|
[17] Inmitten der Getreide- und Rübenfelder schlief das Grubendorf der Zweihundertundvierzig in der finsteren Nacht. Man unterschied nur undeutlich vier Blöcke von kleinen, Rücken an Rücken stehenden Häusern, Blöcke wie von Kasernen oder Spitälern, genau geometrisch und parallel angelegt, durch drei breite Zwischenräume getrennt, die in gleich große Gärten aufgeteilt waren. Auf der verlassenen Hochebene hörte man nichts als das Klagen des Windes in den abgerissenen Drähten der Einfriedigungen.
Bei der Familie Maheu, die das Häuschen Nummer 16 im zweiten Block bewohnte, rührte sich noch nichts. Die einzige Stube des ersten Stockwerkes lag in tiefer Dunkelheit, die gleichsam mit ihrem Gewichte den Schlaf der Wesen umfing, die man zuhauf, offenen Mundes, von Müdigkeit erdrückt, meinte daliegen zu sehen. Trotz schneidender Kälte draußen herrschte hier[17] in der schweren Luft große Wärme, jene erstickende Schwüle, die man selbst in den sorgfältigst gereinigten Stuben antrifft, wenn sie nach Menschen riechen.
Die Kuckucksuhr der im Erdgeschoß gelegenen Wohnstube schlug die vierte Morgenstunde. Nichts rührte sich, man konnte leises Atemholen vernehmen, begleitet von dem Geräusch zweier Schnarcher. Plötzlich richtete Katharina sich auf. In ihrer Schlaftrunkenheit hatte sie aus Gewohnheit die durch den Fußboden herauftönenden vier Schläge der Uhr gezählt, ohne die Kraft zu finden, vollends zu erwachen. Dann zog sie die Beine unter der Bettdecke hervor, tastete einen Augenblick herum, rieb endlich ein Zündhölzchen an und machte Licht. Doch blieb sie sitzen; ihr Kopf war so schwer, daß er zwischen die Schultern zurückfiel in einem unüberwindlichen Bedürfnis, den Schlaf fortzusetzen.
Jetzt beleuchtete die Kerze die viereckige, mit zwei Fenstern versehene Stube, die von drei Betten fast ganz angefüllt war. Es standen da außerdem ein Schrank, ein Tisch und zwei Stühle von altem Nußholz, deren dunkler Ton sich scharf von den hellgelb getünchten Mauern abhob. Kein weiteres Einrichtungsstück; die Kleider hingen an Nägeln. Auf den Fliesen stand ein Krug neben einer roten irdenen Schüssel, die als Waschbecken diente. In dem Bette zur Linken schlief Zacharias, der älteste Sohn, ein Bursche von einundzwanzig Jahren, mit seinem Bruder Johannes, der eben sein elftes Jahr vollendet hatte. In dem Bette zur Rechten schliefen zwei kleinere Kinder, Leonore und Heinrich, das Mädchen sechs, der Junge vier Jahre alt; einander in den Armen haltend, lagen sie da. Katharina teilte das dritte Bett mit ihrer Schwester Alzire, die für ihre neun Jahre so schwächlich war, daß Katharina sie neben sich kaum gefühlt hätte, wäre nicht der Höcker der Kleinen gewesen, den diese ihr in die Seite stieß. Die mit Glasscheiben versehene Tür stand offen; man bemerkte den Flurgang, eine Art Tunnel, wo Vater und Mutter ein viertes Bett einnahmen, vor dem die Wiege[18] der jüngsten Tochter stand, die Estelle hieß und erst drei Monate zählte.
Katharina machte inzwischen eine verzweifelte Anstrengung. Sie streckte sich und vergrub beide Hände in ihre roten Haare, die struppig auf Stirn und Nacken niederfielen. Schmächtig für ihre fünfzehn Jahre, zeigte sie von ihren Gliedern außerhalb der engen Hülle, die ihr Hemd bildete, nur bläuliche Füße, die von der Kohle gleichsam tätowiert waren, und zarte Arme, deren Milchweiße sich lebhaft von der bleichen Farbe des Gesichtes abhob, das von dem fortwährenden Waschen mit schwarzer Seife schon verdorben war. Ein letztes Gähnen öffnete ihren etwas groß geratenen Mund mit prächtigen Zähnen, die im blutleeren Zahnfleisch saßen; in den grauen Augen standen Tränen vom Kampf gegen den Schlaf, sie waren schmerzerfüllt, und Erschöpfung schien ihre ganze Gestalt anzufüllen.
Doch jetzt ward ein Gebrumm aus dem Flur hörbar; Maheu stammelte mit müder Stimme:
»Alle Wetter, es ist Zeit aufzustehen! ... Hast du Licht gemacht, Katharina?«
»Ja, Vater; es hat unten vier Uhr geschlagen.«
»Spute dich, Nichtsnutz! Hättest du gestern am Sonntag weniger getanzt, dann hättest du uns früher wecken können. Ist das ein Faulenzerleben!«
Er brummte weiter; doch der Schlaf übermannte ihn; seine Vorwürfe verwirrten sich und gingen schließlich in einem neuen Schnarchen unter.
Im Hemde und mit nackten Füßen ging das Mädchen in der Stube hin und her. Als sie am Bette Heinrichs und Leonores vorbeikam, warf sie die herabgeglittene Decke über sie; sie erwachten nicht aus ihrem festen Kinderschlafe. Alzire, die mit offenen Augen dalag, hatte sich wortlos umgewendet, um den noch warmen Platz ihrer älteren Schwester einzunehmen.
»Los, Zacharias! Und du auch, Johannes!« rief Katharina und blieb vor ihren Brüdern stehen, die mit der Nase im Kopfkissen weiterschliefen.[19]
Sie mußte den Großen bei der Schulter fassen und schütteln; als er vor sich hin fluchte, entschloß sie sich, ihnen die Decke wegzuziehen. Sie fand es drollig und begann zu lachen, als sie die beiden Jungen mit den nackten Beinen strampeln sah.
»Das ist blöde, laß mich in Frieden!« brummte Zacharias mürrisch, nachdem er sich aufgesetzt hatte. »Ich mag solche Späße nicht ... Herrgott, daß man schon wieder aufstehen soll!«
Er war ein magerer, schlotteriger Kerl mit einem langen Gesichte, in dem einige spärliche Bartstoppeln saßen, und hatte die gelben Haare und die blutleere Blässe, die der ganzen Familie eigen waren. Sein Hemd hatte sich bis zum Bauche hinauf verschoben, er zog es herab, nicht aus Schamhaftigkeit, sondern weil er fror.
»Es hat unten vier Uhr geschlagen«, wiederholte Katharina. »Auf, auf! Der Vater wird bös.«
»Scher dich zum Teufel! Ich will schlafen«, sagte Johannes, zog die Beine an und schloß die Augen.
Sie lachte wieder gutmütig. Er war so klein und seine Glieder so schwächlich mit den von Skrofeln angeschwollenen Gelenken, daß sie ihn mit leichter Mühe in ihre Arme nahm. Allein er zappelte mit den Beinen; seine bleiche, faltige Affenfratze mit den grünen Augen, die durch seine großen Ohren noch breiter wurde, ward ganz bleich in ohnmächtiger Wut. Er sagte nichts, biß sie aber in die rechte Hand.
»Böser Bube!« brummte sie, einen Schrei unterdrückend und den Jungen auf die Erde setzend.
Alzire war nicht wieder eingeschlafen; sie hatte die Decke bis zum Kinn hinaufgezogen und lag stillschweigend da. Mit den klugen Augen eines Krüppels folgte sie den Bewegungen ihrer Schwester und ihrer Brüder, die sich ankleideten. Doch jetzt brach ein neuer Streit an der Waschschüssel aus; die Jungen stießen das Mädchen weg, weil es sich zu lange wusch. Die Hemden flogen über die Köpfe, während sie noch schlaftrunken sich wuschen, ohne jede Scham, mit dem ruhigen[20] Behagen junger Hunde, die zusammen aufwachsen. Katharina war übrigens zuerst fertig. Sie schlüpfte in die Bergmannshose, legte die Leinwandjacke an, knüpfte die blaue Haube um den Haarknoten und glich in dieser sauberen Werktagsgewandung einem kleinen Mann. Nichts war von ihrer Weiblichkeit übriggeblieben als ein leichtes Wiegen der Hüften.
»Wenn der Alte heimkommt, wird er sich freuen, das Bett so unordentlich vorzufinden«, sagte Zacharias boshaft. »Ich werde ihm erzählen, daß du es getan hast.«
Der Alte war der Großvater, Bonnemort, der bei Nacht arbeitete und bei Tage schlief. Das Bett lüftete denn auch nie aus; es schlief immer jemand darin.
Ohne zu antworten, hatte sich Katharina daran gemacht, das Bett in Ordnung zu bringen. Doch seit einer Weile wurden hinter der Mauer aus der Nachbarschaft Geräusche vernehmbar. Diese Ziegelbauten, von der Gesellschaft aufs sparsamste hergestellt, waren so dünn, daß man jeden Laut hindurch hörte. Man lebte eng zusammengedrängt von einem Ende des Ortes bis zum andern; nichts von dem intimen Leben blieb verborgen, selbst vor den Kindern nicht. Ein schwerer Tritt hatte eine Treppe in Erschütterung gebracht; dann hörte man einen weichen Fall, dem ein Seufzer der Erleichterung folgte.
»Schön«, sagte Katharina. »Levaque geht zur Grube, und Bouteloup geht zu Frau Levaque.«
Johannes kicherte, und auch Alzires Augen funkelten lebhafter. Jeden Morgen belustigten sie sich in dieser Weise über die benachbarte Ehe; es war ein Häuer, der einem Erdarbeiter Unterkunft gab; in dieser Weise hatte die Frau zwei Männer.
»Philomene hustet«, begann Katharina wieder und spitzte die Ohren.
Sie sprach von der Ältesten der Eheleute Levaque, einem großen Mädchen von neunzehn Jahren, der Geliebten Zacharias', von dem sie schon zwei Kinder hatte. Sie war übrigens so schwach auf der Brust, daß man[21] sie am Sortierungsplatz beschäftigte, weil sie zur Arbeit in der Grube nicht taugte.
»Freilich, Philomene!« antwortete Zacharias. »Die schläft jetzt. Es ist doch eine Schweinerei, bis sechs Uhr zu schlafen.«
Er schlüpfte in seine Hose; da schien ihm ein Einfall zu kommen, und er öffnete ein Fenster. Draußen herrschte noch immer tiefe Dunkelheit, und das Dorf erwachte allmählich; zwischen den Brettchen der Rolladen sah man nacheinander die Lichter aufblitzen. Da gab es einen neuen Zank; Zacharias neigte sich hinaus, um zu spähen, ob er nicht aus dem gegenübergelegenen Hause der Eheleute Pierron den Oberaufseher des Voreuxschachtes weggehen sehe, den man im Verdacht hatte, daß er Frau Pierron liebe; während Katharina ihm zurief, daß der Mann gestern Tagdienst in der Grube gehabt habe, und daß folglich Herr Dansaert nicht dagewesen sein könne. Die Luft drang eiskalt herein; die beiden ereiferten sich; jeder trat für die Richtigkeit seiner Beobachtungen ein, als plötzlich ein heftiges Weinen losbrach. Es war Estelle, die in ihrer Wiege fror.
Maheu erwachte augenblicklich wieder. Was hatte er denn in den Knochen, daß er von neuem eingeschlafen war wie ein Taugenichts? Er fluchte so wild, daß die Kinder nebenan keinen Laut mehr wagten. Zacharias und Johannes beendeten mit müden Händen das Waschen. Alzire schaute noch immer mit weit offenen Augen drein. Die beiden Kleinen, Leonore und Heinrich, hatten trotz des Lärmens sich nicht gerührt, sondern schliefen, einander in den Armen liegend, mit demselben leisen Atem weiter.
»Katharina, gib mir die Kerze!« rief Maheu.
Sie war eben mit dem Zuknöpfen ihrer Jacke fertig geworden und trug die Kerze nach dem Flur, während ihre Brüder bei dem schwachen Licht, das durch die Glastür fiel, ihre Kleider zusammensuchten. Ihr Vater stieg aus dem Bette. Doch sie hielt sich nicht länger[22] auf; mit dicken Wollstrümpfen an den Füßen stieg sie tastend hinunter, um den Kaffee zu bereiten. Die Holzschuhe der ganzen Familie standen dort unter dem Eßschrank.
»Wirst du schweigen, elender Wurm?« rief Maheu, den das fortwährende Geschrei Estelles erbitterte.
Er war klein wie der alte Bonnemort und glich ihm, obgleich er dicker war, mit seinem starken Kopfe, seinem platten und fahlen Gesichte unter gelben, kurzgeschnittenen Haaren. Das Kind heulte jetzt noch ärger, erschreckt durch die großen, kräftigen Arme, die über seinem Kopfe fuchtelten.
»Laß sie in Frieden; du weißt doch, daß sie nicht still sein will«, sagte seine Frau und streckte sich mitten im Bette aus.
Auch sie war eben erwacht und beklagte sich; es sei doch zu dumm, daß man niemals die ganze Nacht durchschlafen könne. Konnten sie denn nicht mit weniger Geräusch weggehen? In die Bettdecke eingewickelt, zeigte sie nichts als ihr langes Gesicht mit den groben Zügen einer etwas schwerfälligen Schönheit, mit neununddreißig Jahren schon verunstaltet durch ein Leben voll Mühe und Not und durch die Geburt der sieben Kinder. Die Augen auf die Zimmerdecke gerichtet, sprach sie mit gedehnter Stimme, während ihr Mann sich ankleidete. Weder er noch sie achtete auf die Kleine, die sich schier den Hals ausschrie.
»Ich muß dir sagen, daß ich keinen Sou im Hause habe, und es ist heute erst Montag, sechs Tage dauert es noch bis zum Fünfzehnten des Monats. Ich weiß nicht, wie wir uns durchschlagen sollen. Ihr bringt alle miteinander neun Franken; wie soll ich da auskommen? Wir sind unser zehn im Hause.«
»Oho, neun Franken?« wandte Maheu ein. »Ich und Zacharias je drei, das macht sechs; Katharina und der Vater je zwei, das macht vier; sechs und vier sind zehn; Johannes bringt einen, macht elf Franken.«[23]
»Ja, elf; aber du rechnest die Sonntage nicht und die Tage, an denen es keine Arbeit gibt. Nie mehr als neun, hörst du?«
Er suchte seinen Ledergurt am Boden und schwieg. Dann richtete er sich auf und sagte:
»Beklage dich nicht, Weib; ich bin noch stark genug. Mehr als einer mußte mit zweiundvierzig Jahren schon aus der Grube herauf.«
»Das ist möglich, Alter, aber damit haben wir noch kein Brot. Was fange ich an? Hast du nichts?«
»Ich habe zwei Sous.«
»Behalte sie, um einen Schoppen zu trinken ... Mein Gott, was fange ich an? Sechs Tage, eine Ewigkeit! ... Wir schulden Maigrat sechzig Franken; er hat mir vorgestern die Tür gewiesen. Das soll mich aber nicht hindern, wieder zu ihm zu gehen. Wenn er sich nun weigert, uns zu pumpen ...«
So fuhr die Maheu fort mit bekümmerter Stimme und unbeweglichem Kopfe; vor dem schwachen Lichte der Kerze schloß sie von Zeit zu Zeit die Augen. Der Schrank sei leer, sagte sie, und die Kleinen verlangten Brotschnitten zum Kaffee, der ebenfalls ausgegangen sei. Reines Wasser mache nur Bauchzwicken. Dann erzählte sie von den langen Tagen, die man damit zubringe, daß man mit gekochten Kohlblättern den Magen täusche. Allmählich hatte sie die Stimme heben müssen, weil Estelles Geheul ihre Worte übertönte. Das Geschrei der Kleinen ward unerträglich. Maheu schien es plötzlich zu hören; außer sich vor Wut, nahm er das Kind aus der Wiege und schleuderte es auf das Bett der Mutter mit den Worten:
»Da, nimm sie, ich würde sie zertreten ... das Donnerwetter über den Balg! Das trinkt an der Mutterbrust, dem geht nichts ab, und es grölt ärger als die anderen!«
Estelle hatte in der Tat zu saugen begonnen; sie war unter der Decke verschwunden und in der Bettwärme still geworden; man hörte nichts mehr als das gierige Lutschen ihrer Lippen.[24]
»Haben die Bürgersleute von Piolaine dir nicht gesagt, daß du sie besuchen sollst?« fragte der Mann nach einer Weile.
Die Frau kniff den Mund mit einer Miene mutlosen Zweifels zusammen.
»Ja, sie sind mir begegnet«, antwortete sie. »Sie bringen den armen Kindern Kleider ... Ich werde heute morgen Leonore und Heinrich hinführen. Vielleicht geben sie mir hundert Sous.«
Wieder trat Schweigen ein. Maheu war fertig. Er blieb einen Augenblick unbeweglich, dann sagte er mit dumpfer Stimme:
»Was willst du? Es ist einmal so: mach, wie du kannst, die Abendsuppe fertig. Das Schwatzen führt zu nichts; es wird besser sein, wenn ich zur Arbeit gehe.«
»Gewiß«, sagte die Maheu. »Blase das Licht aus; ich kann mir auch im Finstern den Kopf zerbrechen.«
Er blies die Kerze aus. Zacharias und Johannes stiegen schon hinunter, er folgte ihnen; die hölzerne Treppe krachte unter seinen schweren, mit wollenen Strümpfen bekleideten Füßen. Die Stube und der Flur lagen jetzt wieder in Finsternis. Die Kinder schliefen: auch Alzire hatte die Augen geschlossen. Nur die Mutter starrte mit offenen Augen in die Finsternis, während an ihrer Brust Estelle wie ein junges Kätzchen schmatzte.
In der Wohnstube unten beschäftigte sich Katharina zunächst mit dem Feuer. Es stand ein Kamin aus Gußeisen da mit einem Rost in der Mitte und einem Backofen auf jeder Seite. In diesem Kamin brannte unaufhörlich Kohlenfeuer. Die Gesellschaft verteilte monatlich acht Hektoliter Abfallkohle an jede Familie. Dieser auf den Straßen zusammengelesene Staub entzündete sich schwer. Darum deckte das Mädchen jeden Abend das Feuer mit Asche zu, am Morgen brauchte sie die Glut nur anzufachen und einige aus dem Schmutz sorgfältig herausgesuchte Kohlenstückchen aufzulegen. Dann setzte sie einen Kochtopf auf den Rost und hockte vor den Speiseschrank nieder.[25]
Es war eine ziemlich geräumige Stube, die das ganze Erdgeschoß einnahm; sie war apfelgrün gestrichen und von holländischer Sauberkeit mit den blank gescheuerten und mit feinem weißen Sande bestreuten Fliesen. Außer dem Speiseschrank von gefirnißtem Tannenholz bestand die Einrichtung aus Tisch und Sesseln von demselben Holze. An den Mauern hingen grellfarbige Bilder, von der Gesellschaft geschenkt, sie stellten den Kaiser und die Kaiserin dar, weiterhin Soldaten und Heilige in goldenen Gewändern, die von der hellen Kahlheit der Mauern abstachen. Zierat fand sich nicht in der Stube außer einer Schachtel von rosafarbenem Karton auf dem Speiseschrank und der Kuckucksuhr in buntbemaltem Kasten, deren helles Ticktack die Leere der hohen Stube auszufüllen schien. Neben der Tür, die sich auf die Treppe öffnete, war noch eine zweite Tür, die in den Keller führte. Trotz der Reinlichkeit verpestete ein seit dem Abend eingeschlossener Geruch von verbrannten Zwiebeln die Luft, diese heiße, schwere, stets von einem scharfen Kohlengeruch gesättigte Luft.
Katharina hockte sinnend vor dem offenen Speiseschrank. Es war nichts geblieben als ein Stück Brot, weißer Käse zur Genüge, aber kaum ein Krümchen Butter; und es galt, vier Butterbrote zurechtzumachen. Endlich entschloß sie sich, schnitt die Brotstücke, bedeckte eines mit Käse, bestrich ein zweites mit Butter und legte die beiden zusammen. Das war der »Ziegel«, die Doppelschnitte, die jeden Morgen in die Grube mitgenommen wurde. Bald lagen die vier »Ziegel« nebeneinander auf dem Tisch, mit größter Genauigkeit aufgeteilt, von dem größten, der für den Vater bestimmt war, bis zu dem kleinsten, den Johannes bekam.
Katharina, scheinbar ganz bei ihrer Arbeit, dachte über die Geschichten nach, die Zacharias von dem Oberaufseher und der Frau Pierron erzählte. Sie öffnete die Haustür zur Hälfte und warf einen Blick hinaus. Der Wind blies noch immer; in den niedrigen Häusern des Dorfes flammten immer mehr Lichter auf, und das[26] undeutliche Geräusch der erwachenden Bevölkerung machte sich bemerkbar. Türen wurden geöffnet und geschlossen; einzelne dunkle Reihen von Arbeitern zogen durch die Nacht dahin. Sie war doch recht dumm, sich einer Erkältung auszusetzen, da ja der Häuer gewiß zu Hause schlief, bis er um sechs Uhr seine Arbeit aufnehmen mußte. Aber sie verharrte dennoch in ihrer hockenden Stellung und beobachtete das Haus, das auf der anderen Seite hinter den Gärten lag. Jetzt ging die Tür auf, und ihre Neugierde ward wieder rege. Doch das konnte nur Lydia sein, die Tochter der Pierronschen Eheleute, die zur Grube ging.
Ein zischendes Geräusch veranlaßte sie, den Kopf zu wenden. Sie schloß die Tür und eilte zum Herde: das Wasser kochte, floß über und drohte das Feuer zu löschen. Es war kein Kaffee mehr da; sie mußte sich begnügen, Wasser auf den Satz von gestern zu schütten. Dann süßte sie den Inhalt der Kaffeekanne mit Farinzucker. Eben kamen ihr Vater und ihre beiden Brüder herunter.
»Alle Wetter!« sagte Zacharias, als er die Nase in den Napf gesteckt hatte, »der Trank wird uns nicht zu Kopf steigen.«
Maheu zuckte resigniert die Achseln.
»Bah!« sagte er; »man hat wenigstens etwas Warmes im Leibe, und das tut wohl.«
Johannes hatte die Brosamen neben den Schnitten zusammengescharrt und in seinen Napf geworfen. Nachdem sie getrunken, goß Katharina den Rest des Kaffees in die blechernen Feldflaschen. Alle vier standen in dem fahlen Lichte der flackernden Kerze und stürzten in aller Hast den Trunk hinunter.
»Sind wir endlich fertig?« fragte der Vater. »Man möchte glauben, daß wir von Renten leben.«
Doch jetzt wurde von der Treppe her, deren Tür sie offen gelassen hatten, eine Stimme vernehmbar. Frau Maheu rief:[27]
»Nehmt alles Brot; ich habe noch einen Rest Nudeln für die Kinder übrig.«
»Ja, ja«, antwortete Katharina.
Sie hatte das Feuer wieder zugedeckt und in einer Ecke des Rostes einen Rest Suppe warm gestellt, den der Großvater, der um sechs Uhr kam, vorfinden sollte. Jeder holte unter dem Eßschrank seine Holzschuhe hervor, hängte die Feldflasche um und schob die Butterschnitte rückwärts zwischen Hemd und Jacke. Dann brachen sie auf, die Männer voraus, das Mädchen hinterdrein, nachdem es die Kerze ausgelöscht und den Schlüssel umgedreht hatte. Das Haus verfiel wieder in Stille und Dunkelheit.
»Wir gehen zusammen«, sagte ein Mann, der die Tür des Nachbarhauses schloß.
Es war Levaque mit seinem Sohn Bebert, einem Jungen von zwölf Jahren, der mit Johannes eng befreundet war.
Die Lichter im Dorfe erloschen jetzt nacheinander. Eine letzte Tür fiel ins Schloß, dann war alles wieder still; die Frauen und Kinder setzten in den bequemer gewordenen Betten ihren Schlaf fort. Vom Dorfe bis zu dem lärmenden Voreuxschachte bewegte sich ein langsamer Zug von Schatten, es war der Aufbruch der Kohlenarbeiter zum Werke, die ihre Schultern dahinschoben und ihre Arme, mit denen sie nichts anzufangen wußten, über der Brust kreuzten, während der Brotvorrat auf dem Rücken eines jeden einen kleinen Höcker bildete. Bloß mit dünner Leinwand bekleidet, zitterten sie in der Kälte, ohne sich deshalb mehr zu beeilen; in unregelmäßigen Abständen zogen sie mit dem Getrappel einer Herde ihres Weges dahin.
Ausgewählte Ausgaben von
Germinal
|
Buchempfehlung
»Ein ganz vergebliches Mühen würd' es sein, wenn du, o lieber Leser, es unternehmen solltest, zu den Bildern, die einer längst vergangenen Zeit entnommen, die Originale in der neuesten nächsten Umgebung ausspähen zu wollen. Alle Harmlosigkeit, auf die vorzüglich gerechnet, würde über diesem Mühen zugrunde gehen müssen.« E. T. A. Hoffmann im Oktober 1818
88 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro