|
[110] Es schlug elf Uhr im Turm der kleinen Kirche des Arbeiterdorfes der Zweihundertvierzig; diese Kirche war eigentlich eine aus Ziegeln erbaute Kapelle, in welcher der Abbé Joire am Sonntag die Messe las. Aus der Schule nebenan, gleichfalls aus Ziegeln erbaut, hörte man die Stimmen der Kinder, obgleich die Fenster wegen der Kälte geschlossen waren. Die zwischen den vier Blöcken von gleichartigen Häusern sich hinziehenden breiten Straßen, eingekeilt in kleine, aneinanderstoßende Gärten, lagen verödet; und diese vom Winter verheerten Gärten breiteten sich in der Trübseligkeit ihres Mergelbodens aus, in dem die letzten Gemüse wie schmutzige Höcker staken. Die Schornsteine rauchten, in den Häusern wurde die Mittagsuppe gekocht; da und dort sah man ein Weib auftauchen, dann eine Tür öffnen und verschwinden. Vor allen Häusern, von einem Ende der Straße bis zum andern, tröpfelte es aus den Abzugsröhren in die davorstehenden Bottiche; es regnete zwar nicht, aber der graue Himmel hing voll feuchten[110] Nebels. Dies Dorf, mitten in die weite Hochebene hineingebaut, von schwarzen Straßen wie von einem Trauerrand eingesäumt, zeigte keine hellen Punkte wie seine roten Ziegeldächer, die von Platzregen unaufhörlich blank gewaschen wurden.
Als Frau Maheu heimkehrte, machte sie einen Umweg, um Kartoffeln bei dem Weibe eines Aufsehers zu kaufen, die noch von der Ernte her einen Vorrat übrig hatte. Hinter einer Reihe krüppelhafter Pappeln stand eine Gruppe vereinzelter Gebäude, Häuser zu vier und vier, von Gärten umgeben. Es war dies ein neuer Versuch, den die Gesellschaft machte, um ihren Aufsehern eine Vergünstigung zuzuwenden; dieser Teil der Ansiedlung wurde deshalb von den Arbeitern »Das Dorf der Seidenstrümpfe« genannt, während sie in gemütlicher Verhöhnung ihres Elends das eigene »Dorf der Schuldenzahler« nannten.
»Uff! Endlich sind wir da«, sagte die mit Bündeln beladene Frau Maheu, als sie die mit Schmutz bedeckten, todmüden Kinder Leonore und Heinrich ins Haus schob.
Vor dem Feuer saß Alzire und wiegte die unaufhörlich schreiende Estelle in den Armen.
»Gib sie her«, sagte die Mutter, als sie ihr Bündel abgelegt hatte. »Wir können sonst bei dem Geschrei kein Wort reden.«
Alzire war zuverlässig. Es war alles in Ordnung; die kleine Hauswirtin hatte das Feuer unterhalten, die Wohnstube ausgekehrt und aufgeräumt. Durch die Stille hörte man oben den Großvater schnarchen; es war dasselbe gleichmäßige Schnarchen, das nicht einen Augenblick aufgehört hatte.
»Sind das feine Sachen!« sagte Alzire, indem sie die mitgebrachten Vorräte lächelnd musterte. »Wenn du willst, Mutter, mache ich die Suppe.«
Der Tisch war bedeckt; ein Bündel Kleider, zwei Brote, Kartoffeln, Butter, Kaffee, Zichorie und ein halbes Pfund Fleischkäse.[111]
»Oh, die Suppe!« sagte die Maheu mit müder Miene; »da müßte man erst Sauerampfer und Lauch pflücken ... Nein, ich werde nachher für die Mannsleute Suppe kochen ... Setze Kartoffeln ans Feuer; wir essen sie mit ein wenig Butter ... Und Kaffee: vergiß den Kaffee nicht!«
Doch plötzlich erinnerte sie sich des Kuchens. Sie schaute auf die leeren Hände Leonores und Heinrichs, die schon wieder wohlgemut waren und sich am Boden wälzten und prügelten. Die naschhaften Rangen hatten unterwegs heimlich den Kuchen gegessen! Die Mutter ohrfeigte sie, während Alzire, die den Kochtopf ans Feuer setzte, die Mutter zu beruhigen suchte.
»Laß sie, Mama. Wenn es meinethalben ist, so weißt du ja, daß ich Kuchen nicht mag. Sie haben Hunger bekommen, weil sie so weit gegangen sind.«
Draußen wurde die Mittagsglocke geläutet; man hörte das Geklapper der Überschuhe heimkehrender Schulkinder. Die Kartoffeln waren gar; der Kaffee, dunkel von Zichorie, floß in großen Tropfen laut plätschernd durch den Filter. Eine Ecke des Tisches war abgeräumt; doch aß die Mutter allein da, die Kinder nahmen ihre Teller auf die Knie; der kleine Junge in seiner stummen Gefräßigkeit schaute sich – ohne etwas zu sagen – immerfort nach dem Fleischkäse um, dessen fette Papierhülle ihm die Ruhe raubte.
Frau Maheu trank ihren Kaffee in kleinen Schlucken und legte die Hände an das Glas, um sie zu erwärmen. Da kam der alte Bonnemort herunter. Sonst stand er später auf; man ließ ihm sein Frühstück am Feuer stehen. Heute begann er zu brummen, weil keine Suppe da war. Als seine Schwiegertochter ihm erklärt hatte, man könne nicht immer alles haben, wie man es möchte, aß er still seine Kartoffeln. Von Zeit zu Zeit erhob er sich und spie in die Asche; er tat dies aus Reinlichkeit, um den Estrich zu schonen; dann hockte er wieder auf seinem Sessel und kaute sein Essen mit gesenktem Kopfe und erloschenen Augen.[112]
»Ach, ich vergaß, Mutter,« sagte Alzire, »die Nachbarin war da ...«
Die Mutter unterbrach sie.
»Sie soll mich in Frieden lassen!«
Sie hatte einen dumpfen Groll gegen die Levaque, die gestern über Not gejammert hatte, um ihr nichts leihen zu müssen; und doch hatte sie Geld, wie die Maheu wohl wußte; der Mieter Bouteloup hatte einen halben Monat vorausgezahlt. In dem Arbeiterdorf liehen die Haushaltungen einander nicht gern.
»Da fällt mir ein,« fuhr die Maheu fort, »nimm eine Mühle voll Kaffee und schlag ihn in Papier ... Ich muß ihn der Frau Pierron bringen, der ich ihn seit vorgestern schuldig bin.«
Als ihre Tochter das Päckchen fertig hatte, sagte die Maheu, sie werde sogleich zurückkehren, um die Suppe für die Mannsleute ans Feuer zu setzen. Dann ging sie fort mit Estelle auf dem Arm. Der alte Bonnemort blieb zurück und aß langsam seine Kartoffeln, während Leonore und Heinrich sich um die zu Boden gefallenen Kartoffelschalen prügelten.
Anstatt den Weg über die Straße zu nehmen, schritt Frau Maheu quer durch die Gärten, aus Furcht, die Levaque könne sie rufen. Ihr Garten stieß an den der Familie Pierron, und in dem verfallenen Zaun, der sie trennte, war ein Loch, durch das die Nachbarn miteinander verkehrten. Da war auch der gemeinsame Brunnen, der vier Familien diente. Nebenan lag hinter einem verkümmerten Fliederstrauch die Scheuer, wo man die alten Geräte aufbewahrte und dann und wann ein Kaninchen züchtete, um an einem Feiertag einen Braten zu haben. Es war ein Uhr, die Kaffeestunde; keine Seele zeigte sich an den Türen und Fenstern. Bloß ein Arbeiter grub, ohne aufzublicken, in seinem Gärtchen, um die Zeit zu nützen, bis seine Stunde kam, zur Zeche zu gehen. Als die Maheu auf die Straße kam, sah sie zu ihrer Überraschung vor der Kirche einen Herrn und[113] zwei Damen. Sie blieb einen Augenblick stehen und erkannte die Fremden: es war Frau Hennebeau mit ihren Gästen, dem dekorierten Herrn und der Dame im Pelzmantel. Sie zeigte ihnen das Arbeiterdorf.
»Ach, wozu die Mühe? Es hatte keine Eile!« rief Frau Pierron, als Frau Maheu ihr den Kaffee zurückerstattete.
Sie war achtundzwanzig Jahre alt und galt für die Schöne im Dorf. Sie hatte eine braune Gesichtsfarbe, große Augen, einen kleinen Mund: sie war überdies kokett und reinlich wie eine Katze. Ihre Mutter, die Brulé, Witwe eines Grubenarbeiters, der in der Mine seinen Tod gefunden, hatte aus ihrer Tochter eine Fabrikarbeiterin gemacht und geschworen, daß sie niemals einen Grubenarbeiter heiraten solle. Sie kam denn auch aus dem Zorn nicht mehr heraus, seitdem ihre Tochter schon als reifes Mädchen sich mit Pierron verheiratet hatte, einem Witwer, der eine achtjährige Tochter hatte. Das Ehepaar lebte indes sehr zufrieden, unbekümmert um den Klatsch, der in Umlauf war über die Gefälligkeit des Gatten und die Liebhaber der Frau. Sie hatten keine Schulden, aßen zweimal wöchentlich Fleisch, und ihr Haus war so sauber gehalten, daß man sich in den Schüsseln hätte spiegeln können. Um ihr Glück zu vervollständigen, hatte sie dank ihren Beschützern von der Gesellschaft die Erlaubnis erhalten, Bonbons und Zwieback zu verkaufen; auf zwei Brettern hinter den Scheiben ihres Fensters waren diese Süßigkeiten in gläsernen Behältern zur Schau gestellt. Sie verdiente dabei sechs bis sieben Sous täglich, an manchem Sonntag sogar zwölf. Diese glückliche Häuslichkeit wurde nur durch das Geschrei der Brulé gestört, die in ihrer Wut immer den Tod ihres Mannes an den Herren rächen wollte; der zweite Störenfried war die kleine Lydia, die als Sündenbock der ganzen Familie sehr viele Maulschellen einzustecken hatte.
»Wie groß Estelle schon ist!« sagte Frau Pierron und spielte mit dem Kinde.[114]
»Laß es gut sein, die macht Mühe genug«, erwiderte die Maheu. »Du kannst froh sein, daß du keines hast. Da kann man wenigstens sein Haus sauber halten.«
Obgleich auch bei ihr alles in Ordnung gehalten wurde und sie jeden Sonnabend wusch und scheuerte, betrachtete sie doch mit den Blicken einer neidischen Hausfrau diese helle Stube, wo es sogar einigen Zierat gab, vergoldete Vasen auf dem Eßschrank, einen Spiegel und drei eingerahmte Kupferstiche.
Die Pierron trank eben ihren Kaffee allein; alle ihre Leute waren in der Grube.
»Trink ein Täßchen mit mir«, sagte sie.
»Nein, danke, ich habe soeben Kaffee getrunken.«
»Was tut das?«
Freilich, das tat nichts. Beide tranken nun langsam ihren Kaffee. Zwischen den Zwieback- und Bonbongläsern hindurch waren ihre Blicke auf den gegenüberstehenden Häusern haftengeblieben, wo sich Fenster an Fenster reihten mit ihren Vorhängen, deren Reinlichkeit ein Gradmesser für die häusliche Tugend der Frauen war. Die Vorhänge der Levaque waren sehr schmutzig, wahre Wischlappen, die aussahen, als habe man die Kochtöpfe damit gereinigt.
»Ist es möglich, in solchem Dreck zu leben?« murmelte Frau Pierron.
Da legte Frau Maheu unaufhaltsam los. Ach, wenn sie einen Mieter hätte wie diesen Bouteloup, wie ganz anders sollte es in ihrem Hauswesen zugehen. Ein Mieter sei eine sehr gute Hilfe, wenn man sie zu nützen verstehe. Allerdings dürfte man sich nicht mit ihm einlassen. Und der Mann! Der saufe, prügele sein Weib und laufe Bänkelsängerinnen von Montsou nach.
Die Pierron verzog angewidert den Mund. Von diesen Bänkelsängerinnen kämen alle Krankheiten, meinte sie.
»Mich wundert,« fügte sie hinzu, »daß du deinen Sohn mit ihrer Tochter gehen läßt.«
»Ach ja, wer kann das verhindern! ... Ihr Garten stößt an den unseren. Im Sommer steckte Zacharias[115] immer bei Philomene hinter den Fliedersträuchen, und man konnte nicht zum Brunnen gehen, ohne sie zu überraschen.«
Es war die gewöhnliche Geschichte des engen Zusammenlebens der Geschlechter im Dorf. Es hatte nichts weiter zu bedeuten; man wurde später Mann und Frau; nur die Mütter waren wütend, wenn die Burschen zu früh anfingen; denn ein Bursche, der heiratete, brachte der Familie nichts mehr ein.
»An deiner Stelle würde ich lieber ein Ende machen«, sagte Frau Pierron in vernünftigem Tone. »Dein Zacharias hat nun schon zwei Kinder; sie werden ihrer Wege gehen und ein Paar werden. Das Geld ist einmal weg.«
Die Maheu streckte wütend die Hände aus.
»Höre: ich verfluche sie, wenn sie heiraten ... Ist Zacharias uns nicht Respekt schuldig? Er hat uns Geld gekostet, nicht wahr? Er soll es uns wiedergeben, ehe er sich ein Weib auf den Hals lädt. Was würde aus uns werden, wenn unsere Kinder für andere arbeiteten? Da möchte man doch lieber gleich verrecken!«
Doch sie beruhigte sich wieder.
»Ich spreche im allgemeinen«, sagte sie. »Wir werden ja später sehen ... Dein Kaffee ist recht stark; du bereitest ihn gut.«
Nachdem sie noch eine Viertelstunde von allen möglichen Dingen geplaudert hatten, eilte die Maheu fort; die Suppe für ihre Mannsleute sei noch nicht fertig. Auf der Straße sah man die Kinder wieder zur Schule gehen; einige Weiber zeigten sich an den Türen und betrachteten Frau Hennebeau, welche die Front eines Hauses abschreitend ihren Gästen die Einrichtungen des Arbeiterdorfes erklärte. Dieser Besuch erregte nachgerade Aufsehen. Der einsame Mann in seinem Garten unterbrach seine Arbeit; zwei Hühner liefen erschreckt auseinander.
Als die Maheu heimkehrte, stieß sie auf die Levaque, die auf die Straße gekommen war, um den Arzt Dr. Vanderhaghen abzufassen, einen kleinen, allzeit geschäftigen[116] Mann, der durch die Straßen rennend seine ärztlichen Ratschläge erteilte.
»Herr Doktor,« sagte sie, »ich kann nicht schlafen; mir tut alles weh ... Wir sollten doch mal darüber reden.«
Der Arzt, der alle Bewohner des Dorfes duzte, antwortete ihr, ohne stehenzubleiben:
»Laß mich in Frieden! Du trinkst zuviel Kaffee.«
»Und mein Mann erst, Herr Doktor!« sagte jetzt die Maheu. »Sie sollten ihn einmal besuchen. Er hat noch immer Schmerzen in den Beinen.«
»Er ist schwach, laß mich in Frieden!«
Die zwei Weiber standen verblüfft da und schauten dem davoneilenden Arzte nach.
»Komm herein«, sagte die Levaque, nachdem sie mit ihrer Nachbarin ein trostloses Achselzucken ausgetauscht hatte. »Du weißt wohl, daß es etwas Neues gibt ... Auch einen Schluck Kaffee trinkst du; er ist ganz frisch.«
Die Maheu wehrte ab, aber sie konnte nicht widerstehen. Gut, einen Tropfen, um die Nachbarin nicht zu kränken. Und sie trat ein.
Die Stube war greulich schmutzig, die Wände voller Fettflecke, Tisch und Eßschrank starrten von Unsauberkeit; der Geruch dieser vernachlässigten Haushaltung bereitete jedem Eintretenden Übelkeit. Neben dem Feuer saß Bouteloup, noch jung aussehend für seine fünfunddreißig Jahre, beide Ellbogen auf dem Tische, die Nase in seinem Teller, und verzehrte einen Rest Rindfleisch mit der Behäbigkeit eines wohlgenährten, ruhigen Jungen. Neben ihm stand der kleine Achilles, Philomenes Erstgeborener, der jetzt ins dritte Jahr ging, und sah mit der stumm flehenden Miene eines hungrigen Tieres dem Essenden zu. Der Mieter, dessen großer, brauner Bart ein feines, weißes Gesicht einrahmte, schob von Zeit zu Zeit dem Kinde ein Stück Fleisch in den Mund.
»Wart', ich werde den Kaffee erst zuckern«, sagte die[117] Levaque, indem sie den Mehlzucker in die Kaffeekanne tat.
Sie war um sechs Jahre älter als er, abscheulich, welk, mit einem platten Gesicht und ergrauenden, stets ungekämmten Haaren.
»Ich wollte dir nur sagen,« fuhr sie fort, »daß man gestern abend Frau Pierron im Dorf der ›Seidenstrümpfler‹ sich herumtreiben sah. Ein gewisser Herr erwartete sie hinter Rasseneurs Herberge; dann sind sie zusammen längs des Kanals fortgegangen ... Das ist hübsch von einer verheirateten Frau, wie?«
Bouteloup lachte und warf ein Stück in Soße getunktes Brot Achilles in den Mund.
Die zwei Frauen ließen sich dann noch weiter über Frau Pierron aus, über diese Kokette, die nicht schöner sei als jede andere, aber den ganzen Tag damit zubringe, die Farbe ihrer Haut zu mustern, sich zu waschen und mit Pomade zu bestreichen.
So ging es fort, bis sie schließlich durch die Ankunft einer Nachbarin unterbrochen wurden, die ein neunmonatiges Kind brachte, Desirée, Philomenes Jüngste. Philomene ließ sich zur Frühstücksstunde das Kind nach dem Sichtungswerke bringen und nährte es dort, auf einem Kohlenhaufen sitzend.
»Die meinige darf ich nicht einen Augenblick allein lassen, sonst schreit sie gleich«, sagte die Maheu mit einem Blick auf Estelle, die in ihren Armen eingeschlafen war.
Doch es sollte ihr nicht gelingen, der verfänglichen Frage zu entgehen, die sie seit einer Weile in den Augen der Levaque las.
»Hör' einmal: wir sollten doch ein Ende machen«, begann die Levaque.
Die zwei Mütter waren anfänglich stillschweigend übereingekommen, die Heirat nicht zustande kommen zu lassen. Zacharias' Mutter wollte solange wie möglich den Lohn ihres Sohnes in die Hand bekommen, und auch Frau Levaque wütete bei dem Gedanken, den Erwerb[118] ihrer Tochter zu verlieren. Man hatte keine Eile: Philomenes Mutter hatte sich sogar dazu verstanden, Achilles zu behalten, solange dieser allein da war; doch als der Knabe größer wurde und Brot aß, und als ein zweites hinzukam, fand sie ihr Auskommen nicht mehr und drängte auf Hochzeit, weil sie nicht vom eigenen zulegen wollte.
»Zacharias hat seine Militärpflicht hinter sich, nichts hält ihn mehr zurück. Wann wollen wir Hochzeit machen?« fragte sie weiter.
»Verschieben wir es auf bessere Tage«, antwortete die Maheu verlegen. »Diese Geschichten sind so ärgerlich! Als ob sie nicht hätten warten können, bis sie verheiratet sind. Bei meiner Ehre! Ich würde Katharina erwürgen, wenn ich erführe, daß sie die nämliche Dummheit gemacht hat.«
Die Levaque zuckte mit den Achseln.
»Laß gut sein; sie ist nicht besser als die anderen«, sagte sie.
Bouteloup ging jetzt zum Eßschrank und suchte Brot mit der Ruhe eines Menschen, der zu Hause ist. Auf einer Ecke des Tisches lagen Gemüse, für Levaques Suppe bestimmt; Kartoffeln und Lauch, zur Hälfte geschält, inmitten des langen Tratsches zehnmal zur Hand genommen und wieder weggelegt. Das Weib hatte sich eben von neuem darangemacht, doch legte sie die Arbeit Arbeit gleich wieder hin, um sich ans Fenster zu stellen.
»Was ist denn das? ... Schau, Frau Hennebeau mit Leuten. Jetzt treten sie bei der Pierron ein.«
Wieder fielen sie über die Pierron her. Das ist immer so: wenn die Gesellschaft Besuch im Arbeiterdorfe hat, führt man ihn geradeswegs zu dieser Frau, weil es da sauber ist. Sicherlich erzählt man ihnen nicht die Geschichten mit dem Oberaufseher. Man kann alles leicht rein halten, wenn man Liebhaber hat, die dreitausend Franken verdienen, Wohnung und Heizung haben, die Geschenke ungerechnet. In diesem Tone schimpften sie fort, solange die Fremden im Hause der Pierron waren.[119]
»Jetzt kommen sie heraus«, sagte endlich die Levaque. »Schau, meine Liebe, ich glaube gar, sie gehen zu dir.«
Die Maheu wurde von Angst ergriffen. Wer weiß, ob Alzire den Tisch abgewischt hat? Ihre Suppe war auch noch nicht fertig. Mit einem flüchtigen »Auf Wiedersehen!« eilte sie davon nach ihrer Behausung, ohne rechts oder links zu schauen.
Doch zu Hause war alles sauber und in Ordnung. Als Alzire sah, daß die Mutter nicht kam, hatte sie einen Küchenlappen vorgebunden und sich an die Zubereitung der Suppe gemacht. Sie hatte die letzten Lauchstummel und Sauerampfer im Garten gepflückt und war eben mit der Reinigung der Gemüse beschäftigt, während am Feuer in einem großen Kessel das Wasser für das Bad der Mannsleute warm gehalten wurde. Heinrich und Leonore waren zufällig artig und vertrieben sich die Zeit mit dem Zerreißen eines alten Kalenders. Der Vater Bonnemort rauchte still seine Pfeife.
Die Maheu hatte sich noch nicht recht verschnauft, als Madame Hennebeau an die Tür klopfte.
»Sie erlauben wohl, liebe Frau?«
Sie war groß und blond, etwas schwerfällig in der schönen Reife ihrer vierzig Jahre; sie lächelte mit gezwungener Leutseligkeit und ließ nicht allzu sehr die Furcht durchblicken, ihr Kleid von bronzefarbener Seide zu beschmutzen, über dem sie einen Mantel von schwarzem Samt trug.
»Treten Sie ein, treten Sie ein«, rief sie ihren Gästen zu. »Wir stören niemand ... Da ist's ebenfalls hübsch sauber, nicht wahr? Und diese wackere Frau hat sieben Kinder! So sind alle unsere Familien ... Wie ich Ihnen schon erklärt habe, vermietet ihnen die Gesellschaft das Haus für sechs Franken monatlich. Eine große Wohnstube im Erdgeschoß, zwei Stuben oben, ein Keller, ein Garten.«
Der dekorierte Herr und die Dame im Pelzmantel, die am Morgen mit dem Pariser Zuge gekommen waren, rissen die Augen auf; in ihren Mienen war die Verblüffung[120] über diese ihnen neuen, ungewohnten Dinge zu lesen.
»Ein Garten sogar!« wiederholte die Dame. »Man bekommt ordentlich Lust, da zu leben; es ist ja reizend!«
»Wir geben ihnen Kohle, mehr als sie brennen können«, fuhr Madame Hennebeau fort. »Ein Arzt erscheint wöchentlich zweimal bei ihnen; und wenn sie alt sind, bekommen sie Ruhegehälter, obgleich ihnen von ihrem Lohne nichts in Abzug gebracht wird.«
»Das ist ja eine Idylle! Ein wahres Schlaraffenland!« murmelte der Herr entzückt.
Die Maheu hatte sich beeilt, Stühle anzubieten, doch die Damen lehnten ab. Madame Hennebeau war der Sache schon wieder überdrüssig; es hatte ihr einen Augenblick Vergnügen gemacht, in der Langeweile ihrer Vereinsamung die Führerin zu spielen; doch war sie sogleich angewidert von dem faden Geruch des Elends trotz der Reinlichkeit der Häuschen, in die sie einzutreten wagte. Sie wiederholte übrigens nur einzelne abgerissene Redensarten, die sie selbst gehört hatte, und kümmerte sich sonst gar nicht um das Arbeitervolk, das in ihrer Nähe in schwerer Fron und in Elend dahinlebte.
»Die hübschen Kinder!« murmelte die Dame, die sie in Wirklichkeit abscheulich fand mit ihren dicken Köpfen und ihrem struppigen, strohgelben Haar.
Frau Maheu mußte das Alter der Kinder angeben; aus Höflichkeit befragte man sie auch über Estelle. Vater Bonnemort hatte respektvoll die Pfeife aus dem Munde genommen; nichtsdestoweniger blieb er in Unruhe, wie er dasaß, durch vierzig Jahre Grubenarbeit zugrunde gerichtet, mit steifen Beinen, morschen Gliedern, erdfahlem Gesichte. Als ein heftiger Hustenanfall ihn packte, ging er auf die Gasse speien, weil er dachte, sein schwarzer Auswurf könne die Gesellschaft ekeln.
Alzire fand am meisten Beifall. Welche nette, kleine Hauswirtin mit ihrem Küchenlappen! Man beglückwünschte die Mutter zu diesem für sein zartes Alter so verständigen Mädchen. Niemand sprach von dem[121] Höcker; Mitleid und Unbehagen zugleich drückten sich in den Blicken aus, die sich immer wieder nach dem armen, gebrechlichen Wesen wandten.
»Wenn man Sie«, schloß Madame Hennebeau, »in Paris über unsere Arbeiterkolonien befragt, werden Sie antworten können ... Hier ist es immer so still wie jetzt; es herrschen patriarchalische Sitten; alle sind gesund und zufrieden, wie Sie sehen. Sie sollten öfter hierherkommen, um sich in der guten Luft und der Ruhe zu erholen.«
»Wunderbar, wunderbar!« rief der Herr in einem Ausbruch der Begeisterung.
Sie traten aus dem Hause mit der entzückten Miene, mit der man eine Baracke verläßt, wo man Naturwunder gesehen. Frau Maheu, die ihnen das Geleit gab, blieb auf der Schwelle stehen und blickte ihnen nach, wie sie unter lauten Gesprächen sich langsam entfernten. Die Straßen hatten sich bevölkert; sie mußten Gruppen von Weibern ausweichen, die das von Haus zu Haus getragene Gerücht von dem Besuch auf die Straße gelockt hatte.
Die Levaque hatte vor ihrer Tür die Pierron angehalten, die neugierig herbeigelaufen war. Beide heuchelten Überraschung. Wollten diese Leute etwa bei der Maheu übernachten? Es war doch nicht so angenehm da drinnen!
»Immer ohne Sou bei dem schönen Erwerb, den sie haben. Mein Gott, wenn man Lastern frönt!«
»Ich erfahre soeben, daß sie heute vormittag bei den Spießbürgern in der Piolaine gebettelt hat; und Maigrat, der ihnen kein Brot mehr pumpen wollte, hat ihr doch wieder eines gegeben ... Man weiß ja, wie Maigrat sich bezahlt macht.«
»Still! da kommen die Leute.«
Mit ruhiger Miene, ohne aufdringliche Neugier, betrachteten die Levaque und Pierron die aus dem Hause der Maheu kommenden Fremden. Dann winkten sie die Maheu heran, die noch immer Estelle auf den Armen[122] trug. Alle drei blickten unbeweglich hinterdrein, als die wohlgekleideten Rücken der Madame Hennebeau und ihrer Gäste sich entfernten. Als diese etwa dreißig Schritte fort waren, ging der Klatsch mit erneuter Heftigkeit los.
»Die haben aber für schweres Geld Stoffe am Leibe; ihre Kleider sind vielleicht mehr wert als sie selbst.«
»Gewiß! ... Die andere kenne ich nicht; aber für diese da würde ich nicht vier Sous geben, so dick sie auch ist. Man erzählt sich Geschichten ...«
Die Spaziergänger setzten mit denselben langsamen Schritten und plaudernd ihren Weg fort, als eine Kalesche auf der Straße vor der Kirche stehenblieb. Ein Herr von ungefähr achtundvierzig Jahren mit schwarzem Leibrock stieg aus dem Wagen; er war von tiefbrauner Hautfarbe, sein Gesicht zeigte einen strengen, vornehmen Ausdruck.
»Das ist ihr Mann!« murmelte die Levaque mit gedämpfter Stimme, als ob er es hätte hören können; sie war von jener Furcht der Untergebenen ergriffen, welche der Direktor seinen sechstausend Arbeitern einflößte.
Jetzt war das ganze Dorf auf der Straße. Die Neugierde der Weiber stieg immer höher; die Gruppen näherten sich einander und verdichteten sich zu einer Masse, während auf den Fußwegen ganze Scharen schmutziger Kinder Maulaffen feilhielten. Einen Augenblick sah man den blassen Kopf des Lehrers, der hinter der Hecke des Schulhauses sich auf die Fußspitzen erhob, um besser zu sehen. Der Mann im Garten hielt in der Arbeit inne, stützte den Fuß auf die Schaufel und riß die Augen neugierig auf. Das Geschwätz schwoll allmählich zu einem Geräusch wie von Klappern an; es war wie ein Windstoß, der durch dürres Laub fährt.
Vor der Haustür der Levaque gab es eine besonders große Ansammlung von Leuten. Zwei Frauen waren herangekommen, dann zehn, dann zwanzig.[123]
Die Pierron schwieg jetzt vorsichtig; es waren zu viele Ohren da. Als Herr Hennebeau die Damen auf den Rücksitzen des Wagens hatte Platz nehmen lassen und die Kalesche in der Richtung nach Marchiennes davonfuhr, erfolgte ein letzter Ausbruch von geschwätzten Stimmen; alle Weiber gestikulierten und redeten einander ins Gesicht; es war eine Unruhe wie in einem gestörten Ameisenhaufen.
Doch jetzt schlug es drei Uhr. Die Erdarbeiter waren fort, Bouteloup und die anderen. Plötzlich tauchten an der Krümmung bei der Kirche die ersten Grubenarbeiter auf, die von der Zeche zurückkehrten, mit schwarzem Gesicht, durchnäßter Kleidung, gekreuzten Armen und gebeugtem Rücken. Da stoben die Weiber auseinander; alle liefen erschreckt heim; sie hatten zuviel Kaffee getrunken und geschwätzt und dadurch ihre häuslichen Obliegenheiten vernachlässigt. Man vernahm jetzt von allen Seiten nur den besorgten Ausruf:
»Meine Suppe! Meine Suppe ist noch nicht fertig?«
Ausgewählte Ausgaben von
Germinal
|
Buchempfehlung
Grabbe zeigt Hannibal nicht als großen Helden, der im sinnhaften Verlauf der Geschichte eine höhere Bestimmung erfüllt, sondern als einfachen Menschen, der Gegenstand der Geschehnisse ist und ihnen schließlich zum Opfer fällt. »Der Dichter ist vorzugsweise verpflichtet, den wahren Geist der Geschichte zu enträtseln. Solange er diesen nicht verletzt, kommt es bei ihm auf eine wörtliche historische Treue nicht an.« C.D.G.
68 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro