er seit vierzig Jahren achten gewohnt war.
Der Mond war inzwischen klar hervorgetreten; die öde Straße schwamm in einem weißen, hellen Lichte. Eine ungeheure Furcht ergriff ihn plötzlich, als ob er in einen bodenlosen Abgrund gestürzt sei; er war in Verzweiflung und brach in Schluchzen aus.
Mein Gott, stammelte er, es ist alles zu Ende ... Für mich gibt es gar nichts mehr.
Auf den lang gestreckten Boulevards begegnete er vereinzelten Fußgängern. Er suchte sich zu beruhigen. Die Geschichte, die diese Dirne ihm erzählt hatte, tauchte in seinem brennenden Gehirn immer wieder auf, er suchte sich die Tatsachen zu erklären. Die Gräfin sollte am nächsten Morgen vom Schlosse der Frau Chezelles zurückkehren. Nichts hinderte sie aber, schon am Abend vorher nach Paris zu kommen und die Nacht bei diesem Manne zuzubringen. Er erinnerte sich jetzt gewisser Einzelheiten aus der Zeit des Aufenthaltes in Fondettes. Eines Abends hatte er Sabine im Dunkel der Bäume so erregt gefunden, daß sie auf seine Frage keine Antwort zu geben wußte – und dieser Mann befand sich in der Nähe. Warum sollte sie nicht jetzt bei ihm sein? Je länger er über die Sache nachdachte, desto wahrscheinlicher wurde sie ihm. Zum Schlusse fand er sie selbstverständlich: während er es bei einer Dirne sich bequem macht, entkleidet seine Gemahlin sich im Zimmer ihres Geliebten. Nichts ist natürlicher! ... Indem er so schloß, suchte er, kaltes Blut zu bewahren. Er hatte das Gefühl, als ob der Wahnsinn des Fleisches immer weitere Kreise erfasse und schließlich alles zu Fall bringe. Die Erscheinung[248] der nackten Nana rief die Erscheinung der nackten Sabine hervor. Bei diesem Bilde, das die beiden Frauen in der Verwandtschaft ihrer Schamlosigkeit, in dem nämlichen Hauch der Wollust einander näher brachte, strauchelte er. Eine Droschke, die auf der Straße dahinraste, hätte ihn fast überfahren. Aus einem Kaffee traten einige Mädchen, die ihn lachend anstießen. Er flüchtete in das Dunkel der Rossini-Straße; längs der Häuser dahineilend, weinte er wie ein Kind.
Es ist alles zu Ende ... sagte er nochmals mit dumpfer Stimme. Er weinte so heftig, daß er sich an ein Tor lehnen mußte und das Gesicht in den durchnäßten Händen barg.
Das Geräusch herannahender Schritte verscheuchte ihn. Er floh mit dem unsicheren Schritte eines nächtlichen Schwärmers; Scham und Furcht ließen ihn die Menschen meiden. Wenn Fußgänger ihm begegneten, suchte er eine unbefangene Haltung anzunehmen, aus Furcht, daß man in dem Zucken seines Gesichtes seine Geschichte lesen könnte. Er war durch die Große Schifferstraße bis zur Vorstadt Montmartre-Straße gekommen. Unangenehm berührt durch den hellen Glanz der Gaslichter machte er kehrt. Ungefähr eine Stunde lang lief er so durch die dunkelsten Gassen dieses Viertels. Ohne Zweifel hatte er ein bestimmtes Ziel, zu welchem ihn seine Füße über allerlei Umwege trugen. An einer Straßenecke blickte er endlich auf. Er war am Ziel: es war die Ecke der Taitbout-Straße und der Provence-Straße. Zu einem Wege von fünf Minuten hatte er in seiner furchtbaren Erregung eine Stunde gebraucht. Er erinnerte sich, daß er im verflossenen Monat eines Morgens Fauchery besucht hatte, um ihm dafür zu danken, daß er in einem Artikel über einen Hofball ihn genannt hatte. Die Wohnung des Journalisten befand sich im Halbstock; die kleinen, viereckigen Fenster waren halb verborgen hinter einer riesigen[249] Firmentafel. Das letzte Fenster links war erleuchtet; ein Lichtstrahl drang durch die halboffenen Vorhänge. Der Graf blickte unverwandt nach diesem Fenster: er erwartete etwas.
Der Mond war von dem pechschwarzen Himmel verschwunden; ein eisiger Nebel senkte sich aus der Höhe nieder. Im Turme der Dreifaltigkeitskirche schlug es zwei Uhr. Muffet stand unbeweglich auf seinem Platze. Der erleuchtete Raum war Faucherys Schlafzimmer. Der Graf erinnerte sich genau: es war rot tapeziert, im Hintergrunde stand ein großes Bett im Stile Louis XIII. Die Lampe mußte rechts auf dem Kamin stehen. Sie waren ohne Zweifel zu Bett gegangen, denn es rührte sich kein Schatten in dem Zimmer. Der Lichtstreif fiel unbeweglich gleich dem Widerschein einer Nachtlampe durch das Fenster. Immer unverwandt in die Höhe starrend faßte der Graf einen Plan. Er wollte läuten, trotz des etwaigen Widerstandes des Hausmeisters hinaufgehen, die Tür einrennen und sie im Bett überraschen. Sie sollten nicht einmal Zeit haben, ihre Arme freizumachen. Der Gedanke, daß er keine Waffe bei sich habe, hielt ihn einen Augenblick zurück; dann beschloß er, sie zu erwürgen. Er kam auf seinen Plan zurück und durchdachte ihn vollkommen, nur wartete er auf irgendein Zeichen, um sicher zu gehen. Hätte in diesem Augenblick ein weiblicher Schatten sich gezeigt, er würde augenblicklich geläutet haben. Aber der Gedanke, daß er sich täuschen könne, machte ihn nachdenklich. Was sollte er dann sagen? Zweifel stiegen in ihm auf. Seine Frau konnte nicht bei diesem Manne sein. Der Gedanke war ungeheuerlich, unmöglich. Doch blieb er, durch das lange Warten allmählich erschlaffend, auf seinem Posten.
Ein heftiger Regenguß ging nieder. Jetzt näherten sich zwei Polizisten. Er mußte den Torwinkel verlassen, in den[250] er sich geflüchtet hatte. Als sie sich entfernt hatten, kehrte er durchnäßt und fröstelnd wieder zurück. Das Fenster war noch immer erleuchtet. Er war im Begriff wegzugehen, als ein Schatten vor dem Fenster vorbeihuschte. Das geschah so schnell, daß er sich getäuscht zu haben glaubte. Wieder tauchten Schatten auf, es schien im Zimmer lebendig geworden zu sein. Der Graf stand festgebannt an der gleichen Stelle. Er fühlte ein unerträgliches Brennen und wartete, um genauer zu erfahren, was da vor sich gehe. Er sah die flüchtigen Schatten von Armen und Beinen vorbeihuschen. Eine Riesenhand bewegte sich mit dem Schattenriß eines Wasserkruges dahin. Der Graf vermochte nichts Bestimmtes zu unterscheiden, doch glaubte er einmal einen Haarknoten zu erkennen. Er glaubte die Frisur Sabinens zu erkennen, doch war der Hals zu dick. Er sah nichts und hörte nichts deutlich. Es brannte so heftig in ihm, daß er sich an das Tor lehnen mußte. Indessen waren die Schatten wieder verschwunden. Ohne Zweifel hatten die beiden sich wieder ins Bett gelegt.
Der Graf beobachtete noch immer. Es schlug drei Uhr, dann vier Uhr. Er vermochte sich nicht von der Stelle zu rühren. Wenn der Regen kam, drückte er sich eng in seinen Torwinkel. Es kam niemand mehr vorüber. Zuweilen schloß er die Augen, als ob sie ausgebrannt würden durch den Lichtstreif, den sie so hartnäckig betrachteten. Noch zweimal tauchten die Schatten im Zimmer auf, die Hände mit dem Wasserkrug; dann wurde es wieder ruhig, die Lampe warf ihr schwaches Licht durch das Fenster. Diese Schatten vermehrten noch seine Zweifel. Überdies beschwichtigte ihn der Gedanke, daß ihm ja die Befriedigung seines Rachebedürfnisses nicht verloren gehe; er brauche nur abzuwarten, bis sie das Haus verließ. Er werde sie erkennen. Das war das einfachste; keinen Skandal, sondern Gewißheit. Es genügte[251] auszuharren. Von allen Gefühlen, die ihn beherrschten, war nichts übrig geblieben, als das dumpfe Bedürfnis zu erfahren. Aber es befiel ihn die Langeweile, die ihn unter diesem Tor fast einschläferte; um sich zu zerstreuen, suchte er zu berechnen, wie lange er noch zu warten habe. Sabine mußte um neun Uhr am Bahnhofe sein, das machte fast fünfeinhalb Stunden. Er wurde geduldig; er rührte sich nicht von der Stelle; er wollte ausharren und sollte diese Nacht ewig währen.
Plötzlich verlosch der Lichtstreif am Fenster. Diese höchst einfache Tatsache war für ihn ein unerwartetes Ereignis, etwas Unangenehmes, Verwirrendes. Offenbar hatten sie die Lampe ausgelöscht, um zu schlafen, was zu dieser Stunde begreiflich war. Er aber geriet in Aufregung darüber, denn dieses dunkle Fenster interessierte ihn nicht mehr. Er sah noch etwa eine Viertelstunde hinauf, dann ermüdete ihn die Sache; er verließ seinen Standplatz unter dem Tor und machte einige Schritte auf dem Fußsteige. So ging er bis fünf Uhr auf und ab, von Zeit zu Zeit die Augen erhebend. Das Fenster blieb dunkel und still; er fragte sich zuweilen, ob er nicht geträumt habe, da oben Schatten gesehen zu haben. Eine ungeheure Müdigkeit drückte ihn nieder, eine Erschlaffung, in der er vergaß, was er an die ser Straßenecke erwartete, wo er über das Straßenpflaster stolperte und fröstelnd aus einer Träumerei auffuhr. Es gab nichts, was dieser Sorge und Mühe wert wäre ... Wenn diese Leute schlafen, so läßt man sie schlafen; wozu sich in ihre Angelegenheiten mengen? Es war sehr finster; niemand erfährt von diesen Dingen. Jetzt verschwand alles, selbst die Neugierde, aus seiner Seele; er wollte ein Ende machen und Trost suchen. Es wurde kälter, er fand die Straße unerträglich; zweimal entfernte er sich und kehrte langsamen Schrittes wieder zurück, um[252] sich dann noch weiter zu entfernen. Es war aus ... Es gab für ihn nichts mehr ... Er ging bis zum Boulevard hinauf und kehrte nicht mehr zurück.
Allein irrte er nun in den stillen, öden Straßen umher, immer langsam an den Mauern der Häuser entlang. Seine Schritte schallten laut auf dem Straßenpflaster; er sah nichts als seinen eigenen Schatten sich drehen und wenden, seinen Schatten, der bei jeder Gaslaterne größer wurde, um sich dann wieder zu verkleinern. Dieser Anblick war ihm eine mechanische, einlullende Beschäftigung. Er wußte nicht, wo er vorbeikam; es schien ihm, als drehe er sich im Kreise. Eine einzige Erinnerung war ihm deutlich geblieben. Plötzlich befand er sich vor der Passage der Panoramen, das Gesicht fest an die Eisenstäbe des geschlossenen Gitters gedrückt. Er starrte hinein, vermochte aber nichts zu unterscheiden in der finsteren, verlassenen Galerie, aus welcher der Wind ihm die Feuchtigkeit eines Kellers ins Gesicht trieb. Dann fuhr er wieder empor und fragte sich, was er um diese Stunde hier an diesem Gitter suche? Er nahm seinen Weg durch die Straßen von Paris wieder auf, das Herz erfüllt von einem Gefühle unendlicher Trauer und Verlassenheit.
Endlich brach der Tag an, ein trüber, feuchter, schmutziger Wintermorgen. Muffat war in die breiten Straßen zurückgekehrt, die um die neue Oper angelegt wurden. Der lehmige Boden war durch den nächtlichen Regen und die Eindrücke der Wagenräder in einen ungeheuren Morast verwandelt. Ohne zu schauen, wohin er den Fuß setzte, ging Muffat immer fort, öfter ausgleitend und sich an den Mauern festhaltend. Dieses Erwachen von Paris, die Karren der Straßenreiniger, die ersten Gruppen von Arbeitern brachten, je heller der Morgen wurde, neue Unruhe. Alle diese Leute betrachteten neugierig diesen verstörten Menschen[253] mit dem regentriefenden Hute und den schmutzbefleckten Kleidern. Er flüchtete hinter die Baugerüste, um sich den Blicken der Neugierigen zu entziehen. In der Leere seines Wesens war ihm ein Gedanke geblieben: daß er sehr elend war.
Jetzt dachte er an Gott. Dieser plötzliche Gedanke an einen überirdischen Trost überraschte ihn wie eine unerwartete, seltsame Sache. Es erweckte in ihm die Erinnerung an Venot; er sah seine untersetzte, dicke Figur, seine schlechten Zähne. Gewiß, Venot, den er seit drei Monaten durch sein Benehmen untröstlich machte, würde sich glücklich schätzen, wenn er jetzt zu ihm flüchte, um in seinen Armen zu weinen. Früher war er vor solchem Jammer bewahrt. Bei dem geringsten Kummer, der im Leben ihn getroffen, trat er in eine Kirche, ließ sich in Anbetung des Allmächtigen auf die Knie nieder und verließ das Gotteshaus gestärkt durch das Gebet, bereit, die Güter dieser Welt zu verlassen, nur nach dem ewigen Heil verlangend. Heute war sein ganzes Seelenleben durch Nana zerstört. Er betete nicht mehr, höchstens in den Stunden, da die Furcht vor der Hölle ihn erfaßte. Der Gedanke an Gott setzte ihn in Erstaunen. Warum hatte er nicht gleich an Gott gedacht, als sein schwaches Menschentum in Trümmer ging.
Er suchte unwillkürlich eine Kirche, doch wußte er nicht, wo er war; er verwechselte die Straßen in dieser frühen Morgenstunde. An der Ecke der Chaussee nach d'Autin bemerkte er die Dreifaltigkeitskirche, deren Turm sich undeutlich im Morgennebel abhob. Er ging auf die Kirche zu und stieg die breite Treppe empor. Oben hielt er erschöpft inne, um unter dem Portal ein wenig auszuruhen. Dann trat er ein. Es war sehr kalt in der Kirche, ein eisiger Dunst schwamm unter den hohen Gewölben. Die Seitenschiffe lagen im Dunkel, es war niemand da. Der[254] Graf sank vor dem Gitter einer kleinen Kapelle, neben einem Weihwasserkessel, in die Knie. Er faltete die Hände und suchte nach Gebeten, sein ganzes Wesen rang nach Erhebung. Aber nur die Lippen flüsterten Worte; der Geist war abwesend und irrte draußen unruhig durch die Straßen, wie gepeitscht von einem unerbittlichen Zwange. Er wiederholte: Oh, mein Gott, komm' mir zu Hilfe! Oh, mein Gott, verlaß dein Geschöpf nicht, das deiner Gerechtigkeit vertraut! Ach, mein Gott, ich flehe zu dir, laß mich nicht untergehen unter den Schlägen meiner Widersacher! Keine Antwort. Die Dunkelheit und die Kälte drückte auf seine Schultern. Im Hintergrunde hörte man das Geklapper der schweren Schuhe eines Kirchendiener, der die Vorbereitungen zur Frühmesse traf. Dieses Geräusch störte ihn im Beten. Er erhob sich wieder. Gott war noch nicht anwesend. Warum hätte er in den Armen des Herrn Venot weinen sollen? Was vermochte denn dieser Mann?
Dann kehrte er mechanisch zu Nana zurück. Vor ihrem Hause fühlte er Tränen sein Antlitz benetzen; es waren nicht Tränen der Klage gegen das Schicksal: es waren die Tränen der Schwäche, der Krankheit. Die Müdigkeit, die Nässe, die Kälte erschöpften ihn. Der Gedanke, in sein düsteres Haus in der Miromesnil-Straße zurückzukehren, stieß ihn ab. Bei Nana war das Tor noch nicht offen; er mußte warten, bis der Hausmeister erschien. Schon als er die Treppe emporstieg, lächelte er im Vorgefühl der Wärme dieses Nestes, wo er nun werde ausruhen und schlafen können.
Als Zoé seiner ansichtig wurde, machte sie eine Gebärde der höchsten Überraschung. Sie sagte dem Grafen, Madame habe von einer fürchterlichen Migräne heimgesucht, die ganze Nacht kein Auge geschlossen. Doch wollte sie immerhin nachsehen, ob Madame schon eingeschlafen sei. Sie[255] schlüpfte ins Zimmer Nanas, während der Graf im Salon auf einen Sessel niedersank. Im nächsten Augenblick erschien Nana. Sie war aus dem Bette gesprungen und hatte sich kaum die Zeit genommen, einen Rock anzuziehen. So erschien sie mit nackten Füßen, aufgelöstem Haar, zerknittertem Hemd, in der ganzen Unordnung einer Liebesnacht.
Wie, du bist's wieder? rief sie rot vor Zorn.
Sie war in der ersten Wut herbeigeeilt, um ihn eigenhändig hinauszuwerfen. Allein, als sie ihn so elend sah, fühlte sie eine Regung des Mitleids.
Du siehst sauber aus, mein Hündchen, sagte sie in sanftem Tone. Was ist denn los? Du hast auf der Lauer gestanden? Hast dir Kummer gemacht? Wie?
Er saß in stummer Vernichtung da. Sie begriff, daß es ihm an Beweisen fehle und fuhr fort:
Du siehst also, daß ich mich geirrt habe. Deine Frau ist rechtschaffen, auf Ehre! Und nun, mein Kleiner, geh' nach Hause und lege dich schlafen. Du hast es nötig.
Er rührte sich nicht.
Vorwärts, geh'! Ich kann dich ja nicht hier behalten ... Willst du vielleicht gar zu dieser Stunde hier bleiben?
Ja, legen wir uns schlafen, stammelte er.
Sie unterdrückte eine Gebärde aufwallenden Zornes. Ihre Geduld war zu Ende. War er blöd geworden?
Geh', geh', wiederholte sie.
Nein.
Nun brach der Sturm los.
Das ist doch ekelhaft, rief sie. Ich bin deiner völlig satt; kehre zu deiner Frau zurück, die dir Hörner aufsetzt ... Ja, sie setzt dir Hörner auf, das sage ich dir jetzt ... Nun hast du deinen Teil und wirst mich endlich in Ruhe lassen.[256]
Muffats Augen füllten sich mit Tränen. Er faltete die Hände und stammelte:
Gehen wir schlafen.
Nana verlor den Kopf, auch sie war von seinem nervösen Schluchzen erschüttert. Man trieb Mißbrauch mit ihr. Was gingen alle diese Dinge sie an! Sie hatte aus Artigkeit ihn mit aller Schonung von der Sache unterrichtet, und nun sollte sie alles entgelten. Nein, sie wollte nicht; sie war eine gutmütige Närrin, aber alles hat seine Grenzen.
Herrgott, jetzt habe ich es satt! rief sie und schlug wütend mit der Faust auf die Möbel. Ich habe diesem Menschen treu sein wollen, habe mir Entbehrungen auferlegt, und es würde mich nur ein Wort kosten, damit man mir Reichtümer zu Füßen lege ...
Der Graf blickte überrascht empor. An die Geldfrage hatte er nie gedacht. Sie brauchte nur einen Wunsch zu äußern, meinte er, und er soll erfüllt werden. Sein ganzes Vermögen stehe zu ihrer Verfügung.
Nein, jetzt ist es zu spät! erwiderte sie wutentbrannt. Ich liebe die Männer, die geben, ohne daß man von ihnen verlangt. Nicht um eine Million ein einziges Mal ... Es ist alles aus zwischen uns. Ich habe schon einen andern da. Geh' oder ich stehe für nichts. Es geschieht ein Unglück ...
Sie hatte sich ihm drohend genähert.
In diesem Augenblick der Erbitterung eines gutmütigen Mädchens, das man zum äußersten getrieben und das von seinem Rechte und seiner Überlegenheit über die rechtschaffenen Leute, die es belästigen, überzeugt ist, wurde die Tür plötzlich geöffnet und Steiner erschien.
Ah, das war zuviel!
Der auch! schrie sie in furchtbarer Wut.
Der Bankier blieb verblüfft stehen. Die unvermutete Anwesenheit[257] des Grafen brachte ihn in Verwirrung; er fürchtete jene Erklärung, der er nun schon seit drei Monaten aus dem Wege gegangen war.
Was willst du? fragte ihn Nana in rauhem Tone.
Ich ... Ich bringe das Bewußte.
Was?
Er zögerte.
Vor zwei Tagen hatte sie ihm erklärt, daß sie ihn nicht mehr empfangen würde wenn er ihr nicht tausend Franken bringe, deren sie bedürfe, um einen Wechsel zu bezahlen. Seit zwei Tagen lief er in Paris herum, um diese Summe aufzutreiben, was ihm endlich diesen Morgen gelungen war.
Die tausend Franken ... sagte er endlich, und zog ein Kuvert hervor.
Nana hatte die ganze Geschichte vergessen.
Die tausend Franken? rief sie. Brauche ich etwa dein Almosen?
Sie nahm das Paket und warf es ihm an den Kopf.
Als vorsichtiger Jude, der er war, sammelte er die Banknoten sorgfältig vom Boden auf. Dann blickte er bestürzt auf Nana. Muffat tauschte mit ihm einen verzweiflungsvollen Blick aus, während sie die Fäuste in die Hüften stemmte und noch lauter schrie:
Ach, werdet Ihr nun bald aufhören, mich zu beschimpfen? Es ist mir ganz recht, daß du auch da bist. Die Säuberung wird zum mindesten eine vollständige sein. Vorwärts, hinaus!
Als sie sah, daß sie sich nicht sonderlich beeilten, fuhr sie fort:
Ihr meinet, ich begehe eine Dummheit? Mag sein; aber Ihr habt es gar zu arg mit mir getrieben. Jetzt habe ich es satt mit der Anständigkeit! Wenn ich dabei zugrunde gehe, ist das meine Sache.[258]
Sie wollten sie besänftigen und verlegten sich aufs Bitten.
Eins ... Zwei ... Vorwärts! rief sie. Ihr wollt nicht? Gut, dann seht Euch meine Gesellschaft an!
Darauf öffnete sie die Tür ihres Schlafzimmers angelweit. Dort sahen die Herren das gänzlich in Unordnung gebrachte Bett und in ihm den Schauspieler Fontan. Mit seiner schwarzen Haut lag er da wie ein Bock. Auf diese plötzliche Vorstellung nicht gefaßt, streckte er eben die nackten Beine in die Luft. Aber als Schauspieler, der an das Publikum gewöhnt ist, machte er sich nicht viel aus der Lage. Nach der ersten Überraschung faßte er sich und grinste die Herren verschmitzt an. In seiner gemeinen Faunfratze saß das Laster. Nana war in einer Anwandlung von Verlangen, das die Mädchen ihrer Art nicht selten für die grimassenhafte Häßlichkeit der Komiker ergreift, seit acht Tagen diesem Komödianten ins Varietétheater nachgelaufen; jetzt hatte sie ihn da.
Da habt Ihr's! sagte sie, mit der Gebärde einer Tragödin auf ihn zeigend.
Muffat, der sich alles hatte gefallen lassen, wurde durch diese Schamlosigkeit endlich empört.
Hure! sagte er, sich voll Abscheu wegwendend.
Nana, die inzwischen schon wieder in ihrem Zimmer war, kam zurück, um das letzte Wort zu haben.
Warum Hure! Und dein Weib?
Dann verschwand sie wieder in ihrem Zimmer, schlug die Tür heftig zu und schob den Riegel vor. Die beiden Männer betrachteten einander stillschweigend. Da kam Zoé hinzu. Sie schob die Herren keineswegs zur Tür hinaus, suchte vielmehr vernünftig mit ihnen zu reden. Als kluge Person, die sie war, fand sie die Torheit Madames sehr stark. Indes suchte sie ihre Herrin zu entschuldigen. Die[259] Laune für den Komödianten werde gewiß nicht lange dauern. Die beiden Herren entfernten sich, ohne ein Wort zu sagen. Auf der Straße reichten sie einander die Hände, gleichsam von einem gemeinschaftlichen Leid bewegt. Dann gingen sie langsam ihrer Wege, jeder in einer anderen Richtung.
Als Muffat in sein Haus zurückkehrte, war seine Gemahlin eben angekommen. Sie begegneten einander auf der großen Treppe, von deren dunklen Wänden eine eisige Kälte auszuströmen schien. Sie blickten einander an. Sie sah den Grafen mit seinen beschmutzten Kleidern und dem entstellten Gesicht eines von den Ausschweifungen Heimkehrenden. Die Gräfin war, wie gebrochen von einer nächtlichen Eisenbahnfahrt, nachlässig frisiert. Ihre Augenlider fielen vor Ermüdung zu; sie stieg wie im Schlafe die Stufen der Treppe empor.
Ausgewählte Ausgaben von
Nana
|
Buchempfehlung
Beate Heinold lebt seit dem Tode ihres Mannes allein mit ihrem Sohn Hugo in einer Villa am See und versucht, ihn vor möglichen erotischen Abenteuern abzuschirmen. Indes gibt sie selbst dem Werben des jungen Fritz, einem Schulfreund von Hugo, nach und verliert sich zwischen erotischen Wunschvorstellungen, Schuld- und Schamgefühlen.
64 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro